So weit weg, so wichtig

Der Europäischen Union fehlt die öffentliche Anteilnahme / VON DETLEF SAMLAND

Betrachtet man die Wahlbeteiligung zur Europawahl, so könnte man als Beobachter annehmen, dass die Bedeutung der Europäischen Union seit der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament im Jahre 1979 kontinuierlich zurückgegangen sei. Denn von Wahl zu Wahl haben sich die Bürger immer mehr in Wahlenthaltung geflüchtet. In Deutschland ebenso wie in den anderen Mitgliedstaaten. Und das, obwohl seit 1979 die Gemeinschaft um sechs weitere Länder (Griechenland, Portugal, Spanien, Österreich, Schweden und Finnland) gewachsen ist. Obwohl mit der "Einheitlichen Europäischen Akte" von 1985 der Grundstein für den Europäischen Binnenmarkt gelegt, mit dem Vertrag von Maastricht 1992 die Wirtschafts- und Währungsunion geschaffen wurde. Obwohl 1997 mit dem Vertrag von Amsterdam die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Sozialcharta Bestandteile der europäischen Politik wurden. Zudem wurden die Rechte des Europäischen Parlamentes massiv gestärkt. Während also die Rolle und Funktion der EU kontinuierlich gewachsen ist, ist die Wahrnehmung durch die Wahlbevölkerung kontinuierlich zurückgegangen. Dieser Widerspruch zwischen realer Entwicklung und öffentlicher Wahrnehmung hat unterschiedliche Ursachen.

Europäische Politik wird in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und besonders in Deutschland immer noch als Außenpolitik angesehen. Zwar sind rund 80 Prozent aller EU-Entscheidungen innenpolitische Maßnahmen, aber die Bereitschaft zu akzeptieren, dass ein wesentlicher Eckpfeiler nationaler Politik längstens in EU-Verantwortung übergegangen ist, ist nicht ausgeprägt. Natürlich ist es für eine Bundesregierung, einen Bundestag, 16 Landesregierungen und 16 Landtage nicht einfach einzugestehen, dass die Kennzeichnungspflicht für Zusatzstoffe in Lebensmitteln in Brüssel und nicht in Berlin oder München entschieden wird. Richtig ist es aber doch. Denn wer heute in einem Supermarkt einkauft, findet zu 60 Prozent Produkte aus anderen europäischen Ländern. Was nützt da deutsche Kleinstaaterei? Arbeitsschutzbestimmungen, Umweltstandards, Zugangsregelungen zum Internet, Durchleitungsrichtlinien für Gas und Strom: Die Entscheidungen werden in Brüssel getroffen. Und Entscheidungsbeteiligter ist immer auch die deutsche Bundesregierung.

Wenn dann richtigerweise über einen Verlust demokratischer Kontrolle diskutiert wird, muss diese Frage vor allem auch in Deutschland beantwortet werden: Wer kontrolliert die Rolle der nationalen Regierung in Brüssel? Während zum Beispiel das dänische Parlament einen Ausschuss eingerichtet hat, der vor der Festlegung der dänischen Regierungsposition im EU-Ministerrat seine Zustimmung geben muss, beschränkt sich die parlamentarische Arbeit in Deutschland vor allem auf die nachträgliche Betrachtung der Entscheidungen. Und die im Rahmen des Artikels 23 GG vorgesehene Beteiligung der Länder ist, wenn überhaupt, weitestgehend auf eine Beteiligung der Landesregierungen begrenzt. In der Tat gibt es hier ein Demokratiedefizit, das es aufzuarbeiten gilt.

