Reich an Wohlfahrt, arm an Chancen

Die einen wollen dem Sozialstaat an den Kragen, die anderen wünschen sich die siebziger Jahre zurück. Beide Seiten haben Unrecht. Warum wir ganz dringend einen konkreten und integrierten Aktionsplan der Bundesregierung gegen Armut brauchen

Zwischen 1998 und 2003 hat die Zahl der Menschen in Deutschland zugenommen, die einem relativen Armutsrisiko ausgesetzt sind. Rund 13,5 Prozent der Bevölkerung müssen heute mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens auskommen. Damit sind sie nach EU-Definition arm. 1998 waren das noch 12,1 Prozent. Im Vergleich mit anderen westlichen Industriestaaten liegt der konservative Wohlfahrtsstaat Deutschland damit vor Schweden, Dänemark und Finnland, aber unter dem EU-Durchschnitt von 15 Prozent.

Aber was sagen die Einkommensstatistiken des Zweiten Armuts- und Reichtumsberichtes tatsächlich über die sozialen Lagen der Schwächsten der Gesellschaft und deren Zugangs- und Teilhabechancen aus? Was über die Verantwortung der Reichen für den sozialen Zusammenhalt und damit für die Demokratie? Wir haben nichts zu beschönigen. Es wäre ein großer Fehler, würden wir – wie einst Jugendministerin Claudia Nolte im Kabinett Kohl – behaupten, es gäbe bei uns keine Kinderarmut, weil Kinder Sozialhilfe bekämen und es den Kindern in Afrika viel schlechter ginge. Es wäre auch ein Fehler, diese Debatte klein zu kochen, ihr auszuweichen, nur defensiv abzuwiegeln. Es ist im Gegenteil gerade die Aufgabe von Sozialdemokraten, die sozialen Notlagen beim Namen zu nennen und konkrete Vorschläge zu ihrer Überwindung zu machen. Nur so können wir den politischen Streit gewinnen und glaubwürdig bleiben – im Interesse der Betroffenen.

Wie sehen soziale Notlagen in Deutschland aus? Erstens ist festzustellen: Das staatlich garantierte Existenzminimum – dazu gehören Sozialhilfe, Grundsicherung, ALG II, Pfändungsfreigrenzen, steuerrechtliches Existenzminimum – liegt unterhalb der Armutsrisikogrenze von 60 Prozent des Durchschnittseinkommens, also 938 Euro im Monat. Für ein menschenwürdiges Leben bedarf es deshalb neben finanzieller Unterstützung weiterer staatlicher Dienstleistungen und gesellschaftlicher Solidarität. Der Hinweis hilft wenig, arme Haushalte in Deutschland lebten überwiegend in angemessenen Wohnungen und besäßen gewöhnlich Farbfernseher, DVD-Player, Computer und meistens auch ein Auto. Dass Kinder nicht verhungern müssen und eine kostenlose Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung und Schulbildung in Anspruch nehmen können, schützt in Deutschland nicht vor Fehlernährung, höherem Krankheitsrisiko, Vernachlässigung und Bildungsarmut.

Familien sind überproportional betroffen

Zweitens sind Familien mit Kindern, Alleinerziehende und Ausländer überproportional von dem Anstieg der Armut betroffen. Bei den Älteren hingegen ist das Armutsrisiko leicht gesunken. Insgesamt ist eine zunehmende Ausgrenzung und relative Verelendung in der Gesellschaft nicht nur bei Obdachlosen, Suchtkranken und Illegalen, bei Straßenkindern oder einsamen Alten wahrnehmbar – trotz garantierter Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums und eines Sozialhilferechts, das weltweit vorbildlich ist. Eigentlich müsste in Deutschland nach dem Gesetz jeder und jedem Bedürftigen – ob unterqualifiziert, geringfügig beschäftigt, arbeitslos, krank, behindert oder überschuldet – wieder auf die Beine geholfen werden. Dennoch wächst die Zahl derjenigen, die ihre Rechte nicht wahrnehmen oder durchsetzen können. Dazu gehören illegale Zuwanderer, verschämte Arme, Suchtkranke und Kinder, bei denen die Hilfen nicht ankommen.

Drittens ist die Anzahl der überschuldeten Haushalte seit 1990 von etwa zwei auf knapp drei Millionen angestiegen. Diese Haushalte leben mit der gesetzlich geschützten Pfändungsfreigrenze, liegen aber oft mangels Kompetenz oder Schuldnerberatung mit ihrem verfügbaren Budget unter dieser Schutzgrenze.

