Sozialer Dienst für freie Bürger

Der neuen militärischen Herausforderung des Terrorismus kann man langfristig nur mit einer Armee von Freiwilligen begegnen. Die Wehrpflicht hat ausgedient. An ihre Stelle muss ein Allgemeiner Sozialer Dienst treten

Die Welt hat sich verändert. Neue, in ihrer Komplexität und Intensität beispiellose Herausforderungen in allen Bereichen des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens erfordern mutige Antworten. Die Überwindung der jahrzehntelangen Spaltung des europäischen Kontinents in der Mitte unseres Landes bedeutete mitnichten das Ende der Geschichte. Vielmehr sehen wir uns heute mehr denn je rapiden globalen Entwicklungen gegenüber, die uns allen Tag für Tag die Notwendigkeit tiefgreifender struktureller Erneuerung vor Augen führen - auf nationaler wie internationaler Ebene.


Probleme müssen gelöst werden. Doch kann dies in Zeiten wie diesen keineswegs unter Rückgriff auf vorgestanzte Antwortschablonen längst vergangener Jahrzehnte geschehen. Denn die sicherheitspolitische Lage hat sich weltweit verändert. Die grausame Totalität des globalisierten Terrorismus bedroht die fundamentalen Werte menschlichen Zusammenlebens weltweit. Er greift uns alle an, er will uns das Wertvollste nehmen. Unsere Freiheit. New York, Djerba und Istanbul sind zu Synonymen für Trauer und Verzweiflung geworden; zur tausendfachen Mahnung, fanatischen Hass und Gewalt nicht schicksalsergeben hinzunehmen. Wir müssen uns den Herausforderungen stellen oder sie stellen uns.


Nicht zuletzt deswegen führt langfristig kein Weg an einer grundlegenden Reform der Sicherheitsstrukturen in Deutschland und Europa vorbei. Die europäische Integration darf gerade an dieser Stelle nicht vor nationalen Eitelkeiten zurückweichen, wollen wir uns auch zukünftig noch stärker zu unserer internationalen Verantwortung bekennen und den vielfältigen Bedrohungen für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte im Einklang mit den völkerrechtlichen Normen der Vereinten Nationen mutig und entschlossen entgegentreten.

Krisen rund um den Globus

Mittelfristig kann dies jedoch nur im Zuge einer schrittweisen Eingliederung der bisher im nationalstaatlichen Rahmen geführten Armeen der EU-Staaten in eine gemeinsame europäische Sicherheitsstruktur geleistet werden: der vitalen Bedeutung der transatlantischen Partnerschaft stets bewusst, frei von Abhängigkeiten und auf gleicher Augenhöhe. Zentrales Element dieses neuen, zukunftsfähigen Rahmens kann nur eine gemeinsame europäische Berufs- und Freiwilligenarmee sein, die durch zielgerichtete Ausbildungsstandards den rapide gewachsenen Anforderungen professionell gerecht wird. Denn der dramatische Wandel im internationalen System verändert das Anforderungsprofil moderner Armeen fundamental. Die Zahl der Auslandseinsätze steigt. Das Lokale wird global, Krisen rund um den Globus verlangen schnelle, flexible Reaktionen, wie sie innerhalb der gegenwärtigen Strukturen dauerhaft nicht geleistet werden können.


Doch solch eine Modernisierung würde nicht nur die Zukunftsfähigkeit der europäischen Sicherheitsstrukturen gewährleisten. Sie würde auch bessere Leistung bei geringeren Kosten bedeuten - durch die (im Zuge der europäischen Zusammenlegung mögliche) Rückführung der Gesamtzahl der Soldaten in der EU sowie der Rüstungsausgaben. Das bedeutet: Mehr Europa, mehr Sicherheit, mehr Effizienz.


Das Ziel der strukturellen Anpassungen an grundlegend veränderte Anforderungen muss also sein, so bald wie möglich ganz auf die Wehrpflicht verzichten zu können. Gewiss wird dies nicht über Nacht geschehen. Die Erfahrungen anderer europäischer Länder lehren uns, dass einem Systemwechsel bei der Wehrverfassung ausreichende Übergangszeiten eingeräumt werden müssen, damit Stabilität und Kontinuität im Wandel gewährleistet sind.

