Reiches Land, begrabene Träume

Pierre Bourdieus klassische Studie Das Elend der Welt hat Günter Grass und eine Schar seiner Mitstreiter inspiriert, einen Blick auf die Wirklichkeit dieses Landes zu werfen. Herausgekommen ist ein spannend zu lesender Reportageband im Sound der Achtundsechziger

Seit neun Jahren arbeitet Karin, 55, in einem Kaufhaus in der Lebensmittelabteilung, schleppt Obst- und Gemüsekisten, räumt Milch in die Regale, bringt Preisschilder an und steht, wenn es sein muss, auch hinter der Fischtheke. Die Arbeit ist anstrengend, die Kollegen misstrauen einander, die Angst, gemobbt zu werden, ist ständig dabei. Nach ihrer Scheidung wollte Karin, die 19 Jahre lang in der Modeboutique ihres Mannes gearbeitet hat, eigentlich in der Branche bleiben. Aber dafür war sie ihren potentiellen Arbeitgebern schon zu alt. Außerdem kam für sie nur eine Teilzeitstelle in Frage, weil sie ihre kranke Mutter betreuen muss. "Mein Job ist ein Scheißjob", sagt Karin resigniert. Aber selbst die Fischtheke sei besser als Arbeitslosigkeit.


Auch Marion und Günter aus Brandenburg mussten ihre Träume begraben. In der Wendezeit machte sich das Ehepaar selbstständig, erfüllte sich mit seinen beiden Töchtern den Traum von der eigenen Gaststätte mit Hotel und Tagungszentrum. Bekam sogar, ohne nennenswertes Eigenkapital, Kredite in Millionenhöhe von der Bank bewilligt, Zuschüsse vom Staat und der Gemeinde. Nur, dass das Anwesen maroder war als gedacht und die Lage des kleinen Dorfes in der Prignitz nicht gerade ideal, das hat ihnen niemand gesagt. "Wir waren halt keine Kaufleute", erklärt sich Marion das Desaster. 1994 war der Konkurs unausweichlich. Jetzt müssen die Mitvierziger ein Leben lang jeden Euro Einkommen, der über dem Sozialhilfesatz liegt, an ihre Gläubiger abstottern.


Jan, Ende vierzig und Lehrer an einer Hauptschule in Berlin-Neukölln, hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Seit 16 Jahren setzt er sich für seine Schüler ein; hilft bei der Lehrstellensuche und bei Liebeskummer, greift ein, wenn es Konflikte gibt. Viele seiner Kollegen haben davor Angst. Die Gewaltbereitschaft unter den Jungen und zunehmend auch Mädchen wächst. Wen wundert′s - die Hauptschule, die immerhin noch von einem Drittel aller Schüler besucht wird, gilt als Auffangbecken für all die, "die nichts sind und nichts werden können", für "verkappte Sonderschüler", künftige Sozialhilfeempfänger, für Ausländerkinder und Kinder aus zerrütteten Familienverhältnissen. Jan fragt sich oft, was er mehr ist: Wissensvermittler oder Sozialarbeiter.

Existenzangst, Armut, Ausgrenzung

Drei Geschichten aus Deutschland und zugleich drei von über 50 "Zeugnissen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft", die Günter Grass, Daniela Dahn und Johano Strasser, Präsident des deutschen PEN-Zentrums, in den vergangenen beiden Jahren zusammengetragen und kürzlich unter dem Titel In einem reichen Land herausgegeben haben. Sie zeigen beispielhaft, dass auch in Deutschland Existenzangst, Armut und soziale Ausgrenzung längst keine Ausnahme mehr sind, sondern, so Grass, "mittlerweile die Regel". Die Statistik scheint ihm Recht zu geben. Bereits im April 2001 hat die Bundesregierung in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht - übrigens der erste seiner Art in Deutschland - die nackten Zahlen auf den Tisch gelegt: Danach teilten sich 1998 zehn Prozent der Haushalte etwa 42 Prozent des gesamten Privatvermögens. Die untere Hälfte der Haushalte musste sich mit 4,5 Prozent des privaten Vermögens begnügen. Zur gleichen Zeit standen 13.000 Einkommensmillionäre 2,9 Millionen Sozialhilfeempfängern gegenüber. Sieben Prozent der Haushalte waren 1999 überschuldet. Ein Fünftel der Bevölkerung lebte von weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens. Je nachdem, wie man "Einkommensarmut" definiert, waren allein in den alten Bundesländern zwischen 3,9 und 11,9 Millionen Menschen arm, darunter vor allem Arbeitslose, Alleinerziehende, kinderreiche Familien und Zuwanderer.

