Soziale Sicherheit gerecht und nachhaltig finanzieren

Wir stellen das am 2. Juli 2003 veröffentlichte Positionspapier der 38 im Netzwerk Berlin organisierten Bundestagsabgeordneten zur Debatte. Die Autorinnen und Autoren, zugleich Herausgeber der Berliner Republik, sind an der intensiven Diskussion ihrer Vorschläge besonders interessiert.

Durch mehr Steuerfinanzierung und weniger Sozialabgaben wollen wir den Faktor Arbeit entlasten und unsere sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest machen - Vorschläge zu einer langfristigen Strukturreform.

1. DIE AUSGANGSLAGE
Vertrauensverlust, demographische Entwicklung und übermäßige Belastung des Faktors Arbeit gefährden die Sozialversicherungssysteme und die wirtschaftliche Entwicklung

DOPPELKRISE
Soziale Sicherheit für alle Bevölkerungsgruppen und Generationen dauerhaft zu gewährleisten, ist ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit und ein zentrales Anliegen deutscher Sozialdemokratie. Bislang werden die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland ganz überwiegend durch Sozialversicherungsbeiträge finanziert. Diese Finanzierungsform ist aus mehreren Gründen in Frage gestellt.

Die demographische Entwicklung in Deutschland führt dazu, dass zum Beispiel das Verhältnis
zwischen Beitragszahlern einerseits und Rentenbeziehern andererseits immer ungünstiger wird, so dass bei unveränderter Entwicklung die Beitragszahler immer stärker und damit übermäßig in Anspruch genommen werden. Gleichzeitig verbietet sich jedoch eine noch stärkere Belastung des Faktors Arbeit, weil steigende Lohnnebenkosten die wirtschaftliche Entwicklung und Arbeitsplätze gefährden. Zudem werden nicht alle Bevölkerungsgruppen von den Abgaben erfasst, so dass auch eine immer größere Gerechtigkeitslücke entsteht. Schließlich steht insbesondere die jüngere Generation vor der doppelten Herausforderung stärkerer Abgabenlast einerseits und zusätzlicher eigener Vorsorge andererseits.

Vor diesem Hintergrund befindet sich Deutschland in einer doppelten Vertrauenskrise. Viele Bürgerinnen und Bürger haben ihr Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme verloren und sind tief verunsichert. Die Wirtschaft sieht sich mit der Gefahr immer weiter steigender Lohnnebenkosten konfrontiert. Dies führt dazu, dass weniger investiert und konsumiert wird, so dass ein Teil der heutigen Schwäche der Binnenkonjunktur auch hierin begründet liegt.

AM ANFANG DES UMBAUS Grundlegende Strukturreformen im Bereich der sozialen Sicherung sind damit sowohl ein Gebot ökonomischer Vernunft als auch sozialer Verantwortung für heutige und künftige Generationen. Mit der Einführung einer zweiten kapitalgedeckten Säule, der "Riesterrente", wurde in der vergangenen Legislaturperiode mit dem erfolgreichen Umbau der Alterssicherung begonnen. Mit der Agenda 2010 hat die SPD-geführte Bundesregierung weitere richtige Schritte zu einer Umstrukturierung sozialer Sicherheit unternommen - mit dem Ziel, die Grundlagen des Sozialstaates zu erhalten. Wir unterstützen
diesen Weg.


Dies ist die soziale Agenda: Nur ein grundlegender und konsequenter Umbau der Sozialversicherungssysteme führt zu dauerhafter sozialer Sicherheit und Generationengerechtigkeit. Weitere Schritte sind notwendig, um auch über das Jahr 2010 hinaus soziale Sicherheit für alle Generationen zu ermöglichen. Im Kern geht es darum, durch mehr Steuerfinanzierung und weniger Sozialabgaben den Faktor Arbeit zu entlasten und die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest zu machen.

