Raus aus der Öko-Nische

In diesem Sommer findet die UN-Konferenz für nachhaltige Entwicklung statt. Dabei geht es um einen umfassenden Ansatz der Reform und Modernisierung. Die Bundesregierung hat das Prinzip Nachhaltigkeit zur Leitlinie ihrer gesamten Politik gemacht

Die Beschäftigung mit der Zukunft hat die Menschen seit jeher fasziniert. Ihre Vorstellun-gen schwankten dabei zwischen apokalyptischen Ängsten und technikgetriebenen Science-Fiction-Ideen. Dass Zukunft nicht einfach kommt, sondern "aus Ideen gemacht" werde oder schon begonnen habe, ist eine Erkenntnis des 20. Jahrhunderts. An dessen Ende versammelten sich die politischen Führer der Welt in Rio und trafen Verabredungen, um die drohende Klimakatastrophe abzuwenden und das Armutsgefälle zwischen den Industrienationen und den Staaten der so genannten Dritten Welt zu überwinden. "Nachhaltige Entwicklung" hieß das Zauberwort, mit dem die Welt in bessere, weil ökologisch verträglichere und vor allem gerechtere Bahnen gelenkt werden sollte: "Den Bedürfnissen der heutigen Generation zu entsprechen, ohne die Möglichkeit künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen", so kennzeichnete die Brundtland-Kommission schon 1987 den kategorischen Imperativ nachhaltiger Politik.


Zehn Jahre sind seit dem Rio-Gipfel vergangen. Politische Bekenntnisse zur nachhaltigen Entwicklung und ambitionierte Auseinandersetzungen über den besten Weg dahin füllen inzwischen Bibliotheken. Das Thema beschäftigte Diskussionszirkel und Talkshows - in der Sache bewegt hat sich jedoch lange Jahre wenig. Auch dies ist ein Grund dafür, dass das Vertrauen in die Durchsetzungsfähigkeit oder -willigkeit von Politik schwand und eine diffuse Ablehnung der als Globalisierung beschriebenen Verkürzung von Distanzen zeitweise beinahe die Oberhand der öffentlichen Meinung in den Industriestaaten gewann. Dabei sehen viele Menschen im Zugang zu globalen Chancen, gerade in der Teilhabe am weltweiten Fortschritt die Möglichkeit, Nachteile auszugleichen, ohne dabei alle Fehler der Industriestaaten zu wiederholen. Deshalb heißt die Antwort auf kritische Fragen zur Globalisierung nachhaltige Entwicklung.


Die Bundesregierung hat im April 2002 die nationale Nachhaltigkeitsstrategie beschlossen. Sie ist der deutsche Beitrag zur Rio-Folgekonferenz - der UN-Weltkonferenz für nachhaltige Entwicklung, die im Sommer 2002 in Johannesburg stattfinden wird. Wir haben den integrativen Ansatz der Nachhaltigkeitsidee aufgegriffen und ein neues Leitbild der nachhaltigen Entwicklung entwickelt, das vier Koordinaten hat: Lebensqualität, Generationengerechtigkeit, internationale Verantwortung und sozialer Zusammenhalt sind unsere Leitlinien für eine gute Zukunft.

Weder Weltuntergang noch Ökotopia

Leitlinien für eine gute Zukunft? Eben das ist die entscheidende Neuerung. Weder formulieren wir eine neue Variante des Weltuntergangs noch belassen wir es bei der Beschreibung schöner Ziele. Verantwortliche Politik steht in der Pflicht, eine Vision mit Handlungsorientierung zu entwickeln. Die nationale Nachhaltigkeitsstrategie nennt deshalb konkrete Ziele, beschreibt die Wege und benennt Wegmarken - Indikatoren, die deutlich machen, wo wir stehen - und welchen weiteren Handlungsbedarf es gibt.


So wollen wir beispielsweise bis 2020 die Energie- und Ressourcenproduktivität verdoppeln, bis 2010 den Anteil erneuerbarer Energien. Mitte des Jahrhunderts soll bereits die Hälfte des Energiebedarfs durch regenerative Energien gedeckt werden - weltweit und hier bei uns. Der Flächenverbrauch von jetzt 130 Hektar pro Tag soll bis 2020 auf maximal 30 Hektar sinken, der Stickstoffüberschuss in der Landwirtschaft bis 2010 auf 80 Kilogramm pro Hektar. Die öffentlichen und privaten Ausgaben für Forschung und Entwicklung sollen bis 2010 kontinuierlich auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen. Und die Möglichkeiten der Ganztagsbetreuung von Kindern sollen in den alten Bundesländern im gleichen Zeitraum auf 30 Prozent ausgeweitet werden - derzeit sind es in manchen Altersgruppen nur knapp 3 Prozent.