Eine andere Ursache des europäischen Desinteresses besteht darin, dass es bis heute keine relevante europäische Zivilgesellschaft gibt. Auch wenn die Verträge von Maastricht und Amsterdam den Sozialpartnern, den politischen Parteien und den Regionen spezielle Beteiligungsrechte einräumen, auch wenn die verschiedenen Organisationen und Sozialpartner in der Zwischenzeit europäisch aufgestellt sind, muss man festhalten, dass die Durchschlagskraft gering ist. Der Europäische Arbeitgeberverband hat kein Verhandlungsmandat, die europäischen Gewerkschaften sind keine Tarifpartner im deutschen Sinne. Dies gilt für die Vertretungen der Kommunen ebenso wie für die Umwelt- und Sozialverbände. Über eine zusätzliche begleitende Beratung in verschiedenen Gesetzgebungsprozessen, die zumeist auch noch spät und unzureichend stattfindet, kommt man nicht hinaus. Lobbyarbeit, wie sie in Berlin stattfindet, ist mit der in Brüssel nicht zu vergleichen. Und dabei verhalten sich die Vertretungen häufig auch noch sehr national. Eine Stärkung dieser Vertretungen durch Verlagerung von Kompetenzen von der nationalen auf die europäische Verbandsebene ist bisher nicht feststellbar.

Ein weiterer Aspekt ergibt sich aus der nicht vorhandenen europäischen Medienlandschaft. Die Presseberichterstattung beschränkt sich auf die Beschreibung der durch Europa tangierten nationalen Interessen. Nicht nur, dass Europa in den Redaktionen immer noch unter Außenpolitik geführt wird. Die geringe Kenntnis europäischer Sachverhalte in den deutschen Medien ist erschreckend. Davon ausgenommen sind lediglich die Brüsseler Korrespondenten, die allerdings ein ebenso schwieriges Standing haben, wie Afrika- oder Asienkorrespondenten, wenn sie gerade einmal nicht über den Krümmungswinkel der Schlangengurke berichten wollen. Eine Berichterstattung, die die Auswirkungen der Gesetzgebung der EU für die Menschen in Europa und nicht nur in dem jeweiligen Mitgliedsland in den Mittelpunkt rückt, sucht man vergeblich.

Schließlich ist die fehlende Personalisierung der europäischen Politik ein Grund der unzureichenden Wahrnehmung. Solange die Parteien zur Europawahl mit jeweils nationalen Listen antreten, solange wir es nicht mit europäischen sondern nationalen Parteien zu tun haben, wird sich an diesem Zustand auch nicht viel ändern.

All dies sind Gründe für die geringe öffentliche Wahrnehmung der europäischen Realität. Der Stellenwert europäischer Politik nimmt dagegen ständig zu. An ein paar Beispielen möchte ich diese reale Entwicklung skizzieren.

Die deutsche und die europäische Regional- und Strukturpolitik sind im Rahmen der Neuorganisation der Strukturförderung 2000 bis 2006 deckungsgleich. Insgesamt fließen rund 220 Mrd. Euro in diese Politik. Fördergebiete und Förderzwecke sind europaweit definiert, die nationalen und in Deutschland die Länderbehörden sind gehalten, die Förderkulisse und die Regeln der Förderung einzuhalten. Die EU-Kommission überprüft dabei nicht nur die Einhaltung der Fördergebiete sondern auch die Einhaltung der Umweltstandards und die arbeitsmarktpolitischen Auswirkungen der Projekte. Die Rolle der Länder beschränkt sich auf die Anmeldung der Fördergebiete und die Kofinanzierung der Projekte. Dadurch, dass der Förderzeitraum auf sieben Jahre festgeschrieben wurde, ist die Regional- und Strukturpolitik auf lange Zeit durch EU-Entscheidungen fixiert worden. Die früher im Rahmen der Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe definierten Fördergebiete und Förderzwecke sind so gänzlich in europäische Gestaltungshoheit übergegangen. Ein wichtiges Instrument regionaler Wirtschaftsförderungspolitik in den Ländern und Kommunen ist damit für sieben Jahre fixiert, länger als eine volle Legislaturperiode der jeweiligen Ebene.

Ein zweites Beispiel illustriert noch deutlicher den Einfluss der europäischen Politik: Die in Deutschland geübte Praxis, dem öffentlichen Personennahverkehr durch eine sogenannte Quersubvention unter die Arme zu greifen, wird seitens der EU-Kommission aus Wettbewerbsgründen hinterfragt. Die geübte Praxis geht davon aus, dass zum Beispiel in Stadtwerken erwirtschaftete Gewinne über eine kommunale Holding an die Nahverkehrsgesellschaft zur Abdeckung des Defizits weitergereicht werden. Sollte die EU-Kommission in den nächsten Monaten diese Praxis als wettbewerbswidrig einstufen, käme das die kommunalen Haushalte teuer zu stehen. Einerseits müssten sie die Gewinne der Stadtwerke versteuern, andererseits müssten die ÖPNV-Zuschüsse aus dem kommunalen Haushalt weiter wachsen. Hier greift die Wettbewerbs- und Beihilfenkontrolle des EU-Vertrages unmittelbar in die Gestaltungsspielräume der Kommunen ein.

