Richtlinienkompetenz und Regierungstechnik



"How to get things done": Über diese zentrale Frage aller Politik hat sich Wilhelm Hennis so gründlich Gedanken gemacht wie kaum ein anderer Beobachter. Hennis ist der große alte Mann der deutschen Politikwissenschaft. Der 1923 geborene Gelehrte lebt als Emeritus in Freiburg im Breisgau. Seine scharfsinnigen Analysen auch früherer Jahre haben an Aktualität bis heute nichts verloren. Grund genug, einen Aufsatz aus dem Jahr 1964 auszugsweise in Erinnerung zu rufen, in dem Wilhelm Hennis den Bedingungen gelingender politischer Führung nachspürt

Die Kunst politischer Führung, ist das überhaupt ein möglicher Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung? Der Politischen Wissenschaft wird heute allgemein eingeräumt, dass Organisation und Funktionsweise politischer Institutionen und auch die Soziologie der politischen Willensbildung der wissenschaftlichen Analyse zugänglich ist. Aber auch das Handeln der leitenden Personen? Und wenn, wäre es dann nicht eher Aufgabe der Historiker? Wenn in Deutschland aus der Historikerzunft der Politischen Wissenschaft noch immer bedeutet wird, dass das, was sie betreibt, ja eigentlich vom Historiker seit eh und je geleistet würde, so muss man diesen Anspruch leider zurückweisen. Wäre er richtig, so müßten sich die Führungsprobleme der großen politischen Ämter ja auf der Grundlage von Darstellungen der Inhaber dieser Ämter entwickeln lassen. Aber in deutschen Biographien pflegt leider immer mehr von Ideen und Taten der Helden, weniger aber von ihrem Tun die Rede zu sein. Das politische Problem katexochen ist aber: "how to get things done".

Nicht der Inhalt der Richtlinien, also die Ziele der Politik, bereiten dem Staatsmann am meisten Kopfzerbrechen, sondern die Art ihrer Durchsetzung. Die aber ist Leistung und Ergebnis politischer Kunst, und von ihr handeln die englischen und amerikanischen Politikerbiographien mehr als von allem anderen. Grundstock jeder Bibliographie über das Amt des amerikanischen Präsidenten oder des englischen Premierministers geben daher immer die Biographien der Amtsinhaber ab. Es liegt nicht nur an der fehlenden Kontinuität der Ämter, dass das in Deutschland kaum möglich ist. Der Abstand des deutschen gelehrten Historikers zur praktischen Welt der Politik ist unvergleichlich größer als in Frankreich, England, Amerika, gibt es doch etwa unter den großen englischen Historikern nur wenige, die sich nicht in der Politik selbst umgesehen hätten. A. Schlesinger jr. hat kürzlich eindrucksvoll bezeugt, welch reiche Anregung er für den Fortgang seiner Roosevelt-Biographie durch die Mitarbeit im Kennedy-Team erfahren hat.

Wie wirkliche Anschauung der Politik für biographische Arbeit fruchtbar gemacht werden kann, zeigt das eigentlich einzige Beispiel bedeutender politikwissenschaftlicher Historiographie in den letzten Jahren bei uns in Deutschland, Theodor Eschenburgs Essays über die führenden Politiker der Weimarer Zeit. Eschenburg hat dabei besonders schön herausgearbeitet, wie für einen Politiker nichts wünschenswerter sein kann als eine gute Mitgift reicher Naturbegabung. "A free government is essentially a government by persuasion" (Bagehot). Das eigentliche Geschäft des Politikers ist es, andere Menschen zu einem bestimmten Tun zu veranlassen. Den Wähler bestimmen, an der erwünschten Stelle sein Kreuz einzuzeichnen; in Partei, Parlament und Bürokratie Zustimmung und Mitarbeit zu erreichen. Von niemandem wird diese Kunst in höherem Grade erwartet als von dem, der auf der höchsten Sprosse angelangt ist und von dort aus für eine ganze Nation die Richtlinien der Politik bestimmen soll, dem Regierungschef.1(...)

