Renaissance der Städte?



Die wirtschaftliche und soziale Krise der vergangenen drei Jahrzehnte hat sich in Westdeutschland vor allem in den großen Städten gezeigt. Während in den ländlichen und suburbanen Gebieten die Zahl der Arbeitsplätze sowie der Wohlstand wuchsen, verloren die Großstädte an wirtschaftlichem Gewicht. Die Entwicklung der Städte in Ostdeutschland hingegen unterlag vor und nach 1989 besonderen Bedingungen, die diese Tendenzen überlagerten.

Vor allem die Folgen des rapiden Bevölkerungsverlusts durch Abwanderung, die sich zu einer Abwärtsspirale verdichten können, werden die Entwicklungsperspektiven vieler ostdeutscher Städte noch für lange Zeit bestimmen. Aber auch für Leipzig und Dresden gilt, was die meisten westdeutschen Städte seit einigen Jahren erleben: eine Renaissance der Stadt.

In den siebziger Jahren war die Arbeitslosigkeit in den Großstädten zum ersten Mal seit Beginn der Industrialisierung höher als auf dem Land, vor allem der hohe Anteil der Dauerarbeitslosigkeit verwies auf tiefgreifende strukturelle Probleme. Die Ursache war der Abbau von Arbeitsplätzen in der industriellen Produktion, von dem bis heute besonders Einwanderer betroffen sind, die ja während des Nachkriegsbooms als „Gastarbeiter“ für genau diese Arbeitsplätze angeworben worden waren. Zwar nahm die Zahl der Arbeitsplätze in den Städten in dieser Zeit insgesamt zu, aber die Zuwächse wurden von der erhöhten Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt absorbiert, die wiederum durch den demografischen Wandel und die wachsende Erwerbstätigkeit von Frauen bedingt war. So wurden viele Arbeitskräfte, die aus der Industrie ausschieden, in die Arbeitslosigkeit abgedrängt, statt in den wachsenden Dienstleistungsbereichen Fuß zu fassen. Dafür waren – besonders bei den ehemaligen Gastarbeitern – Qualifikationsdefizite verantwortlich.

Der wachsende Anteil von Nicht-Erwerbstätigen zwang die Städte zu höheren Sozialausgaben. Da aber gleichzeitig aufgrund von Betriebsschließungen und Änderungen in der Steuergesetzgebung die Einnahmen der Städte zurückgingen, entstand eine chronische Finanznot, die Ausgabenkürzungen nach sich zog und den Abbau beziehungsweise die Privatisierung von Infrastruktureinrichtungen zur Folge hatte – eine Reaktion, die langfristig erhebliche Folgen für die Steuerungsfähigkeit der Stadtverwaltungen haben wird.

Dem Verlust von Fertigungs-Arbeitsplätzen stand ein Wachstum bei den Dienstleistungstätigkeiten gegenüber. Zusätzliche Beschäftigung entstand in Bereichen wie Beratung, Finanzierung, Versicherungen, EDV, Forschung und Entwicklung, Bildung und Gesundheit, Werbung und Medien. Gleichzeitig wuchs die Beschäftigung in unqualifizierten und gering entlohnten Dienstleistungssektoren wie Reinigung, Bewachung oder Gastronomie, aber auch „prekäre“ Formen der Beschäftigung nahmen zu.

Der höhere Anteil von Arbeitslosen sowie die größere Ungleichheit der Einkommen haben eine Tendenz zur sozialen Polarisierung befördert, die sich nach und nach auch in der sozialräumlichen Struktur der Städte niederschlägt. Während die gesellschaftliche Entwicklung im Laufe des 20. Jahrhunderts auf eine Integration auch der unteren Schichten in die „Mitte“ hinauszulaufen schien, zeigten sich in den Städten nun Konturen einer neuen Fragmentierung. Es schien, dass der „Integrationsmaschine Stadt“ die Energien ausgegangen seien.

