Republiken sind lernende Systeme - Parteien auch?

Es ist ziemlich lange her, dass Sozialdemokraten und Liberale in Deutschland einen gemeinsamen Fluchtpunkt des Fortschritts finden konnten. Dabei gibt es doch auch heute unabweisbare Gemeinsamkeiten bei zentralen Zukunftsfragen. Wo ist die progressive Linke, die diese Herausforderungen aufgreift?

Ich bin 1982 geboren. Berliner Republik und Bundesrepublik, das ist für mich dasselbe. Nur bleibt die Republik nie dieselbe, denn offene Systeme lassen Wandel zu, das ist das Geheimnis ihrer Dauerhaftigkeit. In den neunziger Jahren diskutierte die Republik über damals Unvorstellbares, über die Privatisierung der Post, die Aufgabe der D-Mark oder deutsche Soldaten im Ausland. Ebenso unvorstellbar wie real waren damals aber auch aufgeregte Diskussionen über E-Mail, Baggy-Pants oder Tutti Frutti. Mit anderen Worten: Gesellschaftliche und politische Diskurse lassen sich glücklicherweise nur teilweise steuern, und was wirklich wichtig ist, weiß man häufig erst danach. Das nimmt den Inhalten nichts von ihrer Bedeutung, zeigt aber, dass nicht nur die Themen wichtig sind, sondern auch die Fähigkeit, mit ihnen umzugehen, sie aufzunehmen.

Inzwischen hat die Berliner Republik ihre Teenagerzeit hinter sich gelassen und es scheint klarer, welche Themen ihren Eintritt ins Erwachsenenalter begleiten. Erneuerungen scheinen bedeutsamer als Neuheiten. In der Außenpolitik will niemand Ernstzunehmendes aus der EU oder der Nato austreten, dennoch brauchte die EU den Lissaboner Vertrag, und die Nato braucht ein neues strategisches Konzept. Und in der Innenpolitik will niemand Ernstzunehmendes den Sozialstaat verabschieden, das Gesundheitssystem demolieren oder die Flat-Tax einführen. Dennoch muss Deutschland auch hier reagieren. Nicht weil irgendetwas nicht mehr gebraucht würde, sondern gerade weil ein funktionierender Sozialstaat, ein leistungsfähiges Gesundheits- und ein gerechtes Steuersystem die Lebenselixiere unserer Republik sind.

Dazu ist nichts anderes nötig als progressive Kritik. Nur, wer übt sie? Es sind offensichtliche Fragen, die nötige Entwicklungen befeuern könnten: Wo gibt es die größte Verschwendung öffentlicher Gelder? Warum zementiert unser Sozialstaat Strukturen, die er auflockern sollte? Warum geben die Vereinigten Staaten mehr Geld für Bildung aus als wir? Warum muss ein Steuersystem grotesk unverständlich sein? Es gibt eine Reihe weiterer drängender Fragen, wobei natürlich jeder andere Schwerpunkte setzt. Es geht an dieser Stelle auch nicht um ein inhaltliches Argument, sondern um das politische Grundverständnis. Wie gesagt, Republiken sind offene Systeme, sie leben von Veränderung. Die Frage ist bloß, ob man sich verängstigt von den Verhältnissen treiben lässt, oder ob man sie mutig gestalten will.

Zuversicht und Angst haben auch den Ausgang der letzten Bundestagswahl bestimmt. Schwarz-Gelb, vor allem Letzteres, so verbreiteten die jetzigen Oppositionsparteien unisono, sei zum Fürchten. Dergleichen Panik grassierte unter den Deutschen jedoch weit weniger als vermutet. War man etwa, vor allem in der SPD, der Versuchung erlegen, die eigene Wahrnehmung mit der allgemeinen zu verwechseln? War das jämmerliche Scheitern der jämmerlichen Kampagne zur Europawahl niemandem im Willy-Brandt-Haus aufgefallen? Sollte es nicht zu denken geben, wenn die eigene Geschlossenheit hauptsächlich von den Ressentiments abhängt, mit denen man sich seine Feindbilder malt? Überraschung! Es gibt jenseits des Parteienwettbewerbs Themen, die die Bürger interessieren: Arbeitslosigkeit, Wirtschaft und Steuern sowie Bildung – diese Themen gaben in dieser Reihenfolge bei der Wahlentscheidung den Ausschlag. Andere Themen wie beispielsweise die richtige Balance zwischen Freiheit und Sicherheit in Zeiten zunehmender Bürgerrechtseinschränkungen kamen natürlich hinzu. Die Wahlsieger haben vor allem gewonnen, weil sie der Verlustangst mit konzeptionsbasiertem Optimismus begegneten, anstatt in einen pessimistischen Krisenchor einzustimmen.