Wir haben dabei bewusst eine langfristige Perspektive im Blick. Verantwortliche Politik muss heute mehr denn je Lösungen anbieten, die über den nächsten Wahltag hinaus wirken. Nur so können wir neues Vertrauen bei den Menschen schaffen und das Land in eine gute und sichere Zukunft führen. Unser Diskussionspapier versteht sich deshalb als Beitrag zu einer notwendigen gesellschaftlichen Diskussion, die ohne vordergründige parteitaktische Interessen geführt und am Gemeinwohl orientiert sein muss. Dabei nimmt für uns Netzwerk-Abgeordnete der Begriff Generationengerechtigkeit eine zentrale Rolle ein. Wir wollen unserer Verantwortung für alle Generationen gerecht werden.

Dieses Papier behandelt schwerpunktmäßig die Frage, wie die sozialen Sicherungssysteme zukünftig finanziert werden sollen und geht weniger auf die Leistungsseite ein. Dabei lassen wir uns von folgenden Grundsätzen leiten: Die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme soll auf eine breitere Basis gestellt werden. Alle Erwerbstätigen und Vermögenden haben einen gerechten Beitrag zu leisten. Dort, wo wir einen Systemwechsel vornehmen wollen, muss dieser berechenbar und sozial gerecht ausgestaltet sein. Insbesondere müssen bei der Alterssicherung bestehende Rentenansprüche berücksichtigt werden. Das Vertrauen in die langfristige Stabilität der sozialen Sicherungssysteme muss dauerhaft wiederhergestellt werden.

DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG In Deutschland kommen auf zwei Erwachsene seit längerem nur noch 1,3 Kinder. Diese Tatsache stellt eine enorme gesellschaftliche Problematik dar. Die Konsequenzen der demografischen Entwicklung sind noch nicht offensichtlich aber programmiert. Noch schrumpft Deutschland nicht, wir haben 82,5 Millionen Einwohner und bleiben in dieser Größenordnung sogar noch eine Weile stabil; knapp die Hälfte der Bevölkerung ist erwerbstätig und erarbeitet den Wohlstand, von dem auch Kinder, Lehrlinge und Studentinnen, Arbeitslose, Kranke und Behinderte, Rentnerinnen, Pensionäre und Pflegebedürftige zehren.

Erst ab 2007 (in den neuen Bundesländern ab 2005) werden zunächst die Schülerzahlen stark zurückgehen. Bei den Studierenden wird der Einbruch 2008 erwartet. Ab 2020 steigt die Zahl der Rentner sprunghaft an, dann gehen die Kinder des Babybooms von Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre in den Ruhestand. Das Verhältnis von Rentnern zu Erwerbstätigen, das heute 1:2,9 beträgt, entwickelt sich über 1:2 im Jahre 2020 auf 1:1,4 2030. Sowohl die Rentner- als auch die Erwerbsgenerationen dieser so fern scheinenden Zukunft sind längst geboren.

Diese gewaltige demographische Veränderung wirkt sich insbesondere auf die Renten-, die Pflege- und die Krankenversicherung aus. Die Versicherungsbeiträge, die den Faktor Arbeit belasten, müssten steil nach oben gehen, weil mehr und mehr ältere Menschen länger alt, krank und pflegebedürftig sein werden. Die steigenden Lohnnebenkosten (zusammen heute 42 Prozent) für die Rentenversicherung (heute 19,5 Prozent), die Krankenversicherung (14,3 Prozent), die Pflegeversicherung (1,7 Prozent) und die Arbeitslosenversicherung (6,5 Prozent) werden so zur immer höheren Hürde für das, was am dringendsten nötig wäre, um den Wohlstand zu erwirtschaften, aus dem die verdoppelten und verdreifachten Leistungsansprüche der Zukunft zu bedienen wären: mehr bezahlte Arbeit.

