Sollen die Erbsenzähler doch toben

Deutschland wünscht sich attraktiven, aber in erster Linie erfolgreichen Fußball. Schon fordern Traditionalisten die Rückkehr zu den vermeintlichen "deutschen Tugenden". Warum wir es lieber riskieren sollten, bei der WM schön spielend unterzugehen

Wer behauptet, niemand hätte ihn gewarnt, der lügt. Bei seinem Amtsantritt im August 2004 sagte Bundestrainer Jürgen Klinsmann über seinen Arbeitgeber, den DFB, man müsse „im Prinzip den ganzen Laden auseinander nehmen“. Kurze Zeit später tummelten sich ein Sportpsychologe, ein amerikanischer Fitnesstrainer und ein Chefscout aus der Schweiz in der Frankfurter Otto-Fleck-Schneise, dem Hauptquartier des deutschen Fußballs. Gemeinsame Abendessen der Mannschaft mit Funktionären vor Länderspielen wurden gestrichen, das WM-Quartier verlegt, und Urgestein Sepp Maier verlor seinen Posten als Torwarttrainer. Zu allem Übel wohnte der Bundestrainer auch noch tausende Kilometer entfernt in Kalifornien und ließ sich nur dann in Deutschland blicken, wenn es aus seiner Sicht der Sache dienlich war.

Was in anderen Sportarten eine Selbstverständlichkeit ist – die Öffnung gegenüber Einflüssen von außen –, das kam in der gelegentlich bornierten und abgeriegelten deutschen Fußballbranche einer Revolution gleich. Schließlich war das Althergebrachte doch bis in die neunziger Jahre hinein Garant für internationale Erfolge, selbst bei der letzten WM in Japan und Südkorea schaffte es die deutsche Mannschaft noch ins Finale. Leises Grummeln über den Bundestrainer war nicht zu überhören. Doch angesichts der schwächelnden Nationalmannschaft ließ man Klinsmann zunächst gewähren, nicht ohne die Umtriebigkeit des Schwaben argwöhnisch zu betrachten.

Erst als Klinsmann sich massiv dafür einsetzte, den neu geschaffenen Job des Sportdirektors an Bernhard Peters, den Trainer der Hockey-Nationalmannschaft, zu vergeben, war der Spitze des größten Sportverbandes der Welt derlei Reformeifer dann doch zu viel des Neuen. Ein Hockey-Trainer sollte die gesamte Nachwuchsarbeit koordinieren? Ein Nobody aus einer Randsportart an einer wichtigen Schaltstelle des größten Sportverbandes der Welt? Das DFB-Präsidium legte sein Veto ein und verpflichtete nach altem Brauch einen verdienten Nationalspieler. Matthias Sammer bekam den neu geschaffenen Posten und wies – nicht ganz überraschend – kurz nach seiner Einstellung bei einer Veranstaltung der „Stiftung Jugendfußball“ darauf hin, dass die international so hoch geschätzten „deutschen Tugenden“ wieder eine größere Rolle spielen müssten. Theo Zwanziger, Geschäftsführender Präsident des DFB, fasst es so zusammen: „Es gibt unseren Verband über 100 Jahre, er muss nicht reformiert werden in einer Weise, die alles auf den Kopf stellt. Wir sind ein demokratischer Verband, wir sind jederzeit offen für Innovationen, wir brauchen aber keine Revolution.“