Wenn es hier in erster Linie um das Überzeugen und Beeinflussen geht, so kann der sich glücklich preisen, dem solches von Natur leicht gemacht wird. Der Mensch ist ein Wesen, das beeindruckt sein möchte. Eine imponierende Statur, einnehmendes Wesen, Leichtigkeit des Umgangs, auch heute noch höhere Abkunft, können auch sonst durchschnittlich begabten Menschen ihre Aufgabe wesentlich erleichtern. Theodore Roosevelt war kaum intelligenter als Wilson, Eden nicht dümmer als Macmillan; ihre so verschiedenen persönlichen Eigenschaften erklären zu einem guten Teil Glück und Unglück ihrer Politik. Über die Bedeutung rhetorischer Fähigkeiten für den Politiker braucht man kein Wort zu verlieren. In dem Bereich, mit dem wir uns hier beschäftigen, der Bestimmung der Richtlinien der Politik, deren eigentliche Adressaten ja ein ganz kleiner Kreis von Kabinettskollegen ist, werden andere, subtilere Fähigkeiten der mitmenschlichen Kommunikation erwartet: Witz, Humor, Schlagfertigkeit, die Fähigkeit zur auffangenden Anekdote, zum small talk, die Art des Sprechens, ein angenehm dialektgefärbter Tonfall - all das kann viel entscheidender sein. Wer beides kann, auf der Tribüne und im persönlichen Gespräch faszinieren (Churchill, Roosevelt), ist ein politischer Götterliebling. Jedenfalls können wir eins mit Sicherheit sagen: die Künste der Politik sind beobachtbar, folglich müssen sie auch darzustellen sein. Ganz im Umriß und nur auf das Thema bezogen, sei es (...) versucht.

Adressat der Richtlinien sind keine Untergebenen, die durch Anordnungen oder gar Befehle zu einem bestimmten Tun veranlasst werden können. Mögen sich die Ministerkollegen auch faktisch mit der Rolle von Gehilfen begnügen, so stehen sie doch in einer eigenen Verantwortung, nur durch Überzeugen und durch "Beeindrucken" kann man sie zur Mitarbeit bewegen. Die Möglichkeiten, sich dem Einfluss zu entziehen, ihn zu neutralisieren, gegebenenfalls dem Regierungschef selbst zuzusetzen, sind mannigfaltig. Dem Druckmittel der Entlassung durch den Regierungschef steht auf seiten der Minister die Drohung mit dem protestierenden Ausscheiden aus dem Kabinett und der eventuellen Fronde von Partei und Fraktion aus gegenüber. Nichts vermag ein Kabinettsmitglied stärker an den Regierungschef zu binden als das Gefühl, einem Mann mit Fortune zu dienen. Ein Regierungschef, mit dem niemand zusammenarbeiten will, hat das Spiel verloren. Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit, sprich zur Akzeptierung der Richtlinien, wird umso stärker sein, je mehr der Regierungschef ihm bieten kann, sei es Unterstützung der für richtig angesehenen Ressortpolitik, Deckung gegen Angriffe der Opposition oder aus dem eigenen Lager, vor allem Hoffnung auf weiteres Avancement. Die Erwartungen, Hoffnungen, Ängste der Minister sind das stärkste Unterpfand der Vormachtstellung des Regierungschefs.

Im gleichen Augenblick, wo der Kanzler es nicht mehr vermag, seine Mitarbeiter davon zu überzeugen, dass die von ihnen erwartete Handlung auch in ihrem eigenen Interesse liegt, wird er auf Schwierigkeiten stoßen. Kraft des Arguments, persönliche Autorität, menschlicher Charme sind von großem Nutzen, aber doch Bei- und Rankenwerk im Verhältnis zu jenem großen Beweger aller Politik, der Patronage.2 Hat ein Regierungsmitglied einmal die Überzeugung gewonnen, dass es nicht der Bundeskanzler ist, der sein politisches Geschick entscheidend in der Hand hat, sondern Parteivorsitzende, Fraktionschefs, die Vorsitzenden von Koalitionsausschüssen etc., so wird die Einflußchance schwinden. Das Verhältnis des Regierungschefs in einer Koalitionsregierung zu jenen Mitgliedern des Kabinetts, die einer anderen Partei angehören, ist deshalb so prekär, weil ihr entscheidender Patron nicht der Regierungschef, sondern die Fraktion ist. Wer das nicht erkennt, kann sich zwar für eine Weile an die Rockschöße des Kanzlers hängen (...), aber nach der nächsten Wahl ist das Spiel vorbei. Man kann dann von Glück sagen, wenn man eine Fahrkarte nach Brüssel oder Luxemburg bekommt.

