Sehr weit weg - und doch ganz nah

Es ist längst noch nicht alles gesagt: Gerd Koenen und Kurt Oesterle haben zwei besonders hilfreiche Bücher über den deutschen Terrorismus geschrieben

Es schien so weit weg - 30, 35 Jahre. Gut eine Generation. Dann nimmt man das Buch von Gerd Koenen in die Hand, beginnt zu lesen: Und alles ist wieder gegenwärtig. Die Diskussionen in der linken Szene über den Muff der Adenauer-Republik, über die Konsumgesellschaft; die amerikanische Vietnampolitik; Gewalt in der politischen Auseinandersetzung, Gegengewalt. Später dann die oft hinter vorgehaltener Hand gestellte Frage: Was würde man tun, wenn morgen jemand von der RAF vor der Tür stünde und Übernachtung begehrte? Und nach der Inhaftierung der Gründungsmitglieder die Diskussionen über Isolationshaft - oder Isolationsfolter? Aber auch das vergiftete gesellschaftliche und politische Klima: Verdächtigung, Denunziation, Verunglimpfung. Koenens Buch trifft einen Nerv und das ist wahrlich nicht das Schlechteste, was man von einer Publikation sagen kann.

Die völkischen Wurzeln der RAF

Seine Darstellung beschränkt sich im Wesentlichen auf die Zeit bis zur Inhaftierung der Gründungsmitglieder der RAF im Frühsommer 1972: Erst Baader, Raspe, Meins, kurz darauf Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, die alle binnen zwei Wochen gefasst wurden. Koenens überzeugende Begründung für diese Beschränkung: "Damit hatte die RAF, wie sie im Frühjahr 1970 gebildet worden war, faktisch aufgehört zu existieren." Das Morden der zweiten und dritten Generation der RAF begann danach erst richtig, ist aber nicht mehr Koenens Thema. In diesem Buch geht es eben laut Untertitel um die "Urszenen des deutschen Terrorismus", um die Biografie, das Denken und Handeln von Vesper, Ensslin, Baader und - mit Einschränkungen - Meinhof. Und hierzu fördert Koenen in der Tat viel Neues zu Tage. Mit Hilfe bisher unerschlossener Quellen und mittels hilfreicher Interpretationen.

Eine fundamentale Rolle in Koenens Darstellung spielt Bernward Vesper mit seinem Essayroman und Tagebuch Die Reise. Das Buch erschien erstmals im blutigen Terrorjahr 1977, wurde seitdem immer wieder neu aufgelegt und gilt als authentischer Spiegel des Denkens jener Generation, aus der sich die RAF rekrutierte. Autor Bernward Vesper ist Sohn des "völkischen Großdichters" Will Vesper und konnte sich von dieser Erblast bis zu seinem Selbstmord 1971 nie richtig lösen: "Und Gott war mein Vater und mein Vater war Gott, morgens früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt, mein Vater hieß Will."

Während der Sohn längst am Bau seiner linken Biografie bastelte, gab er gleichzeitig die völkisch infizierten Schriften seines Vaters heraus - und Gudrun Ensslin, Tochter aus schwäbischem Pfarrershaushalt, half ihm dabei. Das elterliche Cannstatter Pfarrhaus der Vesper-Freundin fungierte gleichzeitig als studio neue literatur für einen avantgardistischen Literaturverlag, wie auch als Pressestelle für den obskuren Petrei Verlag, der die Erzeugnisse von Vespers Vater verlegte. Im März 1965 hatten sich Vesper und Ensslin auf gutbürgerliche Art und Weise verlobt. Zur Hochzeit kam es aber nie. Kurz nachdem im Mai 1967 der gemeinsame Sohn Felix zur Welt gekommen war, trennten sich die beiden. Da hatte Gudrun soeben Baader kennen gelernt.

Baaders Vater war Ende des Krieges verschollen. Sohn Andreas war also im Wortsinne Kind der "vaterlosen" Generation. Er schmiss mit 16 die Schule, (die letzte von vielen), kam schon früh immer wieder mit der Polizei in Konflikt (Motorraddiebstahl, Fahren ohne Führerschein und dergleichen). Gleichzeitig war er ein begnadeter Selbstdarsteller: "Jedenfalls ist schlechterdings nicht zu unterscheiden, was bei Baader echt und was gespielt war."

Opposition gegen alles

Was sich in Gudrun Ensslins Beziehung zu Vesper schon andeutete - dass sie nämlich "ihre Befriedigung in der völligen Identifizierung mit ihm" zu finden schien - kulminierte in ihrer Beziehung zu Baader. Mit ihm, der kaum mehr als "Opposition gegen alles" verkörperte, identifizierte sie sich bis zur Selbstaufgabe - auch um den Preis, dass sie für ihn ihren bis dahin zweifellos geliebten kleinen Sohn aufgab (wie es später auch Ulrike Meinhof mit ihren Zwillingen tat). Mit dieser totalen Bindung an Baader aber geschah etwas, was Koenen so beschreibt: "Einzeln waren sie nur, die sie waren. Zusammen waren sie etwas Drittes, sehr viel Stärkeres." Und dessen Wirkung war bekanntlich verheerend: Bei Baaders gewaltsamer Befreiung im Mai 1970 gab die selbst ernannte Stadtguerilla ihren ersten Schuss ab, ein Mensch wurde schwer verletzt. Die folgenden Ereignisse ließen keinen Zweifel daran, dass - wie es in einer Gudrun Ensslin zugeschriebenen Erklärung hieß - "die Befreiung Baaders nur der Anfang ist".