Deutschland hat eine im europäischen Vergleich außerordentlich schlecht ausgebaute Kinderbetreuungsinfrastruktur, eine niedrige Frauenerwerbsquote, und eine niedrige Geburtenrate.
All diese Tatsachen stehen miteinander im Zusammenhang und tragen dazu bei, dass die Zukunftsfähigkeit des deutschen Sozialsystems substanziell gefährdet ist. Deshalb brauchen wir einen erheblichen Ausbau der Kinderbetreuungsinfrastruktur, den die Bundesregierung und einige Landesregierungen durch ihre Milliardenprogramme jetzt eingeleitet haben. Vergleichszahlen aus EU-Nachbarländern zeigen, dass so die Frauenerwerbstätigkeit deutlich erhöht werden und gleichzeitig die Geburtenrate ansteigen kann.

VERÄNDERUNG DER ARBEITSWELT Unabhängig von der demographischen Entwicklung brauchen wir auch deshalb einen Systemwechsel, weil unser Sozialstaatsmodell noch immer auf den Prinzipien der klassischen industrialisierten Arbeitsgesellschaft basiert, in der garantierte Vollbeschäftigung für den männlichen Teil der Bevölkerung, das Normalarbeitszeitverhältnis sowie die lebenslange, ununterbrochene Erwerbsbiografie im selben Beruf selbstverständlich waren.

Heute sind flexiblere und unsicherere Arbeitsverhältnisse mit Unterbrechungen auch durch Erwerbslosigkeit üblich. Kaum jemand verbringt 40 Jahre im selben Beruf. Der Berufseintritt erfolgt immer später, der Renteneintritt immer früher. In dieser veränderten Arbeitswelt mit ihren zunehmenden Unsicherheiten brauchen wir nicht weniger Sozialstaat, sondern eher mehr, aber er muss intelligenter organisiert sein. Wir müssen Sozialpolitik auch als ein Mittel begreifen, arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitische Wirkungen zu entfalten.

Mit steigender Lebenserwartung steigt das Interesse von Menschen, den Arbeitsprozess später zu verlassen. Für unser Sozialsystem ist es darüber hinaus notwendig, dass die Menschen später in den Ruhestand gehen. Damit sind sie länger Beitragszahler. Außerdem wird sich unser Arbeitskräftebedarf in den nächsten Jahrzehnten verändern und die Einbeziehung von älteren Beschäftigten und deren Know-how erfordern. Wir unterstützen Initiativen, die reale Gesamtlebensarbeitszeit zu verlängern. Die Agenda 2010 geht in diese Richtung, indem sie Unternehmen die Möglichkeit verwehrt, Belegschaften zu verjüngen und dies über das Sozialsystem zu finanzieren.

MEDIZINISCHER FORTSCHRITT Im Bereich der Krankenversicherung ist neben der demografischen Entwicklung, die dazu führt, dass länger gesundheitliche Leistungen in Anspruch genommen werden können, der medizinisch-technische Fortschritt ein wesentlicher Gesichtspunkt. Kontinuierlich werden neue Medikamente und Therapien entwickelt, die zum einen ermöglichen, Krankheiten zu behandeln, die bisher nicht zu behandeln waren, zum anderen Erkrankungen besser zu therapieren, die man bislang nur unzureichend behandeln konnte. Damit treiben die Innovationen die Kosten der Behandlung in die Höhe. Wir werden unter Umständen besser, aber auch kostenintensiver behandelt. Gleichzeitig ist unser Gesundheitssystem von hohen Erwartungshaltungen der Versicherten geprägt. Häufig gehen diese Erwartungen mit einem übergroßen Vertrauen einher, durch bloße Einnahme eines Medikaments komplexe gesundheitliche Probleme, die durch ein Zusammenspiel von Verhalten, Umwelteinflüssen und genetischer Disposition zustande kommen, ohne weitere eigene Anstrengungen lösen zu können.