Ähnliches gilt für die Rolle und Funktion der öffentlichen Sparkassen und Landesbanken. Der Musterfall der Westdeutschen Landesbank ist dabei nur ein Aufhänger. Die EU-Kommission geht im Prinzip davon aus, dass die staatliche Gewährträgerschaft den öffentlichen Banken gegenüber den Privaten einen Wettbewerbsvorteil einräumt. Wenn im Protokoll zum Vertrag vom Amsterdam eine Erklärung zu den öffentlich-rechtlichen Kreditinstituten in Deutschland aufgenommen wurde, muss man auf den Wortlaut verweisen. Dort heißt es: "Diese Möglichkeiten dürfen die Wettbewerbsbedingungen nicht in einem Ausmaß beeinträchtigen, das über das zur Erfüllung der besonderen Aufgaben erforderliche Maß hinausgeht und zugleich dem Interesse der Gemeinschaft entgegenwirkt."

Damit steht das öffentliche Banken- und Sparkassenwesen mindestens unter kontinuierlicher Überprüfung, wenn nicht gar in einem wichtigen Bereich zur Disposition. Nun teile ich die Einschätzung der EU-Kommission an dieser Stelle überhaupt nicht, da nach meiner Auffassung mit einer solchen Maßnahme nicht nur das zweite Bein der Mittelstands- und Regionalpolitik amputiert, sondern auch die Voraussetzung für Neugründungen unterlaufen würde. Dennoch wird hier deutlich, welche relevanten Fragen der bisherigen nationalen Wirtschafts- und Strukturpolitik längst auf die europäische Ebene übergegangen sind.

Um die Reihe der Beispiele abzurunden, ein Hinweis auf die nationale Kohlepolitik. Die Bundesregierung hat der deutschen Steinkohle eine Zusage über Beihilfen bis zum Jahre 2004/5 gemacht. Die Beihilfen sind auf der Grundlage des sogenannten EGKS-Vertrages (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) genehmigt worden. Mit dem Auslaufen dieses Vertrages im Juni 2002 (es ist der einzige europäische Vertrag, der auf 50 Jahre begrenzt ist und nur weiterlaufen könnte, wenn er einstimmig verlängert würde, was nicht der Fall sein wird) müssen die Beihilfen für den bereits laufenden Kohlekompromiss ab 2002 auf der Basis des allgemeinen Wettbewerbsrechts des EU-Vertrags genehmigt werden. Diese Regeln sind deutlich schärfer und sagen verkürzt, dass Beihilfen nur dann zulässig sind, wenn sie nicht zu dauerhaften Subventionen führen. Ohne diesen Vorgang hier bewerten zu wollen, wird deutlich, dass eine bereits national entschiedene Frage 2002 erneut auf dem Prüfstand europäischen Rechts stehen wird.

Die wenigen Beispiele aus nur zwei Feldern europäischer Politik belegen, dass öffentliche Wahrnehmung und realistische Betrachtung der europäischen Wirklichkeit weit auseinander klaffen. Wenn die politischen Eliten in Deutschland nicht wollen, dass dieser Widerspruch weiter verschärft wird, dann muss europäische Politik stärker als bisher in den Mittelpunkt des Tagesgeschäftes gerückt werden. Es geht eben nicht um eine Überhöhung des europäischen Gedankens, sondern vielmehr um die Behandlung dieser Ebene mit dem gleichen Realismus, den man von einem Landespolitiker erwartet, der sich über die Bundespolitik äußert. Und es geht darum, dass eine parlamentarische Beschäftigung vor den Entscheidungen des nationalen Interessenvertreters (der Regierung) im Ministerrat sichergestellt wird. Dann wäre schon viel erreicht.

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