Recht haben und geliebt werden

Gregor Gysis neues Buch verrät mehr über den Autor, als ihm lieb sein kann

Gregor Gysi schreibt. Er schreibt ein Buch. So wie das heute für nicht mehr in Verantwortung stehende Politiker typisch, ja fast obligatorisch ist. Die Qualität solcher Memoiren lässt derweil oft zu wünschen übrig. Schnell auf den Markt geworfene Bücher - Kohl, Lafontaine, Schäuble - dienen mehr der eigenen Rechtfertigung denn der geistigen Bereicherung der Leser. Von Gregor Gysi mag mancher anderes erwartet haben. Wer die schnelle und für den politischen Gegner gefährliche Zunge Gysis kennt, erwartet angesichts der längeren Zeit, die der Autor auf sein Buch verwenden konnte, eher noch mehr scharfe Logik, stringente Argumentation und den für Gysi typischen Humor.

Genauer betrachtet, entpuppt sich das 380 Seiten starke Buch leider als viel zu schnell dahin geschrieben. Die ersten 100 Seiten kann man sich getrost sparen. Sie enthalten nicht viel mehr als die ichlastige Rechtfertigung Gysis für seinen Rückzug aus allen politischen Ämtern. Das ist enttäuschend. Auch scheint das sonst übliche Redigieren durch den Verlag nicht mehr opportun zu sein. Das Buch liest sich teilweise doch sehr abgehackt, chronologisch nicht sortiert, als wäre die Kapiteleinteilung erst nachträglich eingefügt worden.

Die Eliten haben sich nicht vereinigt

Interessant sind immerhin zwei Abschnitte des Buches: das Kapitel über die Nichtvereinigung der Eliten und das Kapitel, das sich mit der PDS 1998 bis 2000 und darüber hinaus beschäftigt. Die Nichtvereinigung der ostdeutschen Eliten mit den westdeutschen ist der spannendste, von Gysi am authentischsten vorgetragene Abschnitt des Buches. Wenn die PDS in den letzten Jahren eine Existenzberechtigung hatte, dann deshalb, weil sie laut wahrnehmbar die Interessen der ostdeutschen Bevölkerung vertrat - besonders jener Ostdeutschen, die sich, wie die Eliten der DDR, als Wiedervereinigungsverlierer fühlten.

In den wenigsten Fällen trifft man in den neuen Bundesländern an führenden Positionen von Politik und Kultur, Wirtschaft und Verwaltung auf Ostdeutsche. Die führenden Eliten wurden kurz nach der Wende durch Westdeutsche ersetzt. Aber nicht nur diese, wie Gysi ausführt. Kurz nach der Gauck-Überprüfung der Professoren war auch der Mittelbau jeder Hochschule dran.

Das Lebensgefühl der Besatzung

War die Freude der Mittelbauer beim Fall der Koryphäen zunächst noch groß - schließlich wurden ja Posten frei -, so folgte die Ernüchter-ung auf dem Fuße. Die freien Stellen wurden nicht durch die vorhandenen Kräfte ersetzt, sondern durch neue Konkurrenten aus dem Westen. So wuchs die Angst vor dem Verlust des eigenen Jobs. Das Gefühl, in einem besetzten Land zu leben, prägt deshalb bis heute die Selbstwahrnehmung der Bevölkerung.

Überhaupt nur die vormaligen ostdeutschen Eliten, so Gysis These, wären in der Lage gewesen, ihrer Bevölkerung den nötigen Um-bau zu vermitteln und die Gesellschaft dafür zu gewinnen. Dann hätte sich nicht jenes virulente Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Umgestaltung des eigenen Landes derart breit gemacht, würden Menschen die eigene Biografie nicht so entwertet empfinden, wie es heute in Ostdeutschland vielfach der Fall ist.

In der Tat: Von ein paar dopingfreien Rudimenten des Sports abgesehen sind die Eliten ausgewechselt worden, und es wird vermutlich einer ganzen Generation bedürfen bis ein Ostdeutscher Ministerpräsident in einem Westland wird oder Hansa Rostock Deutscher Meister im Fußball. Genau in dem Maße, wie diese Vorstellung für viele jenseits der Elbe undenkbar ist, sind wir noch von der Einheit in den Köpfen entfernt.

Dem eitlen Gysi fehlt es an Härte

Mit den Eliten verschwanden in Ostdeutschland auch die letzten intellektuell anspruchsvollen Publikationen, die ein wahrnehmbarer regionaler Ort der Diskussion hätten sein können. Als tragisches Beispiel sei nur die legendäre Wochenpost genannt, deren Übernahme durch Die Woche den Rezensenten bis heute schmerzt. Das Fehlen einer ostdeutschen Elite hatte aber auch zur Folge, dass es keine adäquaten Ansprechpartner für interessierte Westdeutsche mehr gab - nicht zuletzt deshalb ist der "Ossi" für viele Altbundesrepublikaner noch immer das unbekannte Wesen.