Minister sind keine Schuljungen

Noch einmal: Minister sind keine Untergebenen. Das Verhältnis zwischen Regierungschef und Mitarbeitern ist ein viel zu subtiles, als dass ein wohlberatener Regierungschef es je durch Befehle, Anordnungen oder das markige Verkünden von Richtlinien belasten würde. Unsere Vorschrift im Artikel 65 des Grundgesetzes umschreibt einen höchst komplizierten Sachverhalt. Wenn dort steht, der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik, so ist damit nicht gesagt, dass jemals ein Kanzler einen Wunsch bekanntgeben wird, um dann hinzuzufügen: "Gemäß Art. 65 GG erhebe ich dies zur Richtlinie der Politik." Man darf sicher sein, die selbstsicheren Herren im Kabinettssaal würde das nicht sonderlich beeindrucken. Es wird verlässlich berichtet, Bundeskanzler Adenauer habe in seiner 14-jährigen Amtszeit nur ein einziges Mal diesen Begriff in einem Rundschreiben an die Minister gebraucht, vermutlich in einer Situation, in der es ihm schwerfiel, sich durchzusetzen. Beim Richtlinienbestimmen geht es nie um ein Befehlen, nicht einmal ein Anordnen, sondern um ein "auffordern zu", "bitten", "einladen". Man "weist auf etwas hin", "bringt in Erinnerung", "verweist auf frühere gemeinsame Beschlüsse", "bittet um Berücksichtigung" etc. etc. Es anders zu halten, wäre schlechter Stil. Minister sind keine Schuljungen, sie möchten vor allem nicht vor versammelter Klasse gerügt werden. Macht ein einzelner oder eine Gruppe von Ministern Schwierigkeiten, häufen sich die "Mißverständnisse", so wird man immer versuchen, diese in gesonderten Besprechungen auszuräumen. Die von der Geschäftsordnung der Bundesregierung anerkannten Minis- terbesprechungen (§17 II GOBReg.) sind dafür der geeignete Ort, auch ein telefonischer Anruf mag genügen. Wenn nicht, so lädt man ins Palais Schaumburg zum "Herrenessen".

Popularität ist längst nicht alles

Zweitens nun wird ein Regierungschef es um so leichter haben, sich durchzusetzen, je größer sein öffentliches Ansehen ist. Ich wähle diesen vagen Begriff und nicht den präzisen der Autorität, denn es handelt sich in der Tat um etwas höchst Vages: das öffentliche Zutrauen, dass er imstande sei, to get things done. Dabei sondert sich dieses öffentliche Prestige in zwei Ebenen, die fast kommunikationslos nebeneinander liegen.3 Einmal das Volk, die breiten Massen der Wähler, und als Folge des hier genossenen Prestiges die Wahlchancen, die man einem Regierungschef einräumt. Die mögen ungeheuer sein, so groß, dass man dem Amtsinhaber das Epitheton Volkskanzler beilegt. Aber das kann in schneidendem Widerspruch stehen zum Ansehen, das der gleiche Mann bei den Professionellen der Politik besitzt, d.h. den Abgeordneten, den Verbandspolitikern, der hohen Bürokratie, den nüchtern beobachtenden Journalisten.