Wo SPD und FDP Gemeinsamkeiten haben

Leider ist es – zumindest aus liberaler Perspektive – lange, ziemlich lange her, dass Sozialdemokraten und Liberale einen gemeinsamen Fluchtpunkt des Fortschritts hätten finden können. Als Jahrgang 1982 kenne ich das persönlich nur als Geschichte. Dabei gibt es doch unabweisbare Gemeinsamkeiten bei zentralen Zukunftsfragen, zum Beispiel bei der drängenden Frage nach – überfälliger! – echter Chancengerechtigkeit. Inzwischen fragt man sich jedoch, ob die SPD manchmal heimlich zur Gruppe der anonymen Nostalgiker schleicht und sich in die Zeiten zurückträumt, als sich das schöne Haus des Sozialstaats immer weiter ausbauen ließ. Barrierefreies Wohnen verlangt heute aber nicht mehr Aus-, sondern Umbau. Letzterer ist ohnehin nötig, weil sich in der Familienstruktur einiges ändert. Wer aber Tatsachen wie dem demografischen Wandel mit der Utopie des Status quo beikommen will, wird von der Realität überholt. Bei allem Respekt vor Erhard Eppler, aber sollte man auf einem Wiederauferstehungsparteitag, wie ihn sich die SPD Mitte November verordnet hatte, wirklich einen 82-Jährigen als einzigen Vordenker feiern? Oder noch kürzer: August Bebel war ein kreativer Denker, die Jusos fordern die Vermögenssteuer.

Während die SPD im Zeitalter der Globalisierung also nach einem zweiten Godesberg sucht, ist die FDP schon lange im Berlin des 21. Jahrhunderts angekommen. Ein Blick auf die Wahlentscheidung der unter 30-Jährigen zeigt ein klares Bild. Für wen Zukunft etwas ist, was er vor allem noch vor sich hat, der fühlt sich immer weniger von den ehemaligen Volksparteien vertreten. Für wen Lebenschancen kein politästhetisches Diskussionssujet sind, das angenehm an die eigene Studienzeit in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erinnert, sondern für wen sie tatsächlich wichtig sind, der setzt sein Kreuz immer häufiger woanders. Die stärkste Wählerwanderung der Jungen ging in Richtung FDP.

Die SPD sollte sich nicht in der Schmollecke einrichten

Klar, „alles Fehlgeleitete“, so grummelt es in der Schmollecke. Das ist aber genau die unfruchtbare Trotzhaltung, die während bundespolitischer Regierungszeiten der SPD mit schöner Regelmäßigkeit neue Parteien produziert. Konzeptionelle Dynamik, politische Anpassungs- und Gestaltungsfähigkeit sehen anders aus. So wie Republiken lernende Systeme sind, sollten es auch Parteien sein. An der aktuellen Fähigkeit der FDP, die Themen der Republik aufzunehmen, habe ich keine Zweifel – an der Fähigkeit von anderen schon. Auch weil die aktuellen Regierungskoalition, anders als vielfach behauptet, keine Liebesheirat ist, sollte sich die SPD nicht allzu sehr in der Schmollecke einrichten. Den Liberalen geht es um nichts anderes als um liberale Inhalte. Momentan lassen sich diese am besten mit der Union in die Tat umsetzen. In der Bonner Republik gab es auch mal eine progressive Linke.«





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