Mit dem roten Faden durchs Labyrinth

Mit dem sektorübergreifenden Leitbild holen wir das Thema ganz bewusst aus der Öko-Nische und entwickeln es fort zu einem umfassenden Ansatz der Reform und Modernisierung. Manche grüne Traditionalisten tun sich schwer mit der Ausweitung des Nachhaltigkeitsansatzes über dessen klassische Felder Umwelt, Naturschutz und Entwicklung hinaus. Dies, so wird behauptet, führe zu einer "Verwässerung" der Idee der nachhaltigen Entwicklung. Doch der Vorwurf verkennt den Grad der Vernetzung heutiger komplexer Systeme. Und er übersieht, dass langfristige Notwendigkeiten im Wettbewerb mit kurzfristigen Anforderungen immer dann scheitern werden, wenn sie als Gegensätze verstanden werden.
In der griechischen Antike bediente sich Ariadne von Naxos eines roten Fadens, um den Weg durch ein Labyrinth zu finden. Unser roter Faden ist heute die Idee der Nachhaltigkeit. Er durchzieht alle Bereiche unserer Reformpolitik, von der Haushaltskonsolidierung über die Steuerreform, das Altersvermögensgesetz, Bildung und Forschung bis zur Energiewende und der Neuorientierung der Landwirtschaft.


Viel zu lange wurde die Diskussion um die Nachhaltigkeit gerade auch von ihren Befürworten als Verzichtsdebatte geführt. Abgesehen davon, dass die Prediger der Umkehr - man mag es bedauern oder nüchtern konstatieren - nun einmal nicht erhört worden sind: Wohin sollte die Umkehr führen? An welchem Punkt sollten sich die industrialisierten Staaten mit den weniger entwickelten Regionen treffen? Wir setzen bewusst auf die Steigerung von Effizienz, nicht in erster Linie auf Suffizienz. Denn wer wollte anderen Ländern die Partizipation an Wachstum und Wohlstand verwehren? Da Wirtschafts- und Lebensweisen der Industriestaaten global nicht übertragbar sind, ohne die Lebensgrundlagen für alle zu zerstören, stehen wir in der Verantwortung, ein Wohlstands- und Wohlfahrtsmodell zu entwickeln, das hier wie andernorts attraktiv ist und so hilft, eine rein nachholende Entwicklung in den Ländern des Südens zu vermeiden.

Doppelter Wohlstand, halber Naturverbrauch

Im Mittelpunkt unserer Nachhaltigkeitsstrategie steht die Erhöhung der Energie- und Ressourceneffizienz. Und das nicht allein aus ökologischen, sondern auch aus ökonomischen Gründen: Angesichts des Wachstums der Weltbevölkerung, der stark wachsenden Nachfrage aus Schwellenländern wie China und Indien müssen wir in Zukunft mit steigenden Preisen für Rohstoffe und Energie rechnen. Wer immer knapper werdende Güter effizienter nutzt, wird sich im globalen Wettbewerb besser behaupten. In Zukunft werden Ressourcen- und Energieeffizienz weltweit die Markenzeichen erfolgreicher Volkswirtschaften sein.


Jahrzehntelang haben Unternehmen ihre Anstrengungen zur Rationalisierung im Wesentlichen auf den Faktor Arbeit konzentriert. So stieg in den alten Bundesländern zwischen 1950 und 1991 die Arbeitsproduktivität um den Faktor 4,2. Im gleichen Zeitraum vergrößerte sich die Energieproduktivität jedoch nur um den Faktor 2,1. In Zukunft müssen Steigerungen der Produktivität daher vor allem beim Energie- und Ressourcenverbrauch liegen. Hier brauchen wir eine ähnliche Revolution der Effizienz, wie wir sie bei der Arbeitsproduktivität bereits erreicht haben. Langfristig gibt die Vision "Faktor vier" die Richtung an: Doppelter Wohlstand bei halbem Naturverbrauch.