Wie problematisch das Auseinandertreten des Ansehens in diesen zwei Schichten sein kann, hat der Fall Eisenhower klassisch belegt. Bei denjenigen, die imstande waren, ihn unter dem Aspekt seiner regierungstechnischen Tüchtigkeit zu beurteilen, war er schon lange als nicht sonderlich begabter Präsident erkannt, als die Demoskopen ihm noch phantastische Popularitätskurven bestätigten. So schön und gewiss auch wichtig es ist, wiedergewählt zu werden, für die tägliche Arbeit der Richtlinienbestimmung und Durchsetzung ist die Anerkennung der Professionellen ein soliderer Besitz. Dieses Prestige ist außerdem von größerer Dauer. Wer sich im schwierigen Geschäft der Politik auskennt, wird Verständnis dafür haben, dass auch einmal etwas schief gehen kann. Pannen sind unvermeidlich.

Dass Bundeskanzler Adenauer in so virtuoser Weise, wie man es nennt, mit dem Pluralismus, mit den Kräften des status quo hat regieren können, verdankt er nicht zuletzt dem technischen Prestige, das er in diesen Kreisen besaß. Da man wusste, was man an ihm hatte, hat man ihm auch in schlechten Stunden die Treue gehalten. Das Volk ist ein viel launischerer Partner, das wenigstens kann man den Demoskopen mit Sicherheit abnehmen. Es kann seine Gunst um lächerlicher Äußerlichkeiten willen entziehen. Hunde zieht man nicht an den Ohren. Wer in der Demokratie des allgemeinen gleichen Wahlrechts Erfolg haben will, einer Demokratie, die zugleich Verwaltungs-, Verbände- und technischer Großstaat ist, wird sich sowohl mit dem einen wie mit dem anderen Publikum gut stellen müssen, und bei dem der Professionellen zählt Leistung und nichts als das. Die Professionellen mögen einem führungstechnisch unbegabten Kanzler Folge leisten, solange er als Wahlmaschine unentbehrlich ist. Hat man Anlass, an seinem Wert auch in dieser Hinsicht zu zweifeln, wird die Schar der Getreuen dahinschmelzen. Bevor man das als Treu- und Charakterlosigkeit bezeichnet, wäre erst manches zu bedenken. Die moderne Industriegesellschaft ist ein viel zu anfälliger, sensibler Organismus, als dass sie Mängel der politischen Lenkung und Führung noch in dem Maße ertragen könnte, wie sie für die älteren politischen Ordnungen bis in unser Jahrhundert hinein gang und gäbe waren.

Da war Treue kein leerer Wahn, der Unwürdigste konnte sie für sich in Anspruch nehmen; man wurstelte sich dann mit ihm durch, "mag sich das Blatt auch wenden". Anders im modernen Staat mit seinen so intensivierten Lenkungs- und Koordinationsanforderungen. Er kann sich keinen Moment "gehen lassen", so wenig wie ein moderner Industriebetrieb, in dem sich Mängel des Managements sofort aufdringlich und existenzgefährdend bemerkbar machen. Es gehört noch heute zu den nicht geringsten Vorzügen des parlamentarischen Regierungssystems, dass es im Gegensatz zur Regierung auf Zeit jederzeit die Auswechslung der obersten politischen Führung gestattet. Man stelle sich vor, Neville Chamberlain wäre zur gleichen Zeit wie Roosevelt im Herbst 1939 für eine feste Amtszeit von fünf Jahren zum Premierminister gewählt worden mit Lord Halifax als Vizepremier und präsumtiven Nachfolger im Falle seines Todes. Jedes moderne, demokratische System bedarf des einen, die Dinge ordnenden, zusammenfassenden Mannes. Vermag der eine es nicht, so sammeln sich die politischen Kräfte auf einen neuen Magneten hin. Jedenfalls sollte das so sein, jedenfalls ist es in funktionierenden demokratischen Parteien so. Mit Autoritätshörigkeit hat das alles nichts zu tun. Richtlinienbestimmung, politische Führung muss sein. "Her Majesty′s Government must be carried on."4

Das Ansehen, das ein Kanzler besitzt, ist also eine der wichtigsten Bedingungen effektiver Richtlinienbestimmung. Es ist schlecht für eine Weltmacht, als Papiertiger eingeschätzt zu werden; als Gummilöwe verdächtigt zu werden, ist für einen Regierungschef nicht nur wenig schmeichelhaft, sondern vor allem arbeitserschwerend. Adenauers Bild war in dieser Hinsicht makellos. Ihm traute man alles zu.