Die Würdelosigkeit mitten unter uns

Der Armutsbericht der Bundesregierung sei ein wichtiges Signal gewesen, geändert an der "sozialen Schieflage" im Land habe sich seitdem aber nichts, kritisieren die Herausgeber von In einem reichen Land. Deshalb haben Grass und seine beiden Mitstreiter Journalisten, Schriftsteller und Fotografen quer durch Deutschland geschickt, um die Gesichter hinter den Zahlen sichtbar zu machen: Sie haben in Sozialämter und Schulen, in Betriebe und Führungsetagen, Suppenküchen und Obdachlosenquartiere geschaut. Sie haben mit Straßenkindern und Aussiedlern, mit Asylbewerbern, allein erziehenden Müttern und Gerichtsvollziehern, mit Globalisierungskritikern und rechten Hooligans gesprochen. Auch Ärzte, Lehrer, Sozialarbeiter und Politiker kommen zu Wort. In den oft sehr eindringlichen Reportagen, Porträts und Analysen beschreiben Autoren wie Herbert Riehl-Heyse, Roger Willemsen, Franziska Augstein oder Gert Heidenreich dabei nicht nur materielle Armut und Arbeitslosigkeit; es geht auch um die Angst davor, um den tagtäglichen Anpassungsdruck in unserer, so Strasser, "total liberalen" Arbeitswelt. Um die psychischen und physischen Blessuren, die Menschen in Deutschland am Arbeitsplatz, auf der Straße und im Umgang miteinander erleiden. Um die Frage nach Recht und Unrecht in unserem Staat. "Unser Buch handelt davon, wie würdelos es an den Rändern und mitten unter uns zugeht. Wenn Kinder hungrig zur Schule gehen, andauernde Arbeitslosigkeit alte und junge Menschen zermürbt, Asylanten, die nichts Kriminelles getan haben, in Abschiebehaft gehalten werden, wird Mal um Mal die Würde des Menschen verletzt", schreibt Grass.

Wir müssen verstehen, wie der andere lebt

Die Idee zum Buch kam Günter Grass während eines Gesprächs mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Bourdieu, im Januar des vergangenen Jahres 71-jährig in Paris verstorben, veröffentlichte bereits 1997 unter dem Titel Das Elend der Welt "Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft". Dazu führten er und sein Team sozialpolitisch engagierter Wissenschaftler Interviews mit den sozial benachteiligten Schichten in Frankreich. Herausgekommen ist eine "Bibel der Misere", ein Aufsehen erregendes Schicksalspanorama von 850 Seiten Umfang. Damals wünschte sich Grass, "wir hätten in jedem Land ein derartiges Buch" - nun hat er mit In einem reichen Land eine ähnlich umfassende Bestandsaufnahme der deutschen Zustände vorgelegt. Dabei hat er, der Schriftsteller, anders als der Wissenschaftler Bourdieu, seinen Autoren die Freiheit gelassen die "Geschichten von unten" literarisch zu verfremden.


