Rückstand in den Köpfen

Deutschland muss seine familienpolitischen Modernisierungsdefizite beseitigen. Ein erster Einstieg ist seit der Ära Renate Schmidt geschafft, aber noch müssen ideologische Vorbehalte und Geschlechterklischees bei allen Beteiligten abgetragen werden

Der Kurswechsel in der deutschen Familienpolitik kommt spät, allzu spät. Schließlich sind die Probleme der Vereinbarkeit von Familie und Beruf seit über 30 Jahren bekannt, sie sind auf unzähligen Podien verhandelt und in wissenschaftlichen Expertisen ausgiebig erforscht worden. Doch weil die schwierige Balance zwischen Arbeit und Leben notorisch als Problem der Frau missverstanden wurde, riefen die drängenden Fragen bis vor kurzem allenfalls Überdruss und Langeweile hervor. Wie also rückte das „Gedöns“ ins Zentrum koalitionärer Absprachen und an die Spitze der politischen Agenda?

Bereits Familienministerin Renate Schmidt bereitete – unter Vermeidung des Etiketts „Frauen-politik“ – eine Neuorientierung der Familienpolitik als Sozialpolitik vor. Dabei halfen ihr einschlägige ökonomische Gutachten sowie die Initiative Allianz für die Familie. Die Ökonomen berechneten, dass sich die Familienfreundlichkeit eines Betriebes unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten rechnet. Und mit der Allianz holte Renate Schmidt die Wirtschaft, die Gewerkschaften und die Kommunen ins Boot einer nachhaltigen Familienpolitik.

Dies alles hätte nichts genützt, wäre nicht gleichzeitig die Krise unserer sozialen Sicherungssysteme offenbar geworden: Dem deutschen Sozialstaat fehlen die Beitragszahler von morgen; er stößt im globalen Wettbewerb an die Grenzen seiner Finanzierbarkeit. Der Geburtenrückgang aber auch die schockierenden Ergebnisse der Pisa-Studie, die die Qualitätslücken und sich perpetuierenden sozialen Ungleichheiten unseres Erziehungs- und Bildungssystems offenlegte, schufen schließlich eine politische Gelegenheitsstruktur, die sich auch in der rot-schwarzen Koalitionsvereinbarung wiederfindet.

Familienpolitik galt in der Bundesrepublik lange als eine Domäne konservativer Politik. Gleichstellungspolitische Neuerungen mussten immer wieder mühsam erkämpft werden. Doch auch die arbeitsmarktfixierten Linken waren lange Zeit blind für die alltäglichen Probleme der familiären Arbeitsteilung. Aus der Perspektive der Arbeits- und Sozialpolitik war Familienpolitik allenfalls ein Anhängsel oder ein Störfaktor versicherungsmathematischer Rechnungen. Bezeichnend ist der Begriff „versicherungsfremde Leistungen“ für kinder- und familienpolitische Maßnahmen.

„Arbeit aus Liebe“

Der westdeutsche Sozialstaat beruhte auf einem Gesellschaftsvertrag zwischen Lohnarbeit und Kapital – auf Kosten der Frau. Als stillschweigende Voraussetzung und quasi „natürliche“ Ressource brauchte er nicht nur Nachkommen, sondern eine traditionelle Form der Arbeitsteilung: Die Haus- und Erziehungsarbeit wurde unsichtbar und unbezahlt von den Frauen verrichtet – „Arbeit aus Liebe“. Die Grundlage dieses wohlfahrtsstaatlichen Arrangements beruhte somit auf einer Familienverfassung und einer Geschlechterordnung, die zunehmend fragwürdig, ja mit einem modernen Verständnis von Gleichberechtigung und demokratischer Teilhabe nicht mehr vereinbar sind.

Die Einsicht kommt spät, dass es so nicht weiter geht, vor allem im europäischen Vergleich. Die Versäumnisse begannen in den sechziger Jahren, als Deutschland Gastarbeiter ins Land holte, um den Bedarf an Arbeitskräften zu decken. In Schweden zum Beispiel traten zu jener Zeit Frauen bereits als gleichberechtigte Partner auf den Arbeitsmarkt, flankiert von einer konsequenten Gleichstellungspolitik.