Wer zu viel delegiert, verliert die Macht

Drittens das Problem der Delegation. Kein Regierungschef kann alles allein machen, er bedarf der Helfer. Die Frage ist nur, welche Position er den Gehilfen einräumt. Die von Helfern, oder die von Stellvertretern. Auch hier ist die Präsidentschaft Eisenhowers ein bedenkenswertes Beispiel. Eisenhower hat seinem Stabschef Sherman Adams eine solche Fülle eigener Macht übertragen, dass schließlich nicht mehr er, sondern Adams um die Entscheidung der wichtigsten Fragen gebeten wurde. Adams hat einmal bekannt, er habe seine Ehre darein gesetzt, jeden Tag dem Präsidenten eine neue Arbeit abzunehmen. Ein Tag sei zu nichts nütze gewesen, wenn ihm das nicht geglückt sei. Adams war ein vollkommen loyaler Mann ohne eigenen politischen Ehrgeiz. Trotzdem hat diese Praxis nicht verhindert, dass Eisenhower zum schwächsten der Nachkriegspräsidenten Amerikas wurde. Um nichts in der Welt darf der Mann an der Spitze die Delegation so weit treiben, dass dadurch seine Macht gemindert wird. In Abwandlung einer bekannten Formel kann man für die Binnenverhältnisse in der Exekutive formulieren: souverän ist, die Richtlinien bestimmt, wer den Streitfall entscheidet. Um sich diese Souveränität zu bewahren, gehörte es zu den regierungstechnischen Kunstkniffen F. D. Roosevelts, klare Kompetenzzuweisungen zu vermeiden, so dass ständig die Notwendigkeit entstand, ihn als obersten Schlichter anzurufen.

Die entscheidenden Fragen müssen auf den Schreibtisch des Chefs selbst kommen. Es ist vollkommen weltfremd und zeugt von geringer Kenntnis bürokratischer Prozesse zu glauben, man könne die wirkliche Macht in den Händen behalten, wenn man sich auf die alleroberste Lenkung beschränkt. Wer die Mühe des Aktenstudiums scheut und verlangt, dass nur die wesentlichen Dinge an ihn herankommen, der überlässt die Entscheidung darüber, was wesentlich ist, eben anderen. Man kann mit Sicherheit sagen, dass dem Vorgänger von Minister Westrick im Bundeskanzleramt eine solche Position nie eingeräumt worden ist. Aber es ist bekannt, wie der gegenwärtige Bundeskanzler (Ludwig Erhard) als Wirtschaftsminister verwaltet hat: mit einem kleinen Stab von Vertrauten, abgeschottet gegen das Riesenheer der übrigen Abteilungsleiter und Referenten. In einem Ressort, das nur wenig eigene Verwaltungsaufgaben hat, mag das hingehen. Für den Bundeskanzler ist es eine sich wenig empfehlende Praxis. Zu den elementaren Bedingungen des Bestimmens der Richtlinien würde ich also rechnen die Offenhaltung des Entscheidungszugriffs nach unten und zur Seite. Man kann sich mit einem Schwarm von Beratern, Gedankenproduzenten, braintrusts etc. umgeben, wie es Roosevelt und Kennedy getan haben, aber um Macht zu delegieren, ist das Amt zu verantwortungsvoll.5

Ohne Information ist alles nichts

Viertens: die wichtigste aller Bedingungen des Richtlinienbestimmens ist die Information. Aus Information und nur aus Information entstehen Richtlinien. Richtige Politiker, die von den Quellen ihrer Information durch Verlust des Amtes abgeschnitten sind, fühlen sich wie gelähmt. Sie können sich nicht mehr orientieren und wagen darum auch kaum noch entschiedene Stellungnahme. (...) Ob man aber informiert ist, das hängt wesentlich mit der zuvor genannten Delegationspraxis zusammen. Ob eine Information wichtig oder unwichtig ist, das zu entscheiden darf man sich unter gar keinen Umständen abnehmen lassen. Um eine Richtung weisen zu können, muss man orientiert sein. Orientierung aber setzt Information voraus. Regierungstechnisch begabte Politiker entwickeln ihre höchste Kunst gerade auf diesem Gebiet der Informationsbeschaffung. Churchill und Roosevelt haben beide auf diesem Gebiet geradezu geniale Fähigkeiten entwickelt. Auch Adenauer, unterstützt von Dr. Globke, scheint es zu hoher Meisterschaft gebracht zu haben.

