Putins Regime verstehen

Walter Laqueur analysiert auf meisterhafte Weise die russische Geheimdienstdiktatur - und sieht Russlands Zukunft dennoch im Westen

Das Zweite Minsker Abkommen vom 12. Februar 2015 brachte eine gewisse Beruhigung in den Ukraine-Konflikt. Gleichwohl starben bei den Gefechten im Osten des Landes immer noch täglich Menschen, im Juni mehrten sich Anzeichen einer erneuten Eskalation. Eine dauerhafte Befriedung jedenfalls steht weiterhin aus. Für den Beobachter politischer Verhältnisse ist es dabei geradezu unmöglich, abschließende Urteile über Ursachen, Verlauf und wünsch­enswerte Lösungen dieses Großkonflikts zu fällen, der immer mehr als Zäsur in der Geschichte der internationalen Beziehungen erscheint. Möglicherweise wird die Annexion der Krim durch die Russische Föderation im März 2014 bald als Endpunkt jener Phase nach dem Ende des Kalten Krieges gelten, die durch die Charta von Paris am 21. November 1990 eingeläutet wurde.

Erstmals regiert die politische Polizei

Angesichts der Gemengelage des Konflikts, in der Information und Desinformation, Verschwörungstheorien und Ressentiments nur so sprießen, ist es hilfreich, sich einmal ausführlich und sachlich mit dem Regime auseinanderzusetzen, das bis heute seine aktive militärische Unterstützung bei den Kämpfen im Osten der Ukraine leugnet: Wladimir Putins Russland. Walter Laqueurs Putinismus ist der bislang gehaltvollste Versuch, das heutige Russland zu verstehen und mögliche Entwicklungsperspektiven aufzuzeigen. Man merkt dem Buch schon auf den ersten Seiten an, das hier ein echter Kenner der Materie am Werk ist, der nicht nur die politische Lage im Blick hat, sondern seine Thesen mit Befunden aus Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft und Religion untermauert.

Umso glaubwürdiger wirkt Laqueur, wenn er in bester Tradition der Kreml-Astrologie des Kalten Krieges nur Vermutungen bezüglich der Motivationslagen einzelner Personen oder Personengruppen aufstellen kann, etwa wenn es um die neuen starken Männer im Umkreis Putins geht, der aus dem Geheimdienst stammenden Silowiki: „Loyalität war der ausschlaggebende Faktor. Aber Loyalität wem gegenüber – einer Person oder einer Sache? Und wenn es eine Sache war, welcher? Sicherlich nicht mehr dem Sowjetkommunismus wie in der Vergangenheit. Also dem ‚heiligen‘ Vaterland und dessen gegenwärtigen Führern?“ Die naheliegende Vermutung, dass die erwähnte Loyalität der Silowiki einzig der Person Putins gilt, relativiert Laqueur: Niemand habe Putin 1999 auf dem Zettel gehabt. „Der Putinismus … basiert auf einem autoritären Regime, das die Interessen verschiedener Gruppen der russischen Gesellschaft berücksichtigt. … Der Posten des obersten Befehlshabers ist eher zufällig besetzt: Hätte Jelzin nicht Putin ernannt, hätte ein anderer mit einem ähnlichen Hintergrund seine Rolle übernommen.“ Laqueur zufolge war der Übergang zum Putinismus ein historisch beispielloser Vorgang, bei dem aktive und ehemalige höhere KGB-Mitarbeiter auf führende Positionen gelangen konnten, nachdem sich die kommunistische Nomenklatura und später die Oligarchen desavouiert hatten: „In der Geschichte hatten in verschiedenen Regimen Reiche und Superreiche politische Machtpositio­nen erklommen, und in Militärdiktaturen waren Oberste und Generale an die Spitze gelangt. Aber die politische Polizei hatte noch nie das Kommando gehabt, nicht im Faschismus und in anderen politischen Regimen ohnehin nicht.“

Die Eurasier und ihr imaginärer Osten

Was das unter anderem bedeutet, daraus macht Laqueur keinen Hehl: „Das politische System Russlands ist gegenwärtig eine Diktatur mit großer Unterstützung der Bevölkerung.“ Es handele sich um „eine von der Mehrheit gestützte Diktatur“, „solange alles gutgeht“. Der Erfolg basierte dabei auf zwei Faktoren: auf der gestiegenen Nachfrage nach Erdöl und Erdgas und damit einer erheblichen Verbesserung der Staatsfinanzen sowie auf dem Chaos beim Übergang vom Kommunismus zur Marktwirtschaft, das der Putinismus durch eine Stärkung der Staatsmacht mehr oder weniger erfolgreich beheben konnte.