EUROPÄISCHER VERGLEICH Eine Reihe von EU-Staaten hatte schon in den 90er Jahren begonnen, ihre Sozialsysteme im Hinblick auf die Beschäftigungswirkung erfolgreich zu modernisieren. In Deutschland wurde dagegen die Krise des schon damals veralteten Sozialsystems durch die Finanzierung der Einheit noch zusätzlich verschärft, ohne dass Schritte zu einer wirklichen Reform unternommen wurden. Heute ist Deutschland bei den beschäftigungshemmenden Lohnnebenkosten europaweit in der Spitzengruppe, während wir bei der Steuerbelastung, insbesondere der Mehrwertsteuer, im unteren Bereich liegen.

Unsere Nachbarländer Dänemark und die Niederlande, deren kleine Ökonomien von der Globalisierung in besonders großem Maße abhängig sind, haben ihr soziales Netz zu einer Art "Trampolin" umgebaut, das die Menschen in die Erwerbstätigkeit zurückfedert. Grundsicherungsmodelle, die "Cappuccino"-Rente in den Niederlanden und die konsequente Steuerfinanzierung des dänischen Sozialstaats zeigten erhebliche Erfolge für den Arbeitsmarkt. All dies
lässt sich nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen - und das will auch keiner. Aber es spricht nichts dagegen, sich an einzelnen erfolgreichen Maßnahmen zu orientieren. Die Beispiele aus unseren Nachbarländern zeigen, dass es keinen Grund gibt, die Hände in den Schoß zu legen, Demographie und Globalisierung zu beklagen und an alten Rezepten festzuhalten.

MODELLE DES UMBAUS Der Übergang zur Steuerfinanzierung sozialstaatlicher Leistungen, die Abkehr vom Sozialversicherungsstaat
bismarckscher Prägung ist dabei gar nicht so beispiellos, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Viele Transferleistungen des Sozialstaats in Deutschland sind schon heute rein steuerfinanziert: Erziehungsgeld, Bafög, Sozial- und Arbeitslosenhilfe, Wohngeld und auch die Transferanteile des Kindergeldes. All dies war niemals als "Versicherung" auf der Grundlage eines Bevölkerungsstabilität voraussetzenden "Generationenvertrages" organisiert.

Alternative Vorschläge zur Reform der sozialen Sicherungssysteme folgen oft alt bekannten Mustern. Die Oppositionsparteien im Deutschen Bundestag sprechen von "Richtungsentscheidungen für die Freiheit des Einzelnen und gegen die Bevormundung durch den Staat" (CDU) oder von "mehr Eigenverantwortung statt sozialer Bevormundung" (FDP). Darin sind sich Konservative und Liberale mit den Arbeitgebervertretern einig. Wobei der Terminus "Bevormundung" meist dazu dient, die Verantwortung der Stärkeren für die, die es - aus welchem Grund auch immer - weniger gut haben, abzulehnen.

Elementare Wesensmerkmale der sozialen Sicherungssysteme in unserem Land sind das Leistungsprinzip auf der einen und der solidarische Ausgleich auf der anderen Seite. Die einseitige Festlegung auf das Äquivalenzprinzip und die Zurückdrängung der Elemente des solidarischen Ausgleichs auf ein Minimum, wie es z.B. die Liberalen fordern, würde ernsthaft die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Deutschland gefährden.

Die Forderungen einiger Spitzen der Arbeitnehmervertretungen zielen auf die illusorische Festlegung des Status quo. Eine auf Schulden aufgebaute Besitzstandswahrung ist aber gegenüber den künftigen Generationen nicht länger zu verantworten.