Das Informiertsein ist in hohem Grade von persönlichen Eigenschaften abhängig. Intellektuelle Neugier, Freude am menschlichen Umgang, Geselligkeit, ein großer Bekanntenkreis, ja auch eine große bedeutende Familie mit vielen Querverbindungen in andere gesellschaftliche Bereiche, die Fähigkeit zur Freundschaft, all das sind unschätzbare Quellen der Information. Eine gesellschaftlich begabte Frau wie Eleanor Roosevelt ersetzte ein ganzes Presseamt. Wer sich auf dem Gebiet der Information auf den Dienstweg verläßt, sollte den Beruf des Politikers quittieren. Mit Bedrückung hört man, dass ein Regierungschef im Umgang mit dem Telefon Hemmungen hat.

Wer hat was über wen gesagt?

Ich wage nicht zu sagen, wie die Kubakrise ausgegangen wäre, wenn Kennedy sich nicht aufs Telefonieren verstanden hätte. Die Meisterschaft Johnsons in der Bedienung dieses Instruments ist bekannt. Wie soll man die täglich notwendigen Kontakte aufrechterhalten, hier zusprechen, dort ermuntern, da warnen, hier ein persönliches Wort der Anteilnahme anbringen, wenn man Scheu vor dem Telefon hat. Gewiss können Politiker zu Sklaven ihrer Information werden. Vor allem das so genannte nachrichtendienstliche Material wird gewiss oft überschätzt; aber unentbehrlich und gar nicht hoch genug einzuschätzen ist die Information des leitenden Politikers in Personalfragen. Man muss wissen, wer gut mit wem kann, wer was über wen gesagt hat. (...)


Aus Information und allein aus Information schließlich resultiert die vielleicht wichtigste Bedingung des erfolgreichen Regierens, das Bewusstsein für den richtigen Zeitpunkt. Man hat immer wieder gesagt, für einen Politiker sei nichts wichtiger als Menschenkenntnis. Ich meine im Grunde das gleiche, nur in eine größere Dimension gehoben, wenn ich als das Wichtigste die Zeitkenntnis bezeichnen möchte oder einfacher: wissen wann - oder ganz anspruchsvoll: kairos. Sich gegen den Strom der Zeit stemmen ist in bestimmten weltgeschichtlichen Situationen sicher höchst verdienstlich, als tägliches Brot für einen Politiker jedoch kaum empfehlenswert. Politische Ziele haben es an sich, heute mehr, morgen weniger leicht erreichbar zu sein. Richtlinien setzen heißt im wesentlichen Gelegenheiten vorbereiten, um sie im richtigen Moment beim Schopf zu fassen. Ein klassisches Beispiel: Roosevelts Vorbereitung des Kriegseintritts oder sein blitzschnelles Ergreifen der Chance, umfassendste wirtschafts- und sozialpolitische Reformmaßnahmen schon während der ersten hundert Tage seines Amtsantritts einzuleiten. In der damaligen Situation hätte ihm die Nation und der Kongress alles bewilligt, und er nahm, was er kriegen konnte. Adenauers Entrieren der deutschen Wiederbewaffnung war, wie immer man darüber denken mag, ein Beispiel großer politischer Kunst. Auch de Gaulles taktische Meisterschaft erweist sich im wesentlichen als die Fähigkeit, Situationen vorzubereiten, um sich dann zu ihrem Herrn zu machen. Ein Politiker muss imstande sein, die Phantasie zu beschäftigen, Hoffnungen zu wecken, um dann im richtigen Moment das von allen Erwartete zu tun. (...)

