Scheitern als Chance

EDITORIAL

„In meinem Team gibt es einen Spieler, der ist taktisch undiszipliniert. Von der Sorte hätte ich gern noch zwei weitere.“
Luiz Felipe Scolari, portugiesischer Nationaltrainer

Deutschland ist ein Land der gealterten und behäbig gewordenen Institutionen. Wir erleben das in der Politik, in der Wirtschaft, überall in unserer Gesellschaft. Das Land braucht Erneuerung und Öffnung, Kreativität und Dynamik, Lust auf Zukunft, aufs Ausprobieren, den Ausbruch aus den Üblichkeiten. Aber in vielen Institutionen sitzen Leute, die sich von Wandel und Zukunft wenig erhoffen – im Gegenteil. Deshalb haben es Erneuerer und Veränderer so schwer im Deutschland des frühen 21. Jahrhunderts. Je nötiger das Land sie braucht, je beharrlicher sie auf Defizite hinweisen, desto mehr gehen sie den Eingesessenen auf die Nerven.

Wie immer ist der Fußball in Deutschland ein verlässlicher Indikator der gesellschaftlichen Zustände. Völlig zu Recht hat jüngst der Literaturkritiker Helmut Böttiger darauf hingewiesen, dass sich im deutschen Fußball spätestens in den neunziger Jahren dieselbe „Wohlstandsverwahrlosung“ breitmachte wie im Land insgesamt. „Hätte man genauer hingeschaut, wie die Deutschen seit geraumer Zeit Fußball spielten, dann hätte man von der Pisa-Studie für das Bildungswesen nicht überrascht sein müssen. Die Förderung individueller Begabung stand nie zur Debatte, es gab dafür umso mehr Schablonen, in die man sich einzufügen hatte. Der Zusammenhang zwischen den demütigenden Ergebnissen im Fußball und denjenigen der Pisa-Studie liegt auf der Hand.“

Nun also Klinsmann. Der Bundestrainer steht heute vor genau derselben Wahl wie die deutsche Politik, ja wie Deutschland insgesamt. Bernd Schröder, als Trainer des 1. FFC Potsdam der zurzeit erfolgreichste deutsche Fußballlehrer, hat sicherlich völlig Recht: „Klinsmann allein kann nicht wettmachen, was in den Clubs versäumt wurde.“ Aber zumindest kann er den Weg nach vorn einschlagen. „Das kann man zögerlich und auf Sicherheit bedacht tun“, schreibt Ex-Nationalspieler Jens Todt in diesem Heft. Das war die Version Völler. „Oder aber man entscheidet sich wie Klinsmann für die riskantere, modernere und spannendere Variante, verjüngt das Team radikal und zwingt ihr einen offensiven Stil auf, von dem aus es kein Zurück mehr gibt.“

Dass es hinter den offensiven Stil kein Zurück mehr geben darf: Das ist tatsächlich die große Hoffnung, die sich für den deutschen Fußball – und irgendwie auch für die deutsche Politik – mit Klinsmanns Aufbruch verbindet. Mag sein, dass das deutsche Team heroisch scheitert. Aber wäre das etwa ein Fingerzeig, zu altdeutschem Rumpelfußball und altdeutscher Rumpelpolitik zurückzukehren? Gewiss, wer nicht bloß auf Halten spielt, der kann verlieren. Doch wer nur auf Halten spielt, der wird im 21. Jahrhundert auf jeden Fall verlieren. Mindestens diese fundamentale Lehre wird die Ära Klinsmann dem Land hinterlassen. Und vielleicht am Ende ja doch noch mehr.

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