Was blieb also für alle Gestrandeten, die in der DDR zu Hause waren und im Westen nicht angekommen sind, als mit der PDS zu sympathisieren? Diese Rolle hat die PDS im Osten stark gemacht. Gysi sah seine Aufgabe in den vergangenen elf Jahren vornehmlich darin, die PDS und deren Sympathisanten salonfähig zu machen, sie in die neue Republik zu überführen. Diesen Weg der wachsenden Akzeptanz schildert er sehr anschaulich; mit der Bundestagswahl 1998 hält er ihn für vollendet. Damals übersprang die PDS erstmals die Fünfprozent-hürde, seither werde sie im Bundestag als linke Kraft ernst genommen. Vorbei sind die Denunzierungen und die, von Gysi eindringlich geschilderte, Verfolgung der vorigen Wahlperiode.

Normalisierung ist eingetreten. Die PDS muss sich seit ihrer Regierungsbeteiligung in Mecklenburg-Vorpommern mit der Wirklichkeit auseinandersetzen und einen geeigneten programmatischen Weg finden. Für diese Aufgabe erscheint Gysi nicht mehr als der richtige Mann. Mit dem Nachlassen der Anfeindungen von außen, so schildert er es, wachsen der Druck und die Kritik von innen. Die PDS wird zu einer normalen Partei, in der man um Mehrheiten kämpfen muss, ohne dass man im voraus weiß, ob man gewinnt. Die dafür nötige Härte fehlt Gysi. Er ist ein intelligenter Politiker - aber auch ein sehr eitler. Gysi will geliebt werden. Verdeckt durch seine offenkundige Streit-lust scheint er ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Harmonie zu besitzen.

Die Bereitschaft zur bedingungslosen Ge-folgschaft wie in den vergangenen Jahren wird es in der PDS zukünftig nicht mehr geben. Der Rückzug von Gysi und Bisky ist nach ihrer Münsteraner Parteitagsniederlage bei der Abstimmung zu bedingten militärische Einsätzen der UNO nur konsequent. Eine neue Generation, so Gysi, muss die PDS in die Zukunft führen. Wer ihr angehören wird und ob sie erfolgreich sein kann, lässt er offen.

Will niemand seine Vision verstehen?

Überhaupt bleibt Gysi seinen Nachfolgern gegenüber distanziert. Zwar nennt er Gabriele Zimmer, Roland Claus und Dietmar Bartsch, aber Gysis Skepsis, ob sie seine Rolle werden ausfüllen können, wird zwischen den Zeilen geradezu überdeutlich. Es ist, als ob er als Rufer in der Wüste stünde - aber niemand versteht seine Vision. Oder will vielleicht niemand sie verstehen? Der Leser jedenfalls wird das Gefühl nicht los, dass Gysi vor allem Recht haben möchte. Nachträglich sollen alle innerparteilichen Kritiker verstummen und erkennen, was sie an ihm hatten. Der Schmerz muss also tief sitzen, tiefer als die Wunden die Gysi von außen zugefügt werden.

Die Kämpfe in der PDS haben gerade erst begonnen. Jetzt, da die Partei teilweise in Ver-antwortung steht, nimmt auch die Öffentlichkeit ihre inneren Brüche wahr. Der Druck wächst, die Entscheidung wird fällig: Fundamentalopposition oder die Verbesserung der Situation der Menschen in kleinen Schritten.

Die PDS wird eine normale Partei - ob sie dann noch attraktiv ist, wird erst die Zeit zeigen. Als ostdeutsche Regionalpartei hat sie nur noch eine geringe Halbwertzeit. Nur als eigenständige Kraft links der SPD hätte sie eine langfristige Existenzberechtigung. Das kann aber nur mit einem steigenden Wähleranteil im Westen funktionieren. Den aber hat man, abgesehen von marginalen Verbesserungen im nordrhein-westfälischen Kommunalwahlkampf, nicht erreicht; die Westexpansion ist missglückt. Die Ursachen sind vielfältig. Da ist das Stigma der Ostpartei, da ist auch die verfehlte Personalpo-litik in westdeutschen Landesverbänden, wo Fundis dominieren, die sonst nirgendwo mehr Anerkennung und Gehör finden. Das alles lässt Gysi aus. Es ist lehrreich, wie wenig Witz selbst ihm bleibt, wenn es ums eigene Leben geht.

Wo werden wir Gregor Gysi noch sehen? Er lässt es offen. Vielleicht als Anwalt. Klienten aus der Wirtschaft, so sagt zumindest Bundeskanzler Schröder vertraulich zu ihm, wird er bekommen "weil für solche Leute der gleiche Stallgeruch entscheidend sei". Oder als Regierender Bürgermeister von Berlin? Zuzutrauen wäre Gysi selbst dieser Coup.

Gregor Gysi, ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn, Hamburg: Verlag Hoffmann & Campe 2001, 384 Seiten, DM 39,80

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