Die wachsende Zahl armer Menschen wurde auf einem schrittweise liberalisierten Wohnungsmarkt in wenige Quartiere mit geringer Attraktivität gelenkt, in denen sich seither die sozialen Probleme konzentrieren. In vielen Fällen weisen diese Quartiere auch einen überdurchschnittlichen Anteil von Bewohnern „mit Migrationshintergrund“ auf. Die einheimischen Mittelschichten, aber auch die sozialen Aufsteiger aus den Einwanderermilieus zogen weg, wodurch sich die Segregation der sozial randständigen Bevölkerung noch verschärfte. Solche Prozesse einer Residualisierung von Stadtteilen mit einer hohen sozialen Problemdichte sind in allen großen Städten zu beobachten.

Die „Krise der Städte“ hatte ihre Ursachen in der Ökonomie und in der Bevölkerungsentwicklung. In ökonomischer Hinsicht waren es Verlagerungen und Rationalisierungen, die eine Deindustrialisierung bewirkten und zu einem weitgehenden Verschwinden der industriellen Fertigungstätigkeit in den Städten führte; in demografischer Hinsicht waren es die Suburbanisierung und in sozialer Hinsicht die wachsende Einkommensungleichheit und kulturelle Heterogenisierung, die zur sozialen Entmischung großstädtischer Quartiere beitrugen.

Mit der Verbreitung des Automobils und wachsender Kaufkraft setzte auch in deutschen Städten nach dem Zweiten Weltkrieg die massenhafte Abwanderung junger Familien mit überdurchschnittlichen Einkommen ins Umland ein. Die Mobilität von der Kernstadt ins Umland war sozial selektiv. Denn die „Besserverdienenden“ verließen die Städte, wo die „A-Gruppen“ zurückblieben: Arme, Arbeitslose und Ausländer.

Erleben wir das Ende der Suburbanisierung?

Seit Mitte der neunziger Jahre jedoch zeichnet sich ein Gegentrend ab, der als „Renaissance der Stadt“ bezeichnet werden kann. Anzeichen dafür sind die Wiederkehr des Wachstums von Arbeitsplätzen in den Städten und die Abnahme der Abwanderungen ins Umland. Erleben wir das Ende der Suburbanisierung? Und stehen die Städte am Beginn einer neuen Periode ökonomischen Wachstums und gesellschaftlicher Integration? Wirtschaftliche Trends und Bevölkerungsbewegungen sprechen tatsächlich dafür. Die lange Periode des Gewichtsverlustes der Städte als Ort wirtschaftlicher Aktivitäten und als Lebensraum für eine wachsende Zahl von Menschen scheint sich ihrem Ende zu nähern. Der wirtschaftliche Wandel wirkt wieder zugunsten der Städte, und das Umland verliert seine Attraktivität für die jungen Familien.

Städte lassen sich heute nur als stadtregionale Verflechtungszusammenhänge mit einander vielfältig überlagernden Netzstrukturen und Raum-Zeit-Konfigurationen sinnvoll analysieren und zukunftsorientiert gestalten. Im Zusammenhang mit der gegenwärtig stattfindenden Neubewertung der Stadt zeichnet sich eine neue Arbeitsteilung zwischen Kernstadt und Umland ab, die den Städten wieder größere Chancen gibt. Diese resultieren aus Tendenzen einer Re-Urbanisierung.

Zur Verdeutlichung stellen wir – vereinfacht und zugespitzt – zwei polare Typen der Arbeits- und Lebensorganisation gegenüber. Ein Typus, der von dem städtischen Kontext weitgehend unabhängig ist, und ein anderer, der sowohl durch die Produktionsweise der Unternehmen als auch durch die Lebensweise der Beschäftigten in hohem Maße von der Möglichkeit einer Einbettung in urbane Kontexte abhängig ist.