Während die oberen 10 Prozent der Einkommensbezieher immer mehr Vermögen ansammeln existiert viertens eine breite Mittelschicht, die zwar ebenfalls in den vergangenen Jahren Einkommen und Vermögen steigern konnte, im ökonomischen Strukturwandel aber zunehmend den Risiken des Jobverlustes, der Insolvenz, und damit des sozialen Abstiegs ausgesetzt ist. Jeder von uns kennt solche Fälle. Wir empören uns zu Recht, wenn die Bürokratie der Solidargemeinschaft nicht in der Lage ist, die Löcher im eigentlich dichten sozialen Netz zu stopfen. Und darüber, dass die problematischen Gruppen ständig nachwachsen.

Mehr Sozialausgaben, höhere Schulden

Vor diesem Hintergrund ist es die Aufgabe der rot-grünen Regierungskoalition, für Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen und eine nachhaltige Finanzierung der Solidarität über Steuern, Sozialbeiträge und Eigenvorsorge zu sichern. Dazu sind mit der Stärkung der Kinder- und Familienförderung, der Grundsicherung für Ältere und Behinderte, der Absenkung der Steuereingangssätze und der Anhebung der Steuerfreibeträge sowie den Hartz-Gesetzen wichtige Schritte getan worden. Sie haben die Gesamtentwicklung entschärft. Entgegen der Mythen vom Sozialabbau und den angeblichen Sparorgien der rot-grünen Bundesregierung wachsen die öffentlichen Ausgaben für soziale Leistungen und sind zu einem erheblichen Anteil für die wachsende Staatsverschuldung verantwortlich.

Was hingegen häufig zu wünschen übrig lässt, sind die Effizienz und Zielgenauigkeit des Sozialstaats. Viele Indizien sprechen dafür, dass das Gesundheits- und Sozialwesen ein “Effizienzpotenzial” von mindestens einem Drittel bergen. Anders gesagt: Mit denselben Mitteln könnte ein Drittel mehr Leistung erbracht werden.

Die Eigeninteressen der Sozialbürokratie

Das Problem ist nur: Sowohl viele Politiker als auch Anbieter sozialer Dienstleistungen pflegen noch immer eine paternalistische, konservative Vorstellung vom fürsorglichen Wohlfahrtsstaat. Ungeachtet der nunmehr über zwei Jahrzehnte andauernden kritischen Fachdiskussion über Effizienz und Bürokratieabbau, Betroffenenorientierung und Fehlwirkungen, folgen sie noch immer den Eigeninteressen der Sozialbürokratien. Immer noch erhalten diejenigen, die am Bedürftigsten sind, die wenigsten persönlichen Hilfen. Ich selbst habe vor 20 Jahren im Studium gelernt, dass und wie ich mich als Sozialarbeiter buchstäblich überflüssig machen soll. Dazu gehört auch, dass neben der Einzelfallhilfe die für den Problemfall ursächlichen strukturellen Gründe erkannt und verändert werden müssen.

Tatsächlich aber sind in den vergangenen Jahrzehnten im Sozialbereich immer mehr Spezialdienste und Einrichtungen entstanden, die ihre Legitimation damit zu sichern suchen, dass sie immer vielfältigere Problemlagen entdecken und erhalten. Fehlanreize bei sozialen Leistungen, mangelnde Vernetzung und Integration einzelner Dienste sowie das Beharrungsbedürfnis in öffentlichen Beschäftigungsverhältnissen führen dazu, dass bestehende Problemlagen unzureichend angegangen werden. Es gibt natürlich viele gute Beispiele fortschrittlicher Praxis und viele kritische Fachleute mit guten Ideen. Aber allzu häufig scheitern diese an den Strukturen oder fehlgeleiteten Ressourcen.

Woran liegt es, dass die karitativen “Armenspeisungen” immer beliebter werden, obwohl dieses “Almosenkonzept” gerade durch die bundesdeutsche Sozialgesetzgebung eigentlich längst überwunden sein sollte? Zu Recht beklagt die Caritas in einem Bericht über die immer restriktivere Sozialhilfepraxis der kommunalen Verwaltungen, dass notwendige persönliche Hilfen und Preisermäßigungen für öffentliche Daseinsvorsorge aufgrund der Finanzknappheit der öffentlichen Kassen abgebaut werden.