Damit wir vernünftig leben können

Gegenstand der Politischen Wissenschaft ist die gute Ordnung des Gemeinwesens. Diese ist die Resultante von sinnreichen Institutionen, Verfahrens- und Verhaltensweisen, innerer und äußerer Lage, geistiger und sozialer Verfassung. Ist es der Wissenschaft erlaubt, mit ihrem Urteil zu Tag und Stunde hervorzutreten? Gewiß dann, wenn sie ihre Prämissen deutlich macht. Die Politische Wissenschaft will nicht nur wissen, um zu wissen, sondern sie will wissen, damit wir ein vernünftiges Leben führen können. Wir haben Amtsauftrag und Amtskompetenz des Bundeskanzlers geschildert, auf einige der Bedingungen erfolgreicher Richtlinienbestimmung verwiesen. Ein Schluss muss erlaubt sein.

Der Wechsel im obersten Führungsamt der Bundesrepublik (von Adenauer zu Erhard) hat jedermann deutlich gemacht, wie stark die lebende Verfassung eines Gemeinwesens von den leitenden Personen geprägt werden kann. Die politische Ordnung eines Gemeinwesens ist nicht nur das Epiphänomen kollektiver gesellschaftlicher Kräfte; eine Verfassungsordnung kein lebloses Marionettentheater, in dem nur an juristischen Fäden gezogen wird. Wie stark auch immer die Kraft objektiver Bedingungen sein mag, ein Amt und eine Kompetenz bleiben immer das, was ein lebender Mensch daraus macht. (...)

Die Torheit des cäsaristischen Populismus

Um Ideen in Bewegung umzusetzen, bedarf es im Bereich der Staatsleitung der Institutionen. (...) Richtlinien der Politik, die verbal bleiben, sind für jeden Kanzler billig zu haben. Ein phantasievoller Mann kann sie am laufenden Band produzieren. Wir würden es zu den nicht geringsten der Vorzüge einer freiheitlichen Demokratie zählen, dass in ihr von der Verkündung der Richtlinien der Politik durch den Mund des Kanzlers bis zu ihrer endlichen Ausführung ein gewisser Weg zu gehen ist. Wir möchten den vom Kanzler so genannten "Hick-Hack" nicht missen. In der freiheitlichen Demokratie ist der Consensus keine feste Größe, sondern etwas allzumal Herzustellendes. Das geht nicht ohne Streit, Kampf, unendliche Mühen. Was der Kanzler (Erhard) als "Interessentenklüngel", "Lobbyisten" und "Funktionäre" bezeichnet, hat dabei eine unverzichtbare und vollkommen legitime Mittlerstellung. Wer sie beschimpft, beschimpft das Volk, das ohne sie nicht mehr zu denken ist, viel weniger zu regieren. Eine unmittelbare, kurzgeschaltete, verpflichtende Beziehung von Volk und Regierung ist unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft nur noch in exzeptionellsten Situationen zu haben. Keiner sollte sie uns wünschen.

Die Forderung, die an den Regierungschef eines modernen Großstaates gestellt wird, verlangt schier übermenschliche Kraft. Nicht der geringste Teil der Aufmerksamkeit des führenden Politikers muss nicht allein seiner Politik, sondern ihren Bedingungen gelten, nicht zuletzt der Erhaltung der eigenen Macht. Diese Aufgabe ist so heikel, in einer freiheitlichen, parteienstaatlichen Demokratie mit ihren divergieren den pluralistischen Kräften so diffizil, dass sich schon wieder Stimmen melden, die glauben, ein leichteres Rezept anbieten zu können. In einer Analyse des ersten Jahres der Regierung Erhard hat Johannes Groß dem Kanzler empfohlen, mit dem Versuch aufzuhören, nach dem Vorbild Adenauers mit Hilfe der pluralistischen Kräfte zu regieren. Er hat ausgesprochen, was viele - vielleicht der Kanzler selber - denken. Vielmehr solle er Parteien und Verbände, die so genannten Mächte des Pluralismus in ihre Schranken weisen. Er müsse sich entscheiden, mit den pluralistischen Kräften zu taktieren und paktieren oder aber: sie sich vermittels eines persönlichen Dauerplebiszits zu unterwerfen. Das Plebiszit, mit dem er sich cäsaristisch die Innenpolitik unterwerfen könne, sei das Instrument, mit dem er allein regieren könnte. Welch verantwortungsloser, törichter Rat! Alles, aber auch alles fehlt dem Bundeskanzler, um das Beispiel de Gaulles nachahmen zu können. Er hat kein vergleichbares historisches Verdienst, unsere Parteienverhältnisse sind nicht so, dass sie es verdienten, zerstört zu werden, vor ihm liegt kein geschichtlicher Auftrag, den nur er erfüllen könnte. Für die deutsche Teilung gibt es keine Algerienlösung. Bundeskanzler Erhard und sicher auch sein Nachfolger werden so regieren müssen, wie die freiheitliche Demokratie und unser Grundgesetz es verlangen. Ihr so gut ausgestattetes Recht, die Richtlinien der Politik zu bestimmen, sollte es ihnen nicht allzu schwer machen. Allerdings, dieses Recht gilt nur mit Wenn und Aber.