Die mehr oder weniger routineorientierten und standardisierten Produktions- und Dienstleistungsfunktionen, so genannte „Normalbetriebe“, entgehen den räumlichen und funktionalen Problemen der Stadt, indem sie sich neue Standorte im städtischen Umland suchen, sofern sie nicht ins Ausland abwandern. Die fordistisch oder neofordistisch orientierten Betriebe, die es – trotz der abnehmenden Dominanz des Fordismus – noch lange geben wird, bevorzugen spezialisierte Gewerbegebiete und Technologieparks oder funktionsspezialisierte Zonen auf der „grünen Wiese“ wie Einkaufszentren oder Urban-Entertainment-Center.

In diesem routineorientierten Betriebstypus entspricht die Arbeitsorganisation – trotz zunehmender Erosions- und Deregulierungstendenzen – noch weitgehend dem „Normalarbeitsverhältnis“ (in der Regel männlicher „Haupternährer“ mit unbefristeter Vollzeitbeschäftigung). Die Lebensorganisation ist geprägt von einem suburbanen, kapitalintensiven Konsumstil. Als Wohnort, der in der Regel mit dem Arbeitsort nicht identisch ist, werden mit Vorliebe sozial homogene Wohnsiedlungen im Umland der Städte gewählt. Die bevorzugte Wohnweise ist das technisch aufgerüstete Eigenheim, von dem aus der komplexe Alltag der Familie mithilfe von Autos organisiert wird.

Das Gegenmodell bilden neue Formen der Kultur- und Wissensproduktion mit ihren „entgrenzten“ Organisationsformen und ihren komplexen, projektbezogenen Kooperationsbeziehungen. Diese konzentrieren sich sehr stark auf innerstädtische Quartiere mit vielfältigen urbanen Milieus. Je weniger die Unternehmen auf das Organisationsmodell eines Normalbetriebes und auf das Normalarbeitsverhältnis ausgerichtet sind, desto wichtiger werden für sie die spezifischen Qualitäten des urbanen Milieus. Da sie in ihrer betrieblichen Existenz auf eine Vielzahl von Kooperationsmöglichkeiten angewiesen sind und angesichts neuer Entwicklungen ständig wachsam sein müssen, bieten ihnen urbane Räume mit einer hohen ökonomischen, sozialen, kulturellen sowie baulich-räumlichen Vielfalt einen Zugewinn an Möglichkeiten.

Mit der Entwicklung neuer urbaner Organisationsformen der Wissens- und Kulturproduktion wird das tradierte Normalarbeitsverhältnis in vielfältige „bunte“ Arbeitsbeziehungen transformiert, die sich in einem Spannungsfeld zwischen prekären und autonomen Arbeitsbedingungen befinden. In dieser neuen urbanen Arbeitsgesellschaft verflüssigt sich die traditionelle Trennung von Arbeiten, Wohnen und Freizeit. Eine funktionale Durchdringung und enge Integration von beruflichem, sozialem und persönlichem Leben ist eines der wesentlichen Merkmale der Arbeits- und Lebensweise dieses neuen Beschäftigungstypus. Aufgrund der zeitlichen und räumlichen Bedingungen ihrer Arbeit sowie ihrer Wertorientierung bildet sich bei den – zumindest temporär gut verdienenden – Kreativen und Wissensproduzenten ein arbeitsintensiver Konsumstil heraus, der auf ein dichtes, stadträumlich konzentriertes Netzwerk von Dienstleistern angewiesen ist.

Im 20. Jahrhundert war die Zukunft größer

Beide Modelle stehen gegenwärtig aus jeweils unterschiedlichen Gründen unter einem hohen Anpassungs- und Veränderungsdruck. Besonders das fordistische beziehungsweise neofordistische Modell unterliegt vielfältigen Erosionstendenzen, was in der alltäglichen Lebensführung des suburbanen Arbeits- und Lebensmodells zu vielfältigen Problemen und Konflikten führt. Aber auch das Modell urbaner Wissens- und Kulturproduktion ist kein Selbstläufer. In seiner jetzigen Strukturierung ermöglicht dieser dynamische Bereich der Ökonomie kaum eine sozial und ökonomisch nachhaltige Entwicklung, denn auch in diesem hochgradig flexibilisierten Arbeitsmarkt lassen sich Beruf und Familie gegenwärtig nur schwer vereinbaren.