Alle helfen, alle profitieren

Doch bietet uns gerade diese Zeit des Übergangs die einmalige Chance, im breiten gesellschaftlichen Diskurs die politischen Grundlagen für einen neuen Geist staatsbürgerlichen Engagements zu legen, der dem Selbstverständnis einer reifen Demokratie im 21. Jahrhundert gerecht zu werden vermag und uns dauerhaft in die Lage versetzt, die notwendigen Anpassungsleistungen an sich kontinuierlich verändernde globale Rahmenbedingungen gemeinschaftlich zu bewerkstelligen.


Gelingen kann dies nur durch eine Ablösung der längst überkommenen und in ihrer praktischen Handhabung als ungerecht empfundenen Wehrpflicht durch einen neuen Allgemeinen Sozialen Dienst. Alle helfen, alle profitieren.


Ein solcher Schritt würde zum einen eine breite Schneise durch den - selbst von den Mitarbeitern der Kreiswehrersatzämter kaum noch nachzuvollziehenden - bürokratischen Dschungel bei der Anerkennung der Wehrdienstverweigerung schlagen: Die Wehrpflicht wird kurzerhand abgeschafft, die Jugendlichen entscheiden eigenständig zwischen sozialem Engagement und Wehrdienst. Eine freie Entscheidung freier Bürger.


Zum zweiten könnte die zukünftige Einführung eines Allgemeinen Sozialen Dienstes einen wertvollen Beitrag zur Schaffung einer neuen Kultur des Miteinanders zwischen Bürgern, Staat und Zivilgesellschaft leisten - weg von der weit verbreiteten Mentalität des Trittbrettfahrers, hin zu einem Gefühl der gegenseitigen Verantwortung für sich und für das Ganze.


Von entscheidender Bedeutung wäre in diesem Kontext jene eigenverantwortliche Entscheidungsmöglichkeit der jungen Bürgerinnen und Bürger, die keineswegs nur auf den gleichberechtigten Baustein Wehrdienst und den bislang anerkannten sozialen Diensten, beispielsweise in der Altenpflege oder der Behindertenbetreuung, beschränkt bliebe. Vielmehr könnte auf diesem Weg den vielfältigen Neigungen und Interessen der Jugendlichen auch im Hinblick auf ihre spätere berufliche Laufbahn in erheblich besserem Maße als bisher Rechnung getragen werden. Denn auch Tätigkeiten in Zivilgesellschaft und Kultur - etwa in Museen, Vereinen und Stiftungen, Jugendzentren, Selbsthilfegruppen, Gedenkstätten oder Sportvereinen - kämen in Betracht. Ein flexibles Modell für eine offene Gesellschaft.

Heute lebt die Jugend in Europa

Offen auch angesichts der Tatsache, dass in Zeiten einer notwendigerweise immer tieferen europäischen Integration ein solcher Dienst nicht an der Grenze des Nationalstaats enden kann. Heute lebt die Jugend in Europa. Durch die Intensivierung und den Ausbau bestehender Austauschprogramme können wir das europäische Zusammengehörigkeitsgefühl auch auf der Ebene der Zivilgesellschaften vertiefen und das Zusammenwachsen unseres Kontinents in Frieden und Wohlstand entscheidend beschleunigen.


Auf diese Weise könnte die Politik nicht nur jungen Erwachsenen fundamentale Werte eigenverantwortlichen, selbstbestimmten Handelns für die Gemeinschaft verdeutlichen, in der sie leben. Vielmehr gelänge es ihr darüber hinaus, langfristige und über die eigentliche Dienstzeit hinausgehende Bindungen zu erzeugen, die besonders Jugendlichen aus sozialen Randgruppen individuell die Teilhabe an sozialen Netzwerken ermöglichen, welche das kollektive Zusammengehörigkeitsgefühl einer demokratischen Bürgergesellschaft schaffen können. Denn die langjährige Erfahrungen mit Zivildienstleistenden deuten eindeutig darauf hin, dass viele Jugendliche ihre neu gewonnenen sozialen Kompetenzen auch im Anschluss an ihren Dienst weiterhin ehrenamtlich zugunsten ihrer Mitmenschen einsetzen.