Sammer spricht die Sprache des DFB

Schwer vorstellbar, dass Klinsmann und Sammer längere Zeit zusammen arbeiten: Auf der einen Seite Klinsmann, der Kosmopolit, der in Italien, Frankreich und Großbritannien gelebt hat und heute in den Vereinigten Staaten wohnt; auf der anderen Seite der akribische und ehrgeizige Matthias Sammer, der im Sportsystem der DDR ausgebildet wurde und schon 34-jährig als Trainer von Borussia Dortmund die Deutsche Meisterschaft holte. Beide haben zusammen große Erfolge in der deutschen Nationalmannschaft gefeiert, beide waren sie großartige Spieler. Und dennoch könnten sie kaum weiter voneinander entfernt sein. Während Klinsmann seine Umgebung gelegentlich mit Floskeln aus der Rhetorikkiste amerikanischer Motivationsseminare traktiert und einen unerschütterlichen Optimismus zur Schau stellt, spricht Sammer die Sprache der Fußballer. Er redet viel von Willenskraft, Stolz und Ehre. Er spricht die Sprache des DFB. Zu deutlich hat sich Klinsmann während der erbittert geführten Debatte für seinen Favoriten Peters eingesetzt, zu klar haben Team-Manager Oliver Bierhoff und der Bundestrainer nach der Entscheidung des DFB für Sammer ihre Enttäuschung ausgedrückt, als dass aus der Zweckgemeinschaft auf Zeit noch eine innige Verbindung werden könnte.

Klinsmann, dessen Maßnahmen den Veränderungswillen des DFB offenbar über das erträgliche Maß hinaus strapaziert hatten, galt schon zu seiner aktiven Zeit für die einen als Spieler mit eigenem Kopf, für die anderen als eigenbrötlerischer Quertreiber. Charmant und eloquent aber war Klinsmann immer – ein blendender Botschafter seiner Vereine. Zugleich war Klinsmann jedoch auch stets ein exzellenter Verfechter der eigenen Sache. Seinen Berater, den Schweizer Rechtsanwalt André Gross, beschrieben Verhandlungspartner als knallhart bis unverschämt. Doch so gut es Klinsmann immer verstanden hat, seine Interessen medienwirksam zu vertreten, so rigoros verweigerte er sich dem medialen Prinzip des Gebens und Nehmens in Bezug auf sein Privatleben. Jederzeit schaffte er es, seine Familie aus den Schlagzeilen zu halten. Anekdoten über kurzlebige Diskobekanntschaften oder gar Beziehungskrisen – sonst als fester Bestandteil der Fußballfolklore regelmäßiger Gegenstand der Boulevard-Berichterstattung – sind von dem Bäckersohn nicht überliefert. Bierselige Kungelrunden mit Journalisten waren nie die Sache des Wahl-Kaliforniers. „Er ist einer der ganz wenigen im Geschäft, die völlig unabhängig von Sponsoren, Geld, Karriereplanung und Medien sind“, sagt Klinsmanns langjähriger Vertrauter Roland Eitel.

Wer sich auf solche Art verweigert, macht sich schnell verdächtig. Viele Deutsche haben offenbar das Gefühl, Jürgen Klinsmann nicht richtig zu kennen, womöglich ist er ihnen sogar nicht ganz geheuer. Sie wissen nicht genau, mit wem sie es zu tun haben. Mit „Klinsi“, dem strahlenden Sunnyboy? Oder mit dem knallharten Sanierer und Geschäftsmann, der, wie Klinsmanns Intimfeind Lothar Matthäus nicht müde wird zu betonen, für eigene Interessen über Leichen geht? Die Verpflichtung von Matthias Sammer zeigt: Auch dem DFB ist der Reformeifer des Bundestrainers ein wenig unheimlich geworden. Veränderungen ja, Modernisierung gern, aber bitte nur ein bisschen und keinesfalls so, dass es weh tut.

Dabei hatte die Krise der Nationalmannschaft vor der WM durchaus auch komische Seiten. Unvergessen der womöglich tatsächlich ernst gemeinte Vorschlag mehrerer Bundestagsabgeordneter, Klinsmann solle angesichts der schlechten Ergebnisse seine sportliche Strategie vor dem Sportausschuss des deutschen Parlaments erläutern. Schließlich sei das Großereignis Weltmeisterschaft von nationaler Bedeutung.

Durch frühes Ausscheiden in die Krise?