Die idealtypische Skizzierung dieser beiden Modelle soll den Entwicklungskorridor zukünftiger Wandlungsprozesse und die Konturen einer neuen Arbeitsteilung in der Stadtregion verdeutlichen. Ebenso wie sich Stadtregionen nicht mehr auf ein simples bipolares Raummuster wie „Zentrum – Peripherie“ oder „Kernstadt – Umland“ reduzieren lassen, sondern aus vielfältigen Zwischen- und Übergangszonen bestehen, so werden auch die gesellschaftlichen und siedlungsstrukturellen Wandlungsprozesse zu vielfältigen Zwischenformen der Arbeits- und Lebensorganisation führen.

Eine wesentliche Voraussetzung für die Suburbanisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Wachstum, vor allem ein mit der Entfaltung der Produktivkraft verbundenes ökonomisches Wachstum, das – als Resultat von Verteilungskämpfen – über viele Jahrzehnte hinweg für die Mehrheit der Bevölkerung zu einer steigenden Kaufkraft, weniger Erwerbsarbeitszeit und mehr frei verfügbarer Zeit geführt hat. Diese Folgewirkungen des ökonomischen Wachstums waren mit einer „Entproletarisierung“ der Arbeiterschaft verbunden – und mit einer allgemeinen Aufstiegserwartung, also der Vorstellung, dass es in Zukunft allen immer besser gehen werde. Zu den sozialstaatlichen Arrangements des deutschen Wohlfahrtsstaates gehörte die implizite Garantie der Vollbeschäftigung, verbunden mit einem flankierenden Netz wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen zur weitgehenden Absicherung der Risiken von Arbeitsmarkt und Lebensführung.

Das ökonomische Wachstum wurde von einem Bevölkerungswachstum begleitet. Zwar übertrifft in der Bundesrepublik seit über drei Jahrzehnten die Zahl der Sterbefälle die Anzahl der Geburten. Der daraus resultierende natürliche Bevölkerungsverlust wurde jedoch bisher durch einen positiven Wanderungssaldo kompensiert. Zwischen 1960 und 2000 sind in die Bundesrepublik jährlich durchschnittlich rund 250.000 Personen mehr zu- als fortgezogen, weshalb die Gesamtbevölkerung bis zum Jahr 2002 stetig wuchs.

Diese verschiedenen Wachstumsformen, die in das gesellschaftliche Grundverständnis einer Aufstiegsgesellschaft eingebettet waren, führten zu einem immer größeren Raumanspruch. Zum einen wurden größere Betriebsflächen benötigt, zum anderen vermehrte sich der persönlich verfügbare Wohnraum. Die Folgen waren eine Ausdehnung des Siedlungsraumes und dezentralere Raumstrukturen.

Gegenwärtig zeichnen sich jedoch bei all diesen Wachstumsformen tiefgreifende Veränderungen ab. Das ökonomische Wachstum stagniert, und bei vielen Erwerbstätigen stagniert auch das Einkommen oder nimmt sogar ab. In der Folge des ökonomischen Strukturwandels, der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit und der Auflösung tradierter sozialstaatlicher Arrangements ist in den vergangenen Jahren nicht nur das Einkommen einer immer größer werdenden Gruppe gesunken. Auch hat die Angst vor dem sozialen Absturz den Aufstiegsglauben verdrängt. Aufgrund der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, der Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse und den verstärkten Risiken auf dem Arbeitsmarkt kann nur noch ein kleiner werdender Teil der Bevölkerung von einer Kontinuität des Einkommens ausgehen. Ein kontinuierliches, antizipierbares Einkommen ist jedoch eine wesentliche Voraussetzung für die nachhaltige Finanzierung eines suburbanen Eigenheimes und der langlebigen, mit dem suburbanen Lebensstil verbundenen Konsumgüter.