Die deutsche Verspätung verfestigte sich unter der Regierung Helmut Kohl. Die Union propagierte im Rahmen ihrer „konservativen Wende“ von 1981 das Konzept der „neuen Mütterlichkeit“. Die Konservativen verkündeten die Anerkennung und Aufwertung der mütterlichen Aufgaben und ihrer Leistung, was faktisch jedoch nicht zu der geforderten Selbstbestimmung und Geschlechtergerechtigkeit führte, sondern auch im Privaten die traditionellen Geschlechterrollen festschrieb. Die so genannte Wahlfreiheit wurde fortan in deutlicher Frontstellung gegen eine moderne Familien- und Geschlechterpolitik zur Begründung der Entscheidung zugunsten der Familienaufgaben der Frau bemüht.

Das im Jahr 1986 eingeführte Erziehungsgeld, als Anerkennung der mütterlichen Erziehungsleistung auch in der Rentenversicherung gepriesen, erwies sich bald als Danaergeschenk. Abgesehen von den Brosamen für Mütter und wenige Väter mit geringen Einkommen verstärkte der dreijährige Erziehungs-„Urlaub“ die Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Nachweislich hat er bis zur Altersversorgung einen nachhaltigen „Knick“ in den Berufsverläufen und bei ökonomischer Selbständigkeit bewirkt.

Eine weitere familienpolitische Verspätung ist nicht ohne weiteres aufzuholen: Erst im Jahr 1996 beschloss der Bundestag den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, aber nur für Kinder ab dem vierten Lebensjahr und nur für die Halbtagsbetreuung. Das Gesetz war das Ergebnis eines verqueren Kuhhandels, eingetauscht gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frauen in Fragen der Schwangerschaft.

Erwerbstätigkeit und Geburtenrate

Der deutsche Rückstand bei der Geburtenrate und der Erwerbsbeteiligung von Frauen zwingt zur Revision einiger ideologischer Annahmen. Länder mit hoher Frauenerwerbsbeteiligung wie die skandinavischen Länder oder Frankreich zeichnen sich durch hohe Fertilitätsraten aus. Hingegen weisen die Nachzügler in der Geschlechterfrage wie Griechenland, Spanien, Italien und Deutschland heute in Europa die niedrigsten Geburtenraten auf. Nicht mehr aufrecht zu erhalten ist die von konservativen Apologeten immer wieder hervorgeholte Behauptung, die Emanzipation der Frauen sei kinderfeindlich beziehungsweise die Gleichstellung der Geschlechter Ursache für die Krise der Familienbeziehungen. Dies ist ein Fehlschluss bequemer Ewiggestriger, die sich vor dem Machtverlust fürchten. Das Gegenteil ist wahr: Traditionelle Geschlechterrollen und eine unzeitgemäße Familienverfassung sind heute der Grund für niedrige Geburtenraten.

Jetzt ist guter Rat teuer

In der Bundesrepublik wird die traditionelle Familienordnung noch immer durch zwei systematische Krücken abgestützt: Zum einen durch eine an der Institution der Ehe orientierte Besteuerung, das Ehegattensplitting. Dieses subventioniert vor allem die Hausfrauenehe der besser Verdienenden und damit besonders die ungleichberechtigte Ehe. Zugleich erschwert es die Rückkehr von Frauen in den Beruf nach einer Kinderphase.

Zum anderen wird die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Familie durch die Begünstigung der männlichen Ernährerrolle in den Steuerklassen und eine „Mutterideologie“ zementiert. Deshalb wurde keine vernünftige und ausreichende Infrastruktur für die Betreuung und Erziehung der Kleinkinder geschaffen.

Jetzt, da der Nachholbedarf an außerfamiliären Einrichtungen und die Defizite frühkindlicher Bildung und Erziehung endlich auf der politischen Tagesordnung steht, ist guter Rat teuer. Der Ausbau von Krippen und Kindergärten ist nur ein Tropfen auf den allzu heißen Stein, gleichwohl ein Anfang: Das Tagesbetreuungsausbaugesetz von 2005 enthält ein Investitionsprogramm sowie das Ziel, bis 2010 rund 230.000 Kita-Plätze für Unter-3-Jährige zu schaffen. Ein weiterer systematischer Schritt ist das Elterngeld, das sich im Gesetzgebungsverfahren befindet und hoffentlich weiteren Handlungsdruck und politische Zugzwänge erzeugen wird.