Den Gipfel des Irrsinns erreichte die Nationalmannschaftsdiskussion bei der so genannten Torwartfrage. Deutschland quälte und wand sich bei der Entscheidung zwischen Jens Lehmann und Oliver Kahn, als hinge das Schicksal ganzer Generationen vom Mann zwischen den Pfosten ab. Dass die meisten WM-Teilnehmer sich glücklich schätzen würden, einen Torwart wie Timo Hildebrand im Tor zu haben, der bei uns nur dritte oder vierte Wahl ist, kam in dem Getöse nicht zur Sprache.

Man kann Klinsmann zu Recht vorwerfen, mit dem anhaltenden Konkurrenzkampf zwischen Kahn und Lehmann für große Unruhe gesorgt und darüber hinaus auch sich selbst angreifbar gemacht zu haben. Aber bei nüchterner Betrachtung ist nur Selbstverständliches passiert: Ein großartiger Spieler hat sich gegen einen anderen durchgesetzt. Alltag im Profisport, nicht der Rede wert. Es sei denn, man bläst den sportlichen Zweikampf zum postmodernen Heldenepos auf. Vielleicht muss man dem deutschen Fußball ein wenig Ballast nehmen, den Druck reduzieren, einfach ein wenig Luft herauslassen aus der hysterischen Diskussion. Egal wie die WM für die deutsche Nationalmannschaft ausgehen wird, ein Weltmeistertitel wird das Land nicht wirtschaftlich sanieren oder gar die Arbeitslosigkeit beseitigen. Genauso wenig dürfte ein frühes Ausscheiden die Bundesrepublik zum Entwicklungsland verkümmern lassen.

Versucht man, das große Knäuel aus verletzten Eitelkeiten, unbeglichenen Rechnungen, riesigen Erwartungen und ebenso großen Enttäuschungen zu entwirren, steht man am Ende vor simplen Tatsachen: Jürgen Klinsmann hat als Bundestrainer Zugriff auf nur etwa 150 deutsche Spieler, die ihren Sport in der höchsten Spielklasse ausüben. Aus den gut zwanzig besten Spielern der Bundesliga, die international gegenüber der spanischen, italienischen und englischen Konkurrenz an Boden verloren hat, muss er eine Mannschaft formen, die bei der WM bestehen kann. Das kann man zögerlich und auf Sicherheit bedacht tun. Oder aber man entscheidet sich wie Klinsmann für die riskantere, modernere und spannendere Variante, verjüngt das Team radikal und zwingt ihr einen offensiven Stil auf, von dem aus es kein Zurück mehr gibt.

Die Abrechnungen kommen sowieso

Das kann an guten Tagen prächtig funktionieren und beim Zuschauen einen Heidenspaß machen, wie etwa beim Confederations-Cup im vergangenen Sommer. An schlechten bis miserablen Tagen, die es leider in der jüngeren Vergangenheit häufiger gegeben hat, geht das Team allerdings so chancenlos unter wie zuletzt beim 1:4 gegen Italien. Na und? Was ist dabei? Wenn die Mannschaft nach einer großartigen Vorrunde im Viertelfinale unglücklich ausscheiden sollte, wird die Fußballwelt nicht untergehen. Gleiches gilt, wenn das Team nach zäh erkämpften und risikoarm überstandenen Partien im Halbfinale die Koffer packen müsste. Wahre Fußballfans würden sich immer für die erste Variante entscheiden. Sollen die Marketingstrategen, Pokalabstauber und Erbsenzähler doch toben.

Wenn alles andere als ein Titelgewinn schon als Scheitern gilt, kann man vorher ruhig ein wenig Spaß haben. Die Abrechnungen kommen nach der Show sowieso von ganz allein. Oliver Kahn hat bereits angekündigt, nach der WM sein „ganz persönliches WM-Tagebuch“ zu veröffentlichen. In der Bild-Zeitung.

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