Die ewige Bedenkenträgerei ist überholt

Der Wechsel von der heutigen Praxis hin zu einem Allgemeinen Sozialen Dienst ist jedoch nicht allein eine Frage der persönlichen Präferenz und schon gar nicht beliebige Dispositionsmasse kleinkarierten politischen Geschachers. Vielmehr geht es um eine handfeste Frage der gesellschaftlichen Gerechtigkeit in unserem Land. Erscheinen den betroffenen Jugendlichen bereits die im Musterungsprozess gefällten Entscheidungen vielfach als willkürlich und nicht nachvollziehbar, so wirkt die Ungleichbehandlung der Geschlechter in einem für junge Menschen derart bedeutsamen Lebensbereich heute als Relikt einer im Übrigen längst vergangenen obrigkeitsstaatlichen Epoche. Junge Frauen in Deutschland lehnen die ritualisierten Diskussionen aus den sechziger und siebziger Jahren ab. Die ewigen Bedenkenträgerinnen, die sich anmaßen ohne jede Legitimation immerzu in ihrem Namen zu sprechen, sind längst von der gesellschaftlichen Realität überholt worden. Wenn die heutige Generation sich ihre Rechte gegen den Widerstand ihrer selbst ernannten Vertreterinnen vor Gericht erkämpfen musste, wie im Streit um den Dienst von Frauen an der Waffe, dann zeigt dies nur, dass sie verstanden hat: Gleichheit in den Rechten und den Pflichten! Erst wenn dieser Grundsatz verwirklicht ist, kann tatsächlich von Emanzipation gesprochen werden.


Der Auftrag der Verfassung besteht ohnehin, denn der Artikel 12 des Grundgesetzes spricht völlig unmissverständlich von einer "allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht". Dies entzieht nicht nur geschlechtsspezifischer Ungleichbehandlung jede Berechtigung. Es zeigt zugleich, dass ein solcher Allgemeiner Sozialer Dienst innerhalb unserer Verfassungsordnung nicht nur möglich, sondern geradezu geboten ist.


Zu tun gibt es genug. Nicht zuletzt die Vielfalt der Formen bürgerschaftlichen Engagements in Zeiten veränderter Beteiligungsmöglichkeiten belegen die Notwendigkeit der dauerhaften Mitwirkung einer starken Bürgerschaft am politischen und sozialen Prozess. Die Zivilgesellschaft ist die Schule der Demokratie.

Faire Chancen, gemeinsame Arbeit

Unsere Aufgabe besteht deshalb darin, die erforderlichen politischen Rahmenbedingungen zu schaffen, um alle Jugendlichen ungeachtet ihrer sozialen Herkunft in die demokratische Gemeinschaft zu integrieren, ihnen die notwendigen Fertigkeiten in der Praxis zu vermitteln und ihnen den unveräußerlichen Wert ihrer eigenständigen Persönlichkeit in der gemeinsamen Arbeit für die Gemeinschaft Tag für Tag zu verdeutlichen. Jedem eine faire Chance geben, immer und immer wieder zu fördern und zu fordern - genau das ist sozialdemokratische Politik im 21. Jahrhundert.


Ein Allgemeiner Sozialer Dienst könnte so in einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft die Menschen näher zusammenbringen, indem er genau diejenigen gesellschaftlichen Kräfte nachhaltig stärkt, die sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen und es in ihrer - viel zu häufig unterschätzten - täglichen Arbeit gegen finanziell wie personell bislang erheblich besser ausgestattete Partikularinteressen verteidigen. Die Gemeinschaft geht uns alle an. Deswegen ist es unverzichtbar, dass jeder einzelne im Rahmen seiner Möglichkeiten seinen eigenen Beitrag leistet.

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