Angetrieben hat Grass, der sich "berufsnotorisch auf Seiten der Verlierer" sieht, genau wie Bourdieu die Verantwortung des Intellektuellen für die Schwachen in der Gesellschaft. "Wir müssen den eigenen Blick auf die anderen ändern, müssen verstehen, wie der andere lebt", hat Bourdieu einmal im Hinblick auf Das Elend der Welt gesagt. Den Blick ändern, Verständnis wecken und "denen eine Stimme geben, die sonst keine haben" (Daniela Dahn im Vorwort), das wollen auch die Herausgeber und Autoren von In einem reichen Land. Und sie wollen Politik und Gesellschaft wachrütteln, damit sich die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter öffnet. Denn Armut ist zunehmend ein Problem, dass nicht nur die Dritte Welt, sondern auch die wohlhabenden Industrienationen trifft. Allerdings vollziehen sich bei uns Verarmung und Vereinzelung nicht in aller Öffentlichkeit, sondern, wie Grass es formuliert, "im Schatten einer Wohlstandskulisse, die selbstbewusst zur Schau gestellt wird". Wegsehen dürfe auch bei uns nicht länger gelten: "Solidarität", so Grass "ein gegenwärtig als Ladenhüter gehandelter Wert", sei wieder gefragt.

Von den Jungen erwartet Günter Grass wenig

In einer Zeit, da in Deutschland heftig diskutiert wird, ob und wie wir uns den Sozialstaat überhaupt noch leisten können, da die Forderung nach einer Vermögens- und Erbschaftssteuer oft als blanker Neid ausgelegt wird, da die Folgen der Globalisierung und die überwältigende Macht des Neoliberalismus den Handlungsspielraum der Politik immer stärker einengen, rufen Grass, Dahn und Strasser - wie vor ihnen schon Bourdieu - zur Verteidigung sozialstaatlicher Errungenschaften auf.


Ob das funktionieren kann, wenn die Jungen nicht mit ins Boot genommen werden, erscheint allerdings ziemlich fraglich. Zwar haben die Herausgeber den Kindern und Jugendlichen an den Rändern der Gesellschaft durchaus eine Stimme gegeben. Doch wo sind in dieser bisher umfangreichsten Sammlung sozialkritischer Reportagen aus Deutschland die jungen Journalisten, Publizisten und Schriftsteller geblieben? Die über 50 Autoren des Bandes jedenfalls gehören zumeist der Generation der Achtundsechzger an. Vielleicht liegt es daran, dass Grass dem Nachwuchs eher wenig zutraut. "Ich sehe bei der jungen Generation im Bereich der Literatur wenig Bereitschaft und wenig Interesse, diese Tradition, die zur Aufklärung gehört, nämlich des Mundaufmachens, des Sicheinmischens, fortzusetzen", hat er zu Bourdieu gesagt.

Doch, doch, die Welt ändert sich

Ein gewaltiger Vorwurf, der sicher nicht (ganz) die Realität trifft und von der Ignoranz einiger Alt-Achtundsechziger zeugt, die nicht einsehen wollen, dass sich die Welt und die Anforderungen, vor denen die junge Generation steht, in den letzten 30 Jahren erheblich verändert haben. Längst schon nicht mehr garantiert ein Hochschulstudium einen gut bezahlten und sicheren Arbeitsplatz. Und wer ein paar Semester zu lange an der Uni war, weil er sich dort engagiert hat, wer nicht mehrere Fremdsprachen fließend spricht oder nicht ein paar Semester im Ausland studiert hat, der muss sich dafür heute vor potentiellen Arbeitgebern rechtfertigen. Es hätte nicht geschadet, wenn Grass, Dahn und Strasser auch ihren eigenen Blick auf die angeblich so individualistische und gleichgültige Jugend von heute ein wenig geändert hätten. Dann hätten sie womöglich erkannt, dass es junge schreibende Kolleginnen und Kollegen durchaus gibt, die Zustände im eigenen Land kritisch begleiten - wenn auch vielleicht ein wenig weniger schrill als die Generation ihrer Väter und Mütter. Ein Versäumnis - aber das einzige, in einem sonst überaus lesenswerten Buch.

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