Spannungsreiche Beziehungskiste

Gewerkschaften und Sozialdemokratie nach zwei Jahren Schröder-Regierung

Sie können nicht auseinander, weil sie einander brauchen. So leben sie schon länger als ein Jahrhundert nebeneinander, was gelegentliches Miteinander nie ausschloss. Doch zwei, die sich so gut kennen wie Gewerkschaften und Sozialdemokratie, können sich auch gehörig auf die Nerven gehen - weil sie sich überfordern und durch gelegentliche Zumutungen die Beziehung belasten. Ob es eine spannungsreiche Dauerbeziehung bleibt oder die völlige Zerrüttung eintritt, das entscheidet sich mit dem Übergang vom sozialdemokratisch geprägten 20. Jahrhundert zu einem 21. Jahrhundert, das sozialdemokratische Problemlösungskompetenz und Kooperation mit den Gewerkschaften nötiger denn je hätte.

In der gemeinsamen Geschichte hat es beiden genutzt, sich nicht als bloßer Lautsprecher oder gar Transmissionsriemen des Anderen zu verstehen und zu verhalten. Der Zusammenschluss politischer Richtungsgewerkschaften der Weimarer Republik zur Einheitsgewerkschaft hat die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften erheblich verbessert. Und der Abschied der SPD vom Anspruch, Klassenpartei zu sein, und ihr Wandel vom Weltanschauungsblock zur offenen Volkspartei hat sich zum Vorteil beider ausgewirkt.

Gewerkschaften verstehen sich als Interessenvertretung aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Als Einheitsgewerkschaften bestehen sie auf parteipolitischer Unabhängigkeit, sind aber in der politischen Auseinandersetzung nicht meinungslos oder neutral. Dabei wollen sich Gewerkschaften nicht in die Rolle einer Nebenregierung drängen. Es geht ihnen nicht um politischen Machterwerb, sondern um das Einwirken auf politische und ökonomische Macht. Mit dieser Zielperspektive sind Gewerkschaften Anwälte für Arbeit und soziale Gerechtigkeit und damit Bestandteil einer gesellschaftlichen Reformbewegung. Auch die SPD versteht sich als Teil einer solchen. Im Wettbewerb mit den anderen demokratischen Parteien muss sie sich bemühen, mehrheitsfähig zu werden bzw. zu bleiben. Das bedingt ständige Versuche, neue Wählerschichten zu erreichen, ohne alte zu verlieren. Bei dieser Ausgangslage ist das Sortieren zwischen Berührungs- und Reibungspunkten im Verhältnis von Sozialdemokratie und Gewerkschaften wohl immer abhängig vom konkreten nächsten Testfall.

Der einjährige Geburtstag des Regierungswechsels war noch nicht einmal erreicht, da war die Freude, mit einem sozialdemokratischen Kanzler ein neues Jahrtausend beginnen zu können, bereits Ernüchterung gewichen. Die Hypotheken sechzehnjähriger Kohl-Regierung sind offenbar nicht nur nach gewerkschaftlichen Wunschkatalogen abzuarbeiten. Und allzu schnell wurde unterstellt, Sozialdemokraten an der Regierung seien auch an der Macht. Dennoch lassen es sich die Gewerkschaften gerne zurechnen, für eine sozialdemokratisch geführte Regierung eine Geburtshelferfunktion gehabt zu haben.

Eine alte Elternerfahrung hat sich allerdings bestätigt: Ein Baby strampelt erst einmal kräftig und ziellos, bevor es richtig gehen lernt, aber leider hin und wieder auch einknickt. Mit der rot-grünen Regierungskoalition ist das genauso. Bei aller Freude über das junge Leben hat dessen anfänglich doch noch sehr unkoordiniertes Strampeln und das damit verbundene laute Geschrei verstört. Schon die ersten Gehversuche hätte man sich entschlossener gewünscht. Sicher, da wird auch aus der Gewerkschaftsperspektive anerkennend eingeräumt, die Wahlversprechen seien gehalten worden. Selbstverständlich ist so etwas ja keineswegs. Wichtige Korrekturen an arbeitnehmerfeindlichen Gesetzen der Kohl-Regierung sind unter Dach und Fach.

Der politische Gebrauchswert dieser Regierung ist für Gewerkschafter also enorm. Einen politischen Tauschwert, gemessen am Wählerrückhalt, hat das trotzdem kaum gehabt. Dies scheint sich erst nach dem politischen und moralischen Niedergang der Union langsam zu ändern, wenn man der Momentbetrachtung trauen darf. Auf der Habenseite steht: Kranke dürfen jetzt nicht mehr mit Lohnabzug bestraft werden. Der Kündigungsschutz gilt auch wieder in kleineren Betrieben. Es gibt den Einstieg in die ökologische Steuerreform und Steuerentlastungen, nicht nur für die Leute mit den dicken Brieftaschen. Natürlich wissen die Gewerkschaften es zu schätzen, dass seit Dezember 1998 endlich konkret ausgelotet werden kann, welche Beiträge für mehr Beschäftigung und soziale Gerechtigkeit im Rahmen eines Bündnisses für Arbeit geleistet werden können. Jetzt käme es darauf an, die Handlungschancen der Politik auch mit einem erkennbaren sozialdemokratischen Profil zu nutzen, statt nur moderieren zu wollen.