Städtisches und innenstadtnahes Wohnen wird wieder attraktiv

Eine deutliche Trendwende zeichnet sich auch bei der frei verfügbaren Zeit ab. Besonders die höher qualifizierten Arbeitnehmer leisten heute in erheblichem Umfang Mehrarbeit, von der ein großer Teil weder durch Freizeit noch durch Lohnausgleich entgolten wird. Bei verlängerten Arbeitszeiten und einer wachsenden Desynchronisation der Zeit innerhalb von Lebensgemeinschaften gewinnen innerstädtische oder innenstadtnahe Wohnlagen mit ihrer relativ hohen Dichte an öffentlichen und privaten Dienstleistungseinrichtungen sowie Beschäftigungsangeboten wieder stärker an Bedeutung. Vor allem wenn beide Lebenspartner erwerbstätig sind, verlangen diese Probleme eine erhebliche Koordinationsleistung.

Außerdem nimmt schlicht die Zahl der Bewohner in dem Alter ab, in dem früher üblicherweise ein Umzug ins Umland ins Auge gefasst wurde. Die Suburbanisierungswellen der vergangenen Jahrzehnte wurden im Wesentlichen geprägt von den geburtenstarken Jahrgängen der Nachkriegszeit. Inzwischen kommen die Jahrgänge des Pillenknicks, also die zwischen 1964 und 1975 geborenen, ins Suburbanisierungsalter. In dieser Generation gab es einen Geburtenrückgang von rund 40 Prozent, womit auch die Masse der potenziellen „Suburbaniten“ sehr viel kleiner ist als in den Jahrgängen zuvor. Allein aus diesem Grunde wird die Zahl der Familien, die ins Umland abwandern, in den nächsten Jahren stark abnehmen. Aber auch Veränderungen im Bereich der Erwerbstätigkeit schwächen den Trend zum Leben im suburbanen Raum ab.

Der Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsökonomie ist begleitet von einem Wandel der grundlegenden Prinzipien der wirtschaftlichen Organisation. Der Aufstieg der großen Industrien hat die Städte wachsen lassen, aber zugleich ihre ökonomische Vielfalt und Raumstruktur zerstört. Die Entflechtung oder Beseitigung der unübersichtlichen, funktionsgemischten Altbaugebiete gehörte ebenso zum Konzept des „modernen“ Städtebaus, der stark von den Prinzipien des Funktionalismus (entsprechend dem Konzept des Fordismus) beeinflusst war, wie die Entdichtung und Standardisierung der Wohnformen. Eine klare Ordnung sollte geschaffen werden. Für alles und jeden einen Ort festzulegen und von zentraler Hand für ein optimales Funktionieren zu sorgen – das war das Konzept der fordistischen Stadt. In den Großsiedlungen der Nachkriegszeit und in den suburbanen Familienheimgebieten, die beide in der Regel reine Wohngebiete sind, wurde dies ebenso sichtbar wie in den auswuchernden Verkehrsflächen und Gewerbegebieten in und am Rande der Stadt. Der Fordismus bedeutete die Auflösung der urbanen Stadt.

Die postfordistische Ökonomie unterscheidet sich von der fordistischen Organisation radikal dadurch, dass nicht mehr Großbetriebe die Stadtökonomie beherrschen, sondern kleinere Unternehmen in wechselnden Kooperationen projektförmig zusammenarbeiten. In der Kunstproduktion war dies schon immer gang und gäbe, nun wird dieses Modell verallgemeinert. In den Städten entwickelt sich eine Wissensökonomie, die sich nicht mehr auf Handarbeit, sondern vor allem auf intellektuelle Arbeit, Kreativität, soziale Interaktion und Vernetzung stützt. Entscheidend für das ökonomische Wachstum sind die „kreativen Klassen“ – und diese bevorzugen urbane Orte zum Leben und Arbeiten.