UNSERE ZIELE
Die vier Sozialversicherungssysteme zukunftsfest machen und den Faktor Arbeit entlasten

ALTERSSICHERUNG
Umfragen belegen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr daran glaubt, dass die umlagefinanzierte Rente auch zukünftig noch den Lebensstandard sichern wird. Diese Skepsis ist angesichts der demografischen Entwicklung berechtigt. Es sind grundlegende Reformen in der Alterssicherung notwendig, um die Finanzierungsprobleme zu lösen und verlorenes Vertrauen wiederherzustellen. Um darstellen zu können, in welche Richtung kurzfristig anstehende Reformen gehen müssen, brauchen wir eine Beschreibung unserer langfristigen Zielperspektiven. Wir wollen eine "neue Rente", die wir über schrittweise Umbaumaßnahmen in einem Zeitraum von mindestens einer Generation erreichen werden. Dabei wird Umlagefinanzierung als Basis unseres Rentensystems durch steuerfinanzierte Elemente wie zum Beispiel auch die steuerliche Förderung der kapitalgedeckten Rente (obligatorische "Riesterrente" bzw. betriebliche Vorsorge) und weitere private Vorsorge ergänzt. Um die "neue Rente" sowohl gegenüber der demografischen Entwicklung als auch den Kapitalmarktrisiken unempfindlicher zu machen, wollen wir sie bewusst aus einem Mix dieser Elemente gestalten:

- Die beitragsfinanzierte, paritätische Rentenversicherung, wie wir sie seit Jahrzehnten kennen, bleibt - bei niedrigeren Beitragssätzen - leistungsbezogen.


- Hinzu kommt eine kapitalgedeckte Sicherung. Die riestersche Rentenreform war eine historische Entscheidung, weil sie der kapitalgestützten Vorsorge eine Tür aufgestoßen hat. Dies wollen wir gesetzlich verpflichtend machen. Die Verpflichtung ist notwendig, um den Lebensstandard im Alter zu sichern. Die "Riesterrente" können wir durch die obligatorische Regelung deutlich entbürokratisieren. Bereits erworbene Ansprüche an die umlagefinanzierte Rentenversicherung bleiben erhalten. Der Anteil der kapitalgedeckten Rente wird zu Lasten der umlagefinanzierten Rente in den kommenden Jahrzehnten schrittweise erhöht.


- Darüber hinaus gewinnt an Bedeutung die freiwillige private Altersvorsorge.


- Zudem wird bei uns diskutiert, ob es sinnvoll ist, schrittweise eine steuerfinanzierte allgemeine Grundrente aufzubauen oder, ob es allein bei der bisherigen bedarfsabhängigen Grundsicherung bleiben soll, die ein wesentlicher Schritt zum Abbau der verschämten Altersarmut war. Wir wissen, wie schwierig diese Diskussion ist. Für eine allgemeine steuerfinanzierte Grundrente spricht die Erwartung, auf diese Weise die Belastung der Lohnnebenkosten durch Rentenversicherungsbeiträge begrenzen zu können. Dagegen spricht unter anderem, dass der Bundeshaushalt zu den bisherigen Aufwendungen für die Altersvorsorge (Zuschuss an die gesetzliche Rentenversicherung, Förderung der dann obligatorischen privaten bzw. betrieblichen Altersvorsorge) schon bei einer relativ niedrigen Grundrente zusätzlich durch einen dreistelligen Milliardenbetrag im Jahr belastet würde. Diese Argumente sind sorgfältig abzuwägen, um eine vernünftige Entscheidung an dieser Stelle treffen zu können; deshalb muss die Diskussion geführt werden.

Um die Rente finanzierbar zu halten, werden die Umlagerente und die Kapitalrente zusammen höchstens die Kaufkraft der heutigen Rente erreichen können. Und das auch nur bei guter wirtschaftlicher Entwicklung. Diese Wahrheit muss ausgesprochen werden. Wenn man länger lebt, ohne länger zu arbeiten, muss der Konsum über einen längeren Zeitraum gestreckt werden. Wer also im Alter über zusätzlichen finanziellen Spielraum verfügen will, muss privat vorsorgen. Da von der "neuen Rente" alle profitieren werden, sollen alle an deren Finanzierung beteiligt werden. Das gilt für die beitrags- wie für die kapitalgedeckten Rentenversicherungen, in die Selbständige, Beamte und Politiker mit einbezogen werden sollen. Dadurch können bereits in einem ersten Schritt die Beiträge deutlich gesenkt werden.