Schon jetzt gibt es für ressourcenschonende Produkte und Verfahren eine stetig steigende Nachfrage. Deutschland hat gute Chancen, diesen Zukunftsmarkt zu erobern. Weil wir in der nationalen Klimapolitik sehr früh Anstrengungen unternommen haben, entstehen jetzt für viele deutsche Unternehmen Wettbewerbsvorteile. Zum Beispiel in der Energietechnik. Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, dem Hinderttausend-Dächer Programm und weiteren Fördermaßnahmen haben wir die Voraussetzungen für einen massiven Ausbau umweltverträglicher erneuerbarer Energien geschaffen.


Vom Aufschwung in diesem Bereich profitieren vor allem kleine und mittlere Betriebe: die Ingenieur- und Planungsbüros, die Hersteller von Komponenten für Windräder oder Photovoltaikanlagen und viele Handwerksbetriebe, die solche Anlagen installieren und warten. Insgesamt sind schon rund 120.000 Menschen im Bereich erneuerbarer Energien beschäftigt. Nicht nur im Bereich regenerativer Energien setzen wir Schwerpunkte. Mit der Förderung moderner KWK-Anlagen und der Brennstoffzelle schaffen wir Anreize für eine deutlich höhere Energieeffizienz.

Der Staat allein wird es nicht hinbekommen

Potenziale zur Effizienzsteigerung gibt es nicht nur im Energiebereich. Wie weit die "Dematerialisierung" der Produktion gehen kann, zeigen Effizienzsteigerungen beim Wasserverbrauch. Um 1900 brauchte man eine Tonne Wasser, um ein Kilogramm Papier zu erzeugen. 1990 waren es nur noch 64 Kilogramm. Heute arbeiten die modernsten Papierfabriken mit nahezu geschlossenen Kreisläufen, die mit 1,5 Kilogramm Frischwasser auskommen. Je weniger Energie und Rohstoffe wir in Produktion oder Dienstleistung einsetzen müssen, desto höher wird die "Gewinnspanne" für Umwelt und Wirtschaft. So enstehen durch Ressourceneffizienz zukunftsfähiges Wachstum und zukunftssichere Arbeitsplätze.


Die Bundesregierung schafft dafür die Rahmenbedingungen und gibt mit Förderprogrammen und Zielvereinbarungen die notwendigen Anstöße für eine nachhaltige Entwicklung. Aufgabe der Akteure in Wirtschaft und Gesellschaft ist es, diese Rahmenbedingungen für Nachhaltigkeit in ihren jeweiligen Verantwortungsbereichen mit Leben zu erfüllen. Der Glaube, dass Nachhaltigkeit vor allem durch staatliches Handeln erreicht würde, offenbart eine unrealistische Staatsgläubigkeit. Denn Verbraucher und Unternehmer entscheiden mit ihrem Konsum- und Investitionsverhalten ebenso über Nachhaltigkeit wie der Staat mit seinen Gesetzen, Verordnungen, Förderprogrammen und Zielvereinbarungen.

Keine Nachhaltigkeit ohne Partizipation

Um die Akzeptanz der Strategie zu erhöhen und von den Erfahrungen unterschiedlicher Akteure zu profitieren, haben wir bei der Erarbeitung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie bewusst einen partizipativen Ansatz gewählt. Die Nachhaltigkeitsstrategie steht deshalb auch für einen neuen Politikstil. Erstmals hatten Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, aktiv an einem Strategiepapier der Bundesregierung mitzuwirken. Die Eckpunkte sowie ein erster Entwurf der Strategie wurden im Internet-Forum "Dialog Nachhaltigkeit" zur Diskussion gestellt. Die eingegangenen Anregungen und Vorschläge wurden ebenso in die Strategie einbezogen wie die Stellungnahmen zahlreicher gesellschaftlicher Gruppen. Wichtige Beiträge lieferte besonders der von Bundeskanzler Gerhard Schröder im April 2001 berufene Rat für Nachhaltige Entwicklung unter Leitung von Volker Hauff.


Mit der Strategie rücken wir die Chancen nachhaltiger Entwicklung in den Mittelpunkt: Zukunftsfähige Arbeitsplätze, Wirtschaftswachstum, das dauerhaft ist, weil es nicht zu Lasten der Umwelt geht, die Erhaltung einer intakten Natur für unsere Kinder und Enkel. Denn nur wenn es gelingt, die Menschen davon zu überzeugen, dass mehr Nachhaltigkeit auch für sie persönlich mehr Lebensqualität bedeutet, werden wir die notwendige Akzeptanz gewinnen, national wie international.

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