Gerade unter Akademikern wird die Berufstätigkeit beider Partner immer selbstverständlicher. Dies ist eine logische Konsequenz der Zunahme höherer Bildung auch bei den Frauen, die die Bildungsexpansion seit den siebziger Jahren ausgelöst hat, und der damit verbundenen Veränderung der Frauenrolle. Die Aussicht, im suburbanen Eigenheim für den Fahrdienst zuständig zu sein, der die Kinder zu den verschiedenen Bildungs-, Freizeit-, Kultur- und Erziehungsstationen bringen muss, und die eigenen Qualifikationen verkümmern zu sehen, ist für immer weniger Frauen attraktiv. Das Hausfrauenmodell der Eigenheim-Suburbanisierung erodiert gerade deshalb, weil sich die Frauen immer seltener wie selbstverständlich in die familiäre Privatsphäre zurückziehen. Der Suburbanisierung geht sozusagen das Personal aus.

Die Kosten für die täglichen Fahrten zwischen Arbeitsplatz und Wohnung mit dem eigenen PKW steigen, die staatlichen Subventionen wurden abgebaut. Außerdem wird die Trennung von Arbeiten und Leben tendenziell aufgehoben, die für die Entwicklung der „modernen“ Stadt so charakteristisch war. Die Anforderungen zeitlicher Flexibilität und die beständige Suche nach neuen Kontakten und Kooperationsmöglichkeiten sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind in den multifunktionalen innerstädtischen Altbaugebieten sehr viel leichter zu organisieren. Funktionsmischung, vielfältige Infrastruktur und kurze Distanzen kommen den Anforderungen der Wissensökonomie ebenso entgegen wie den Lebensstilen, die sie hervorbringt.

„Zeitkrieg“ zwischen den Geschlechtern?

Die neue Beschäftigungsdynamik in den (westdeutschen) Kernstädten ist wesentlich durch die starke Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit geprägt. Damit ist eine Frage zentral geworden: Wie lassen sich Beruf und Familie mit Kindern so verbinden, dass die Frau nicht einseitig alle Lasten tragen muss? Führt die Erwerbsintegration der Frauen bei gleichzeitiger Erosion kollektiver Arbeitszeitstrukturen zu einem „Arbeiten ohne Ende“ oder gar zu einem „Zeitkrieg“ zwischen den Geschlechtern, der auf dem Rücken der Kinder ausgetragen wird? Mit Sicherheit kann man sagen, dass durch die Entgrenzung von Arbeit die Work-Life-Balance, also das Verhältnis von Erwerbsleben und Privatleben in den Haushalten – besonders für Frauen – deutlich spannungsreicher geworden ist. Die Veränderungen der Arbeits- und Unternehmensorganisation lösen Standardisierungen auf, verschränken Erwerbs- und Nichterwerbsaktivitäten, verlangen von den Beschäftigten mehr individuelle Flexibilität und bringen anstelle eines dominierenden gesellschaftlichen Zeitregimes eine Vielzahl unterschiedlicher Arrangements hervor, in denen Haushalte die Anforderungen des Arbeitsmarktes und der Lebensführung in Einklang zu bringen suchen. Auch weil die (einzige) Ehe immer seltener eine lebenslange Institution ist, werden diese Arrangements nicht nur als Folge der Veränderungen in der Erwerbsarbeit immer komplexer.

Der Arbeitsmarkt ist unsicherer geworden. Feste Vollzeitstellen werden bald die Ausnahme sein, und vor allem Höherqualifizierte arbeiten heute länger und in unregelmäßigen Zeitrhythmen. Durch Doppelerwerbstätigkeit und die Erosion des gesellschaftlichen Zeitgefüges wird das familiäre Alltagsleben an suburbanen Standorten mit langen Wegen und Pendlerzeiten immer beschwerlicher. Und aufgrund der Unsicherheit von Job und Einkommen werden sich deutlich weniger Menschen mit hohen Hypotheken auf ein Eigenheim im Grünen festlegen können oder wollen. Die Planungsfähigkeit hat abgenommen.