KRANKENVERSICHERUNG Die Krankenversicherung soll weiterhin als paritätisch beitragsfinanzierter Pfeiler der sozialen Sicherung erhalten bleiben. Einsparungen sollen vor allem durch mehr Effizienz im System gesucht werden. Hier sind die wirklichen Einsparpotentiale - jenseits einer schlichten Umfinanzierung - zu finden. Um die Reserven zu heben, muss endlich das undurchsichtige "Hinterzimmergeklüngel" zwischen Monopolisten (KVen und Kassenverbänden) einem echten Vertragswettbewerb zwischen einzelnen Krankenkassen und einzelnen Ärzten, Arztgruppen, Krankenhäusern, Pharmaindustrie und anderen Leistungsanbietern weichen. Gesundheitszentren mit sämtlichen Rechtsformen sind bundesweit voll und Krankenhäuser so weit wie möglich am Vertragsgeschehen zur ambulanten Versorgung zu beteiligen. Eine möglichst große Anbieter- und Vertragsvielfalt bietet Patientinnen und Patienten die Chance, optimal passende, innovative und integrative Versorgungsformen zu wählen. Auf Seiten der Krankenkassen sind die historischen Kassenartengliederungen zu überwinden. In einem modernen Kassensystem müssen alle Kassen identische Organisations-, Haftungs- und Fusionsrechte haben. Die Gremien zur konkreten Bestimmung des medizinisch sinnvollen Leistungskataloges müssen unter Interessenvertretung der Versicherten kontinuierlich enge, klare, verbindliche und europarechtssichere Entscheidungen finden. Tun sie dies nicht, müssen exekutive Vorgaben Entscheidungsblockaden der Selbstverwaltung überwinden.

Zur Wiedererlangung des finanziellen Gleichgewichts wird das Wahlsystem aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung aufgegeben. Die solidarische Basis der Krankenversicherung muss erweitert und stabilisiert werden. Alle Menschen sollen in Zukunft verpflichtend gesetzlich krankenversichert sein: Unabhängig von der Art des Einkommens und Berufszugehörigkeit müssen alle an die gesetzliche Krankenversicherung Beiträge entrichten. Einkünfte aus Vermietung und Kapital werden - mit eigener Beitragsbemessungsgrenze und Freibetrag - beitragspflichtig. So wird wieder Leistungsgerechtigkeit garantiert und die Beiträge auf Erwerbsarbeit können schnell und vor allem nachhaltig gesenkt werden. Als verpflichtendes System verbleibt eine allgemeine gesetzliche Krankenversicherung. Eine freiwillige zusätzliche Privatversicherung bleibt davon unbenommen.

PFLEGEVERSICHERUNG Die gesetzliche Pflegeversicherung, die die konservativ-liberale Bundesregierung 1995 als weitere Säule der Sozialversicherung aufgebaut hat, ist ein Paradebeispiel für ein gut gemeintes aber nicht gut gemachtes Werk. Es war erstens falsch, eine neue Versicherung zu schaffen, die unabhängig davon zahlt, ob die Begünstigten für mögliche Pflegekosten selbst aufkommen können oder nicht. Gut Betuchte können ihr eigenes Einkommen und vorhandenes Vermögen schonen - zu Lasten aller Beitragszahler. Es war zweitens falsch, die Pflegekosten über lohnbezogene Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu finanzieren zu einem Zeitpunkt, als jeder wusste, dass wegen der Alterung der Bevölkerung und des Geburtenrückgangs schon die Renten kaum dauerhaft über die Lohnkosten zu finanzieren sein würden. Und drittens: Die Erwartungen, die durch die Pflegeversicherung geweckt wurden, werden nicht erfüllt. Ihre Leistungen liegen deutlich unter den durchschnittlichen Kosten bei stationärer Pflege. Schon jetzt erhalten mehr als ein Drittel der Pflegebedürftigen in stationärer Unterbringung zusätzlich Leistungen der Sozialhilfe. Zudem decken die von der Pflegeversicherung finanzierten Leistungen wesentliche Bedürfnisse von Betroffenen nicht ab.