Anmerkungen

1 "Der Politiker" - Aufgabe, geforderte Qualitäten, "Berufsbild" - ist ein gleichfalls brachliegendes Thema der deutschen politischen Wissenschaft. Die wesentlichen Ansätze kommen wieder von Eschenburg; neben den Porträtskizzen der Weimarer Politiker (Die improvisierte Demokratie, München 1963) vor allem Der Sold des Politikers, Stuttgart 1960. Vgl. auch Staat und Gesellschaft, 219 ff., 514 ff. Mit Eschenburgs Porträtskizzen vergleichbar J. M. Keynes, Essays in Biography, London 1933; J. A. Salter, Personality in Politics, London 1947 und R. H. S. Crossman, The Charm of Politics, London 1958. Mit dem Auszählen soziologischer "Eigenschaftsmerkmale" nach Parlamentshandbüchern ist dem Problem jedenfalls nicht beizukommen.
2 Zur Patronage vgl. Eschenburg, Ämterpatronage, Stuttgart 1961 und die materialreiche Besprechung von Fr. Lenz, in: ZfP 1963, 369 ff. Für Amerika Richard E. Neustadt, On Patronage, Power and Politics, in: Publ. Admin. Review 15 (1955) 108 ff. Für England jetzt umfassend - auch historisch - Peter G. Richards, Patronage in British Government, London 1963.
3 Über die Bedeutung des Prestiges und die Problematik des "doppelten Bodens" ausgezeichnet am Beispiel Eisenhowers Richard E. Neustadt, Presidential Power: The Politics of Leadership, New York 1962 - ein auch sonst sehr anregendes Buch, dem unser Text manches verdankt.
4 Der Prozess der Auswechslung der obersten politischen Führung wird dramatisch geschildert von Randolph Churchill, The Fight for the Tory Leadership, London 1964, wobei es für die Sache gleichgültig ist, ob alle Fakten stimmen. Vgl. auch sein früheres Buch The Rise and Fall of Sir Anthony Eden, London 1959. Reich an Hinweisen zum Problem auch R. T. McKenzie, British Political Parties, London 1955, 21 ff., 335 ff.
5 Zur Problematik der Machtdelegation ist die Ära Eisenhower das interessanteste neuere Anschauungsobjekt. Vgl. Neustadt, a.a.O., passim; Marian D. Irish, The Organization Man in the Presidency, in: The Journal of Politics 20 (1958) 259ff.; L. G. Seligman, Presidential Leadership, ebd. 18 (1956); R. H. Pear, American Presidency under Eisenhower, Political Quarterly 20 (1957) und R. J. Donovan, Eisenhower: The Inside Story, New York 1956. Ferner die Memoiren von Sherman Adams, Firsthand Report, New York 1961. Zur Regierungstechnik Kennedys vgl. demgegenüber u.a. Theodore C. Sorensen, Decision Making in the White House, New York 19642, Zur Ernennung von Staatssekretär Westrick zum Bundesminister vgl. Eschenburg, Die Fehlkonstruktion im Kanzleramt, in: Die Zeit vom 26. 6.1964.

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