Vor diesem Hintergrund entdecken viele wieder die Vorteile der Stadt. Denn die Stadt bietet nicht nur ein breites Angebot an Beschäftigungsmöglichkeiten, sondern auch vielfältigste Dienstleistungen vor Ort: Einkaufsmöglichkeiten, Betreuungsangebote für Kleinkinder, Kindergärten mit unterschiedlichen Öffnungszeiten, Schulen für unterschiedliche Begabungen, eine differenzierte Gesundheitsversorgung und ein breites Bildungs- und Kulturangebot – aber auch bessere Möglichkeiten zur Selbsthilfe, denn leicht finden sich genügend Bewohner, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben wie man selbst. Für alle, die keine Zeit für Haushaltsarbeit haben oder diese Zeit anders verwenden wollen, gibt es Restaurants, Snacks, Lieferdienste, Wäschereien, Haushaltshilfen.

Das hört sich besser an, als es in vielen Städten tatsächlich ist, denn in den meisten Innenstädten wird ja kaum mehr gewohnt, und mit der Verdrängung des Wohnens sind auch die vielfältigen Dienstleistungseinrichtungen ausgedünnt, die einen urbanen Lebensstil erst möglich und attraktiv machen. Die Re-Urbanisierung der Städte wäre also ein stadtpolitisches Ziel, das sowohl die Aussichten auf ökonomische Stabilität als auch die Attraktivität für junge Familien verbessern würde.

In den Innenstadtrandgebieten der großen Städte steigt derzeit wieder die Kinderzahl. Schulen, die wegen des Bevölkerungsrückgangs mancherorts bereits geschlossen worden waren, müssen wieder eröffnet werden. In den Aufnahmelisten der Kindergärten und Kindertagesstätten sind viele ungeduldige und erboste Eltern verzeichnet. Die starren Betriebszeiten, die etwas verstaubten pädagogischen Konzepte und die institutionelle Arbeitsteilung zwischen Eltern und Einrichtungen genügen den Anforderungen an moderne Lebensstile oft nicht mehr – ein weites Feld für neue stadtpolitische Phantasie.

Gute Städte, schlechte Städte

Die Tendenzen einer urbanen Renaissance dürfen freilich nicht darüber hinweg täuschen, dass es große regionale Unterschiede gibt, die wahrscheinlich noch größer werden. Zum einen geht die Schere in der Entwicklung zwischen den wachsenden und den schrumpfenden Städten immer weiter auseinander. Dies hat Folgen für die Wanderungsprozesse: Es gibt Städte mit hoher und Städte mit niedriger Zuwanderung – was von der momentanen Nachfrage nach Arbeitskräften abhängt, aber langfristige Wirkungen für die Stadtentwicklung hat. Zum anderen bleibt das alte Süd-Nord-Gefälle weiterhin wirksam, auch wenn in Hamburg inzwischen durch den Wiedergewinn seines Hinterlandes der Schrumpfungsprozess von Wachstum abgelöst wurde. Nicht alle Städte profitieren also bereits von der neuen urbanen Ökonomie, in vielen dominiert noch die Deindustrialisierung die Entwicklung.

Eine anhaltende Renaissance der Städte würde – den Vorbildern London und Paris folgend – außerdem zu einer flächendeckenden Gentrification der innerstädtischen Wohngebiete führen und damit zu einer Vertreibung der Haushalte mit niedrigeren Einkommen an die Ränder der Städte. Dass die suburbanen Gebiete angesichts der demografischen Entwicklung und der unsicheren Einkommensperspektiven nicht mehr die bevorzugten Orte der Wohlhabenderen bleiben, sondern Gegenden der Bedürftigen und Diskriminierten werden könnten, mag zwar für heutige Ohren etwas abenteuerlich klingen. Es ist aber durchaus möglich. Städte, die kaum noch über eigene Wohnungsbestände verfügen, werden es schwer haben, die soziale Kohäsion zu sichern.