Was am Ende blieb, so Koenens Fazit, war dürftig genug. Vesper, der ideologische Wegweiser, der aber selbst vermutlich nie terroristisch tätig wurde, blieb bis zu seinem Selbstmord - willig oder unwillig - auf seinen Vater, den Nazi-Dichter, fixiert. Für Ensslin schien der kühle und amoralische Baader so etwas wie der Befreier von ihrer protestantischen "Hypermoralität" zu sein. Die Symbiose mit ihm war total. Und Baader blieb zeitlebens der enthemmte Spieler, der selbst um den Preis allergrößter Nachteile simpelste Realitätsgrenzen nicht anzuerkennen vermochte: Seine beiden Verhaftungen resultierten letztlich aus Verkehrsverstößen wegen zu schnellen Fahrens.

Besonders bedrückend ist in der Rückschau das ideologische Desaster der RAF: Ihre Mitglieder, die sich am Ende einerseits mit Auschwitz-Opfern gleichsetzten, verfassten andererseits Elogen auf die Geiselnehmer israelischer Sportler bei den Olympischen Sommerspielen 1972 in München und priesen deren Tat als "antiimperialistisch, antifaschistisch und internationalistisch" zugleich. Da ist am Ende kaum noch ein Unterschied zwischen dem nazistischen "Weltjudentum" und dem "Antizionismus" der RAF zu erkennen: linker Antisemitismus.

Nach dem Selbstmord dieser Gründer der RAF waren ihre Nachfolger der zweiten und dritten Generation vor allem mit ihrem Selbsterhalt und der Sicherstellung ihres Untergrunddaseins beschäftigt, kulminierend in einem unerbittlichen "Kreislauf der Gewalt".

Koenens Darstellung ragt in mancher Hinsicht hervor: Vespers schwieriges Buch Die Reise, das als Schlüssel zum Verständnis dieser Generation gilt, interpretiert er klug und stellt Bezüge her, die die Augen für Zusammenhänge öffnen. Er beschränkt sich aber nicht nur auf die Neubewertung bereits bekannter Texte, sondern erschließt bisher nicht bekannte Quellen, schriftliche wie mündliche, in Zusammenarbeit mit Verwandten und Bekannten seiner Protagonisten. Und last but not least: Er entlarvt den so genannten "Mythos RAF" als von ihr und ihren Sympathisanten selbst geworfene Nebelkerze, die verschleierte, dass dahinter nichts war.

Die ewige Mär von der Isofolter

Ganz anders die Darstellung des Vollzugsbeamten Horst Bubeck in dem Buch von Kurt Oesterle. Das Urteil über ihn, von denen, die er bewachte, stand von Anfang an fest: "Der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch ... Und natürlich kann geschossen werden". So in einer Erklärung Ulrike Meinhofs. Horst Bubeck war in Stammheim der hauptverantwortliche Vollzugsbeamte für den 7. Stock, in dem die RAF-Terroristen einsaßen. Bubeck, nach Oesterles Schilderung ein Ausbund an Korrektheit und Fairness, der sich in dieser Haltung auch nicht irritieren ließ, als Ulrike Meinhof ihn bei der ersten Begegnung mit einem Tritt in den Unterleib begrüßte, hat die RAF-Leute in ihrer Zeit in Stammheim täglich mehrfach gesehen. Er berichtet absolut glaubwürdig von Haft-Privilegien, die "in der ganzen deutschen Knast-Geschichte einmalig sind".

Die RAF-Häftlinge waren jeden Tag acht Stunden zusammen, Männer und Frauen - in jedem anderen Gefängnis bis dahin undenkbar. Jeder Häftling verfügte über vier Zeitungen oder Zeitschriften nach Wahl und hatte Hunderte von Büchern in der Zelle - normal wären zehn gewesen. Ebenso selbstverständlich waren Radio und Fernsehen in der Zelle - der Durchschnittshäftling sah wöchentlich 2 Stunden fern, in Gemeinschaft mit anderen Häftlingen. Die RAF-Leute konnten täglich duschen - andere Häftlinge einmal die Woche -, und sie bestimmten selbst, wann bei ihnen das elektrische Licht ausging. Dennoch gelang es ihnen erfolgreich, die Mär von Isolationshaft und -folter zu verbreiten. Auch Jean-Paul Sartre war dabei ihr Prophet. (Tatsächlich gab es Isolationshaft zum Teil vorher in den Einzelgefängnissen, in Stammheim aber erst nach der Entführung Schleyers am 5. September 1977).

Gerechtigkeit für Horst Bubeck!

Aber auch Repräsentanten der staatlichen Gewalt zeigten sich in Gesprächen und Vereinbarungen mit den Häftlingen in einer Weise anbiedernd, die das Aufsichtspersonal gegenüber den Gefangenen so sehr desavouierte, dass es den aufrechten Horst Bubeck noch heute schaudert. Und deshalb ist es gut, dass ihm mit Oesterles Buch endlich jene Gerechtigkeit wiederfährt, die im Umgang mit den schwierigen Gefangenen die Maxime seines Handelns war.

Gerd Koenen, Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003, 365 Seiten, 22,90 Euro

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