Die Pflegeversicherung sollte deshalb durch ein bedürftigkeits- und einkommensorientiertes steuerfinanziertes Modell für die Grundsicherung im Pflegefall abgelöst werden. Die gesellschaftlichen Kosten einer alternden Bevölkerung wären gerechter verteilt, der Faktor Arbeit um heute 1,7 Prozentpunkte bei den Sozialversicherungsabgaben entlastet. Und da wegen der zunehmenden Zahl von älteren Menschen absehbar ist, dass die Beiträge zur Pflegeversicherung drastisch steigen müssten, wäre die Entlastung mittel- und langfristig wesentlich höher. Ohne Reformen erwarten Experten für 2040 in der Pflegeversicherung einen Beitragssatz von mehr als fünf Prozent, bis 2050 von über sechs Prozent.

Die Absicherung des Pflegerisikos über das allgemeine Steueraufkommen hingegen würde die Einnahmenseite verbreitern und unabhängiger von Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt machen. Durch die Bedürftigkeitsprüfung wäre sichergestellt, dass Geld- und Sachleistungen zur Pflege nicht nach dem Gießkannenprinzip verteilt würden. Leistungen aus der Pflegeversicherung sollten nicht unabhängig von der eigenen finanziellen Leistungsfähigkeit bezogen werden können. Die Erwartungen an die Pflegeversicherungen müssen auf ein realistisches Maß bezogen werden. Ein einzurichtender Bestandsschutz würde den Lebensstandard des (Ehe-)Partners absichern. Verbunden werden kann die steuerfinanzierte Pflegeversicherung mit einer privaten Vorsorge für Pflegebedürftigkeit.

ARBEITSLOSENVERSICHERUNG Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und Arbeitgeber zahlen jeweils 3,25 Prozent des maßgeblichen Arbeitseinkommens in die Arbeitslosenversicherung. Diese paritätische, an das Arbeitseinkommen gekoppelte Finanzierung soll im Grundsatz weiter bestehen bleiben. Unterzieht man das heutige Leistungsspektrum der Bundesanstalt für Arbeit einer kritischen Analyse, zeigt sich, dass aus dem Beitragsaufkommen Aufgaben erfüllt werden, die nicht zum "Kerngeschäft" zählen, somit versicherungsfremd sind. Sie gehen deutlich über den Charakter des Versicherungsprinzips hinaus, das auf eine enge Verknüpfung zwischen einem Beitrag und einem Leistungsanspruch - Lohnersatz: Arbeitslosengeld - abstellt. Stellt sich nach kritischer Bewertung heraus, dass aus der Versicherung zusätzlich allgemeine Staatsaufgaben gezahlt werden, müssten diese versicherungsfremden Leistungen konsequenterweise durch Steuern finanziert werden. Dies könnte betreffen:

- die finanzielle Förderung der Berufsausbildung,
- das Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit,
- die Eingliederungshilfe für Behinderte
(Erst-/Wiedereingliederung),
- die Strukturanpassungsmaßnahmen,
- die Beschäftigungshilfen für Langzeitarbeitslose.

Es leuchtet nicht ein, dass diese sozialpolitisch wichtigen Maßnahmen durch einen begrenzten Kreis von Beitragszahlern finanziert werden. Die Umstellung auf Steuerfinanzierung hätte zur Folge, dass die Arbeitslosenversicherungsbeiträge merklich (etwa um die Hälfte) gesenkt und die Lasten gerechter verteilt werden.