Die demografische Entwicklung führt dazu, dass in Deutschland in der Zeit von 1998 bis 2030 die Zahl der unter Zwanzigjährigen von 18 auf 12 Millionen zurückgeht und die Zahl der Zwanzig- bis unter Vierzigjährigen von 25 auf 16 Millionen sinkt. Diese jüngeren Jahrgänge sind in der Regel diejenigen mit der modernsten Ausbildung, sie sind die sozial und ökonomisch aktivsten Bevölkerungsteile. Nur bei diesen Bevölkerungsgruppen hatten die großen Städte bisher eine positive Wanderungsbilanz; sie sind für die Stadtentwicklung eine unersetzliche Ressource. Das schrumpfende Bevölkerungspotenzial in Deutschland wird zwangsläufig zu einer verschärften Konkurrenz der Städte um Zuwanderer führen. Städte, denen es nicht gelingt, junge und qualifizierte Arbeitskräfte anzuziehen, haben die schlechtesten ökonomischen Aussichten – und die qualifizierten Jungen gehen nicht überall hin. Wo kulturelle Minderheiten diskriminiert, wo ausgrenzende „Leitkulturen“ hochgehalten werden, wo große Teile der Bevölkerung vom Zugang zu höherer Bildung ferngehalten werden, wird also nicht nur die urbane Qualität einer Stadt beeinträchtigt, sondern auch ihre ökonomische Entwicklung gefährdet.

Es kommt aber auch – und vor allem – darauf an, die in den Städten vorhandenen Humanpotenziale zu entwickeln. Diese liegen in den Quartieren der Städte, in denen sich die sozialen Probleme konzentrieren. Die Kinderarmut, die in erschreckendem Umfang zugenommen hat, und enorme Defizite bei der Bildungsbeteiligung von Jugendlichen aus Einwandererfamilien sind also auch Themen der Stadtentwicklung. Sie sind Teil eines wachsenden Integrationsproblems, das vor allem in sozialer Hinsicht besteht – und weniger hinsichtlich der ethnischen Zugehörigkeit. Zurzeit wird vor allem über die Integration von Einwanderern debattiert. Dafür war es nach den Abwehrreaktionen auf die Zuwanderung in den achtziger und neunziger Jahren auch endlich Zeit – aber die Städte haben ein Problem mit der Integration einer wachsenden Unterschicht!

Die Krise der Städte ist also durch die beschriebenen Trends nicht automatisch überwunden. Teilweise entstehen dadurch sogar neue Konflikte, etwa um innerstädtischen Wohnraum. Bornierte Anpassungsforderungen gegenüber Einwanderern gefährden – ebenso wie rücksichtslose Wohnungspolitik oder ausgrenzende Sozialpolitik – nicht nur den sozialen Frieden, sondern auch die ökonomische Entwicklung.

Die Integration der gesamten Stadt und die Koexistenz von sozialer und ethnischer Heterogenität auf engem Raum ist nicht nur eine moralische Forderung von „Gutmenschen“, sondern auch eine Voraussetzung dafür, dass die sich bietenden Chancen eines neuen ökonomischen Wachstums ergriffen werden können. Kulturelle Vielfalt ist daher nicht nur zu akzeptieren – dazu gehört auch die Bildung von ethnisch segregierten Gebieten in verschiedenen Teilen der Stadt –, sondern ihr muss auf allen Ebenen Rechnung getragen werden. Wenn in vielen großen Städten inzwischen fast zwei Drittel der unter Fünfjährigen aus Einwandererfamilien kommen – wer soll dann noch wen integrieren? Wir erleben eine grundlegende Neuzusammensetzung der Stadtbevölkerung. Die Anerkennung dieser multikulturellen Realität und die Entfaltung der damit verbundenen Potenziale sind Gebote urbaner Kultur und wirtschaftlicher Entwicklung zugleich.

Dieser Text fußt auf dem Schlusskapitel des Buches „Stadtpolitik“, das die Autoren gemeinsam mit Walter Siebel im Jahr 2007 im Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main veröffentlicht haben.

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