Viel zu spät sind persönliche Unterstützungsangebote zur Überwindung sozialer Schwierigkeiten (Drogenhilfen, Schuldnerberatung, Qualifizierung, Arbeit statt Sozialhilfe) gemacht worden, nachdem über Jahrzehnte das Abschieben der Langzeitarbeitslosen in die Sozialhilfe hingenommen wurde. Die Sozialämter waren bis in die neunziger Jahre hinein eher das Strafbataillon des öffentlichen Dienstes, als qualifiziert besetzte Job-, Qualifizierungs- und Hilfe-zur-Selbsthilfe-Center. Und je mehr Strukturprobleme und Sozialfälle existierten, desto mehr öffentliche Subventionen flossen über EU, Bund und Länderfinanzausgleiche. Diese Praxis ändert sich erst allmählich, seit die Rechnungen der Kämmerer finanziell nicht mehr aufgehen und soziale Konfliktlagen in den Städten und Dörfern der strukturschwachen Regionen überhand nehmen.

Verelendete Ghettos und rechtsfreie Räume

Solange die Finanzen reichten, sollten sich die Armen mit den Transferleistungen zufrieden geben. So wurden langfristige Ausgrenzungsprozesse, die Vererbung von Armut und Benachteiligung in regelrechten Sozialhilfedynastien genauso verfestigt wie immer mehr verelendete soziale Ghettos – häufig mit einem hohen Anteil von Einwanderern und der Tendenz zu rechtsfreien Räumen. Auch sozialdemokratisch geführte Kommunen haben das ziemlich gleichgültig oder hilflos hingenommen. Hier liegen die Brutstätten jeglichen politischen und religiösen Fundamentalismus, ob des Islamismus oder des Rechtsextremismus. Natürlich darf es keine Toleranz der Demokraten gegenüber denjenigen geben, die Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie mit Füßen treten. Besser als juristische Scheinlösungen und Verbotsdiskussionen ohne Ergebnis wären aber soziale Perspektiven. So vor allem würden wir die Überlegenheit von demokratischer Kultur und der sozialen Marktwirtschaft unter Beweis stellen.

Naturgemäß werden die Zahlen des Armuts- und Reichtumsberichtes je nach Interessenlage gegen die Politik der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung in Stellung gebracht – von der Opposition, die scheinheilig von ihrem Versagen in 16 Jahren Kohl und ihren tatsächlichen neoliberalen Spaltungsabsichten ablenkt; von manchen Wohlfahrtsfunktionären, die nach der Devise more of the same die Wohlfahrtsinstrumente der siebziger und achtziger Jahre und höhere Transferleistungen fordern, ohne sich um deren Wirkungen, Problemlösungspotentiale oder gar die Finanzierbarkeit zu bekümmern. Und die Medien? Sie forderten noch gestern mehr Reformen und Einschnitte und entdecken heute ihr Herz für die Armen. Sie stellen “Florida-Rolf” und den Missbrauch von Sozialleistungen an den Pranger – und skandalisieren gleichzeitig die Kälte von Hartz IV. Sie fordern höhere Sozialhilfesätze – und mahnen im nächsten Atemzug das Lohnabstandsgebot an.

In diesem schwierigen Debattenumfeld muss die SPD die verteilungs- und sozialpolitischen Konzepte sowie die soziale Praxis verändern. Mit der Agenda 2010 sind diese Veränderungen zum Teil angestoßen worden. Die ersten positiven Wirkungen unserer Politik werden allerdings frühestens im nächsten Bericht sichtbar werden.

Auf Hilfe zur Selbsthilfe kommt es an

Neben der nachhaltigen Finanzierung des menschenwürdigen Existenzminimums – Erhöhungen von Geldleistungen nicht ausgeschlossen – kommt es auf die Qualität und Effizienz der psychosozialen Dienstleistungen im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe in einem aktivierenden Sozialstaat an. Zugangs- und Teilhabegerechtigkeit bedürfen viel mehr als nur höherer Geldleistungen: Wir brauchen etwa integrierte Strukturen in der Bildungs-, Gesundheits-, Stadtentwicklungs-, Migrations- und Sozialpolitik. Und wir müssen die Erkenntnis durchsetzen helfen, dass Wirtschafts- und Sozialpolitik keine Gegensätze sind, sondern einander bedingen. Gesichtspunkte der Umverteilung, der Wettbewerbsfähigkeit und der Arbeitsmarkteffekte müssen bei der Finanzierung öffentlichen Handelns vernünftig aufeinander abgestimmt werden. Michael Miebach (Berliner Republik 1/2005) hat daher völlig Recht: Notwendig ist heute ein ebenso konkreter wie integrierter Aktionsplan der Bundesregierung zur Bekämpfung der Armut in Deutschland.

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