3. UNSERE FINANZIERUNGSVORSCHLÄGE
Für eine gerechte und nachhaltige Steuerfinanzierung

Während die Steuerlast in Deutschland im internationalen Vergleich niedrig ist, ist die an den Faktor Arbeit gebundene Abgabenlast viel zu hoch. Die Entlastung des Faktors Arbeit durch die Ökosteuer war ein sehr notwendiger und gleichzeitig zukunftsträchtiger Reformschritt. Solche Schritte müssen wir weiter gehen.

Wir wollen, dass der Sozialstaat in Zukunft zu einem größeren Teil aus Steuern bezahlt wird, um Lohnnebenkosten zu senken. Denn die Sozialabgaben binden die Leistungen an das selten werdende "Ideal" des lebenslangen Normalarbeitsverhältnis, sie treiben die Lohnnebenkosten in die Höhe und erschweren dadurch die Schaffung von Arbeitsplätzen. Zwar gelten indirekte Steuern auf den ersten Blick als ungerecht. Wenn diese aber für die Ablösung von Sozialversicherungsbeiträgen verwendet werden, hebt sich dieser Effekt auf. Deshalb finden wir in den skandinavischen Ländern mit ihren hohen Verbrauchssteuern eine sozial gerechtere Gesellschaft mit deutlich weniger Arbeitslosigkeit.

Auch die Erbschaftssteuer wäre in einer verfassungsmäßig erweiterten Form und nach einer entsprechenden Änderung der föderalen Steuersystematik (Ländersteuer) für die Finanzierung bisher beitragsfinanzierter Leistungen besonders geeignet. Wir wollen, dass alle Menschen sich ihren Platz in der Gesellschaft selbst erobern - beruflich und persönlich. Die Sozialdemokratie hat sich immer dagegen gewehrt, dass die Stellung eines Menschen in der Gesellschaft bei der Geburt entschieden wird. Sie muss erarbeitet werden - nicht ererbt. Das Vererben großer Vermögen - Betriebsvermögen ausgenommen - muss angemessen besteuert werden.


Zur Frage, wie "gerecht" die Verteilungswirkung einer allgemeinen Mehrwertsteuererhöhung ist, hat aus Anlass der letzten Erhöhung 1998 das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Untersuchung vorgelegt. Danach bedeutet eine Anhebung des normalen Mehrwertsteuersatzes um ein Prozent eine durchschnittliche Mehrbelastung des verfügbaren Einkommens von 0,49 Prozent. Nicht betroffen sind etwa Miete (mehrwertsteuerfrei) und Lebensmittel (ermäßigter Satz von 7 Prozent) sowie Sparen. Die Spanne der relativen Mehrbelastung über alle Einkommensgruppen hinweg liegt zwischen 0,4 und 0,6 Prozent. Mit steigendem Einkommen, so stellt das DIW fest, nimmt bei fast allen Haushaltsgruppen die Steuerbelastung erst zu, danach ab.

Die Bezieher niedriger Einkommen (mit hohem Anteil an Kosten für Miete und Lebensmittel) sind unterproportional betroffen; Träger der Hauptlast bleiben die Bezieher mittlerer Einkommen, die allerdings in etwa gleicher Größenordnung entlastet werden durch die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge - was ja der Sinn der Operation ist. Empfänger von Transfereinkommen (Arbeitslose, Bafög-Bezieher und Rentner), die nicht unmittelbar von einer Senkung der Sozialversicherungsbeiträge profitieren, würden für den Fall, dass sich das allgemeine Preisniveau erhöht, einen Inflationsausgleich erhalten. Ihre Kaufkraft gilt es zu sichern.

Deutschland hat zur Zeit (mit Ausnahme des Kleinstaates Luxemburg) den niedrigsten Mehrwertsteuersatz in der EU. Mittelfristig sollten wir anstreben, unseren Steuersatz auf das EU-Durchschnittsniveau anzuheben, um damit die Finanzierungsbasis für einen reformierten Sozialstaat zu schaffen. Das muss nicht sofort geschehen, denn es gilt auch die momentane Konsumkrise im Auge zu behalten.

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