Nach diesen allgemeineren Betrachtungen nimmt Laqueur einige Tiefenbohrungen vor und befasst sich ausführlich mit den „Grundpfeilern der neuen ‚russischen Idee‘“. Hier werden Akteure der russisch-orthodoxen Kirche, führende Denker der russischen Rechten und die Ideologie des Eurasianismus – also der Abkehr vom Westen zugunsten einer vermeintlich östlicheren Philosophie – in all ihren Widersprüchen analysiert. Der in den vergangenen Jahren salonfähig gewordene Philosoph Alexander Dugin und sein Einfluss auf die aktuelle Regierungspolitik werden ausführlicher betrachtet. Dabei zerlegt Laqueur die Argumente und Ideologiegebilde der Eurasianer und zeigt, dass sich ihre politischen Vorstellungen auf einen größtenteils imaginären Osten und ein imaginäres Asien beziehen.

Überhaupt sieht Laqueur die Zukunft Russlands immer noch im Westen. So lautet der Untertitel der englischsprachigen Originalausgabe auch Russias Future in the West. Denn welches Thema er auch in den folgenden Kapiteln angeht, ob die Hinwendung zu China, die ungünstige Demografie, die orientierungslose Jugend, die wachsende muslimische Minderheit im Land, die ökonomischen Perspektiven jenseits von Erdöl und Erdgas – immer wieder kommt Laqueur zu dem Schluss, dass Russland von einer Integration in den Westen wesentlich stärker profitieren würde als von der Hinwendung zu China. In letzterem Szenario bliebe Russland lediglich die Rolle des „jüngeren Bruders“, was angesichts des russischen Anspruchs, auf Augenhöhe zu operieren, nur schwer vorstellbar ist.

Eine prowestliche Entwicklung ist allerdings in naher Zukunft sehr unwahrscheinlich, nicht zuletzt angesichts der extrem hohen Zustimmung der russischen Bevölkerung zum momentanen Kurs ihres Präsidenten. Deshalb spricht Laqueur auch von einem „unvermeidlichen Lernprozess“, den das Land erst durchlaufen müsse. Schließlich teilt er die widerstreitenden Interessen, denen die russische Führung momentan ausgesetzt ist, in zwei Lager ein. Während die einen weiterhin auf gute wirtschaftliche Beziehungen zum Westen setzen und ein Ende der Konfrontation ersehnen, wähnt eine aggressiv nationalistische Richtung den Zeitpunkt gekommen, um angesichts der vermeintlichen Schwäche der Vereinigten Staaten sowie der EU den Vormarsch des Westens in den vergangenen 25 Jahren rückgängig zu machen und militärisch in Ost- und Mitteleuropa einzugreifen.

War der G8-Rausschmiss ein Fehler?

Gerade weil das friedlichere Lager unbedingt gestärkt werden muss, zeigt sich, dass der Ausschluss Russlands aus der Gruppe der G8 im Zuge der Krimkrise ein schwerer Fehler war. Dieses Forum, und nicht die zahlreichen Ersatz-Foren, die seither geschaffen wurden, hätte dazu dienen können, das Gespräch auf höchster Ebene am Laufen zu halten und dem Putin-Regime zu zeigen, dass weiterhin auf Augenhöhe mit ihm verhandelt wird. Gerade daran ist Russland gelegen, wie die konstruktive Rolle belegt, die es bei den jüngsten Atomverhandlungen mit dem Iran gespielt hat. Russland will unbedingt als gleichberechtigter Partner in der Weltpolitik anerkannt werden. Auch wenn dies angesichts der russischen Aggression im Osten der Ukraine und dem zunehmend diktatorischen Charakter des Putin-Regimes schwer fällt, sollte nicht vergessen werden, dass die heute parteiübergreifend als wegweisend und richtig anerkannte Ostpolitik Willy Brandts im Jahre 1969 begann. Gerade erst ein Jahr zuvor waren Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei einmarschiert – Brandts Ostpolitik reagierte auf die größte Militäroperation in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier knüpft mit seiner Skepsis gegenüber dem Rausschmiss Russlands aus der G8 an die Tradition fortgesetzter Diplomatie selbst in Krisenzeiten an. Die Richtung gibt jedoch die Bundeskanzlerin vor, die einen konfrontativeren Kurs verfolgt. Walter Laqueurs Buch trägt entscheidend dazu bei, das heutige Russland und seine Politik zu verstehen. Es hebt sich wohltuend vom oberflächlichen Untergangsgeraune ab, das noch den Vorgängerband Europa nach dem Fall bestimmte. Bei aller Offenheit der aufgezeigten Szenarien zeigt es auf eindrucksvolle Weise, dass „der Hass und die Feindschaft“ zwischen dem Westen und Russland „letztlich eine Täuschung und ein Irrtum ist“ (Thomas Mann).«

Walter Laqueur, Putinismus: Wohin treibt Russland?, Berlin: Propyläen Verlag 2015, 336 Seiten, 22 Euro

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