Die Einführung eines Elterngeldes ist ein deutlicher Kurswechsel in der deutschen Familienpolitik. Künftig sollen alle Eltern, die ihre Berufstätigkeit nach der Geburt für 12 beziehungsweise 14 Monate unterbrechen, ein Elterngeld in Höhe von zwei Dritteln ihres vorherigen Einkommens bekommen (die Höchstgrenze liegt bei 1.800 Euro). Nichterwerbstätige erhalten einen Mindestbetrag von 300 Euro.

Weil das Elterngeld eine Lohnersatzleistung ist, wird die Elternzeit zum ersten Mal auch für die in der Regel besser verdienenden Väter möglich und attraktiv. Zwei Monate sind für den Partner vorgesehen und verfallen, wenn sie nicht genutzt werden. Dies ist ein Anreiz, die Vaterrolle anzunehmen und praktisch auszuüben, aber kein Zwang. Die zwei Monate haben allenfalls einen erzieherischen Effekt.

Die Weichen werden im ersten Jahr gestellt

Das schwedische Beispiel und vielfältige Untersuchungen belegen, dass die emotionale Beziehung zum Kind sich schon innerhalb von Wochen grundlegend verändert, wenn der Vater die Sorge für das Kind allein verantwortlich übernimmt. Diese Erfahrung ist ausschlaggebend für die innerfamiliäre wie gesellschaftliche Gleichberechtigung der Partner. Aus familiensoziologischen Langzeituntersuchungen wissen wir auch, dass die Geburt des ersten Kindes eine einschneidende Zäsur für die häusliche Arbeitsteilung selbst in einer vorher sehr gleichberechtigten Partnerschaft ist. Der Übergang zur Elternschaft, der Väter bisher noch stärker in die Ernährerrolle drängte, reduziert in der Regel die weitere Beteiligung der Männer an der Hausarbeit drastisch – obwohl der Arbeitsaufwand in der Familie durch die Geburt des Kindes insgesamt wesentlich zunimmt.

Im ersten Lebensjahr des Kindes werden nicht nur innerhalb einer Partnerschaft die Weichen für den weiteren Lebens- und Karriereverlauf gestellt. Auch auf dem Arbeitsmarkt ist das Risiko der Frau, wegen der Geburt eines Kindes aus dem Beruf auszuscheiden, ein Handicap und Anlass für Diskriminierungen aller Art. Zudem haben Frauen bis zu ihrer Rente dadurch erwiesenermaßen hohe Opportunitätskosten.

Der Druck wird zunehmen

Natürlich werden sich diese Kosten und Risiken nicht allein deshalb vermeiden lassen, weil in Zukunft auch junge Männer zu dieser Risikogruppe gehören. Nach den aufgeregten Debatten der letzten Monate ist eher zu befürchten, dass der gesellschaftliche Druck, besonders von der Seite der Arbeitgeber, die Elternzeit für Väter in der Praxis erschweren wird. Dabei ist inzwischen hinreichend nachgewiesen, dass nachhaltige Familienpolitik, also die Kombination von unterstützender Infrastruktur, veränderter Elternzeit und familienfreundlicher Unternehmenskultur, das Wirtschaftswachstum fördert. Auch die betriebswirtschaftlichen Effekte familienfreundlicher Maßnahmen lassen sich mit einer Kosten-Nutzen-Analyse nachweisen. Dennoch werden noch Berge ideologischer Vorbehalte und traditioneller Geschlechterrollenklischees zu versetzen sein, ehe der bundesdeutsche Modernisierungsrückstand in den Köpfen aller Beteiligten – auch der Frauen – sowie die eklatanten Versäumnisse einer am Prinzip der Gleichberechtigung ausgerichteten Familienpolitik aufgeholt werden können.

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