Dass nach den vielen Jahren der Waigel-Herumpfuscherei das Finanzgerüst des Staates grundsaniert werden musste, ist unter den Gewerkschaften relativ unstrittig. Verärgert hat mehr das "Wie" als das "Ob". Die Gleichzeitigkeit von Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung mit Zugeständnissen bei Steuerentlastungen für Unternehmen und Sparaktionen bei Rentnern und Arbeitslosen passt nicht ins Bild. Gleichzeitig ist nicht zu übersehen, dass sich die Arbeitgeber im Bündnis für Arbeit unverhältnismäßig mehr für weitere ökonomische Vergünstigungen als für konkrete beschäftigungspolitische Verabredungen interessieren. Diese Abzock-Mentalität zu rügen, wäre nicht nur ein Auftrag an die Gewerkschaften, sondern sollte auch den Sozialdemokraten zum Anliegen werden. Gemeinsame historische Wurzeln hin, gemeinsame Zukunftshoffnungen her: Trotz guter Einstiegsleistungen, der Vertrauensvorschuss der Gewerkschaften für die endlich wieder SPD-geführte Regierung ist nicht grenzenlos belastbar.

Eine Serie von Wahlniederlagen bewies 1999 den handelnden Akteuren der SPD, wie ernst sie die verbreitete Enttäuschung in den Gewerkschaften und unter ihren Stammwählern nehmen muss. Begünstigt vom Niedergang der Union und beflügelt vom Erfolg Schröderscher Konsenspolitik beim Atomausstieg und bei der Steuerreform, scheint inzwischen wirklich verstanden worden zu sein, dass die Ursache der Niederlagen bei Landtags- und Kommunalwahlen nicht nur ein gigantisches Kommunikationsproblem ist. Nach wie vor gilt es, den Verdacht endgültig auszuräumen, es könnte beim Politikwechsel vielleicht gar nicht gewollt sein, was im Regierungsprogramm und in der Koalitionsvereinbarung angezeigt ist.

Der klare Auftrag der Wähler, den Politikwechsel zu vollziehen und Beschäftigung und soziale Gerechtigkeit in das Zentrum der Politik zu rücken, begleitet die SPD in die zweite Hälfte der Legislaturperiode. Es liegt nicht an den Gewerkschaften, wenn die Chancen für eine soziale und ökologische Modernisierung der Gesellschaft ungenutzt bleiben oder im Sande verlaufen. Das Ziel der sozialdemokratischen Regierungspolitik, Modernisierung im Spannungsbogen von sozialer Gerechtigkeit und Innovation zu forcieren, verlangt danach, die eigene Reformkraft unter gewandelten Rahmenbedingungen zu stärken. Deutlich davon unterscheidbar wären dagegen Modernisierungsstrategien, die nur so heißen, im materiellen Kern aber nicht mehr bedeuten als soziale Tünche für einen Kapitalismus nach amerikanischem Leitbild.

Mit dem neuen Jahrhundert stehen Gewerkschaften und Sozialdemokratie am Scheideweg. Können sie das soziale Fundament der Demokratie erneuern und als historisches Erbe der Arbeiterbewegung und gestaltende Kraft des vergangenen Jahrhunderts den Einstieg in das neue Jahrhundert bestimmen? Im Bündnis mit den Medien, aber im Konflikt mit den Gewerkschaften schafft das kein sozialdemokratischer Kanzler, weil auf diese Weise ein tragfähiger Konsens mit Wählermehrheiten wohl nicht zu erzielen ist. Die gelockerte Bindekraft der SPD zu ihren einstigen Stammwählern aus der Arbeitnehmerschaft lässt sich durch Zugewinne bei anderen Wählergruppen nicht kompensieren.

Wenn es je genügt hat, das Bündnis mit den Gewerkschaften allein auf Telefonkontakte der Parteispitzen mit den Gewerkschaftsvorsitzenden zu gründen, genügt es heute nicht mehr. Wer mit den Gewerkschaften in Kontakt bleiben will, darf Arbeitnehmeranliegen nicht nur rhetorisch aufgreifen, sondern muss bei der praktischen Abarbeitung von Problemen mitzuwirken wissen. Die nächsten Testfälle stehen schon an: Da ist die Rentenreform, die sich diesen Namen erst noch verdienen muss. Das Betriebsverfassungsgesetz soll endlich auf gewandelte Erfordernisse der Arbeitswelt bezogen werden. Das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz läuft aus und sollte in dieser Form beerdigt werden. Und schließlich: Steht nicht auch noch die Aufgabe an, die Kohl-Kampfansage an die Streikfreiheit der Gewerkschaften (AfG § 116) aus der Welt zu nehmen? Spannende Zeiten für eine Vitalisierung der Beziehungskiste Gewerkschaften/Sozialdemokraten.

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