Politik und Idioten

In Griechenland hat die schwere Wirtschaftskrise das alte Parteiensystem aus den Angeln gehoben und die Einstellung der Bürger zur Politik komplett verändert: Die Menschen kümmern sich nur noch um ihre privaten Angelegenheiten. Die kommenden Wahlen werden zeigen, ob sich das wieder ändert

In seinem Ursprungsland Griechenland ist „Idiot“ ein hochpolitisches Schimpfwort, denn es bedeutet nichts anderes als „Privatmann“. Im Altgriechischen wurden so abwertend alle Bürger bezeichnet, die sich nicht mit der Polis befassten, sondern nur um ihre Privatangelegenheiten kümmerten.

Im heutigen Griechenland hat sich die altgriechische Wertung beinahe ins Gegenteil verkehrt: Wer sich mit Politik befasst, wird in den Kaffeehäusern mit Worten belegt, gegen die der deutsche Begriff „Idiot“ harmlos ist. Stattdessen konzentrieren sich die meisten Menschen auf ihre Privatangelegenheiten, die nicht selten von Sorgen und Nöten diktiert werden. Die Erneuerung von Politik und Parteien wird gern gefordert, nur findet sich kaum jemand, der sich dieser Aufgabe widmen will. So bleibt die Politik in den Händen derjenigen, die sie seit Jahren betreiben.

Dennoch ist die Parteienlandschaft in Bewegung. Die Wirtschaftskrise hat die gesellschaftlichen und politischen Fundamente des Landes erschüttert. Die Enttäuschung und Frustration der Bürger haben aber nicht zu Politikverdrossenheit, sondern vielmehr zu Politiker- und Parteienverdrossenheit geführt. Das Parteiensystem bestand bis 2009 maßgeblich aus zwei Parteien, der sozialistischen PASOK und der konservativen Nea Demokratia (ND). Mittlerweile aber hat sich das vormalige griechische Zweiparteiensystem zu einem Mehrparteiensystem entwickelt. In Bezug auf die anstehenden Europa- und Kommunalwahlen am 25. Mai 2014 zeichnen sich drei Trends ab.

Die politische Mitte ist geschwächt

Erstens ist die Parteienlandschaft undurchsichtiger geworden. Mit der Trennung zwischen den so genannten Memorandumsparteien und den Antimemorandumsparteien wurden die politischen Ränder gestärkt und die Parteien der Mitte – ND, PASOK und die Demokratische Linke DIMAR – geschwächt. Im Jahr 2012 erhielten Befürworter und Gegner der Reformpolitik jeweils etwa die Hälfte der Stimmen. Seither verläuft die Polarisierung vornehmlich zwischen Innen und Außen. Am stärksten hat davon die linkspopulistische Partei SYRIZA unter Alexis Tsipras profitiert. Sie könnte bei den Europawahlen stärkste Partei werden und gilt als mögliche kommende Regierungspartei. Tsipras selbst tritt als Spitzenkandidat der Europäischen Linken an. Sein eigentliches Ziel ist aber das Amt des Ministerpräsidenten in Athen. Ein Zugewinn seiner Partei bei den Europawahlen könnte hierfür ein wichtiger Schritt sein.

Am rechten Rand agieren zum einen die Unabhängigen Griechen mit dem ehemaligen ND-Minister Panos Kammenos, die mit rechtspopulistischen und antideutschen Slogans ins Parlament einzogen, zum anderen die Chrysi Avgi, das „Goldene Morgengrauen“. Es handelt sich um eine Nazipartei, die mit eindeutigen Anleihen an die NSDAP auftritt. Die Chrysi Avgi ist mit knapp sieben Prozent der Stimmen im Parlament vertreten und liegt in den Umfragen aktuell bei fast zehn Prozent. Allerdings sind die Werte in den vergangenen Wochen leicht zurückgegangen. Die Unabhängigen Griechen drohen bei der Wahl zum Europäischen Parlament an der Drei-Prozent-Hürde zu scheitern.

Koalitionen sind in Griechenland ungewohnt

Auch die Umfragewerte der beiden Regierungsparteien erodieren. So bewegt sich die PASOK – im neuen Gewand der „Elia“ – nur knapp oberhalb der Fünf-Prozent-Marke. Die ND muss ebenfalls mit Verlusten rechnen, wenn auch in geringerem Ausmaß. Die neue Polarisierung und Differenzierung des Parteiensystems führt dazu, dass nur noch Parteienkoalitionen Mehrheiten erlangen können. Für Athen ist das neu. Kooperation und Kompromissfindung müssen erst neu eingeübt werden. Außerdem ist unklar, welche Konstellationen außer der momentanen Koalition denkbar sind, da die ideologischen Differenzen im Lager der Memorandumsgegner gewaltig sind.

Zweitens klafft Mitte-links ein Krater, der nach der Implosion der PASOK im Jahr 2012 entstand, als nach den Parlamentswahlen die Wähler und Mitglieder davonliefen und die Parteistrukturen erodierten. Der Partei wird nicht nur angelastet, die Krise von Beginn an falsch gehandhabt zu haben, sondern ihr wird auch vorgeworfen, in den vielen Regierungsjahren seit 1981 den Keim für die heutige Krise gelegt zu haben. Alle Versuche, die Partei zu erneuern, scheiterten. Seit Jahren rangiert der Parteichef und Außenminister Evangelos Venizelos am untersten Ende der Popularitätsskala.

In das politische Vakuum nach dem weitgehenden Zusammenbruch der PASOK sind zahlreiche kleinere Parteien und Bewegungen gestoßen. Einige davon sind in erster Linie Vehikel für persönliche Ambitionen, andere verstehen sich bewusst nicht als Parteien, sondern als Plattformen und Foren zur Wiederbelebung der Sozialdemokratie. Der letzte Versuch einer Gruppe von 58 Akademikern, dieses bunte Spektrum zu vereinigen, scheiterte am Unwillen von DIMAR und PASOK, sich in eine gleichberechtigte Zusammenarbeit miteinander und mit anderen zu begeben. Stattdessen tritt DIMAR gesondert an, während die PASOK quasi in Eigenregie die griechische „Elia“ (Olive oder Olivenbaum) als Koalition der Mitte-links-Kräfte ins Leben gerufen hat. Beide Kräfte befinden sich unter dem Dach der Europäischen Sozialisten.

Dieses Minenfeld wird seit Anfang März von der neuen Partei „To Potami“ (Der Fluss) zusätzlich in Unruhe versetzt. Der bekannte Fernsehjournalist Stavros Theodorakis hat eine Bewegung ins Leben gerufen, die frisch wirkt. Diese hat zwar keine klaren Inhalte, aber propagiert einen Politikwechsel und will nach Lösungen suchen, anstatt politische Hahnenkämpfe auszutragen. „Der Fluss“ ist in den Umfragen aus dem Stand auf knapp zehn Prozent angeschwollen und könnte vor allem den Parteien im linken Spektrum sowie den Linkspopulisten von SYRIZA Wähler abgraben. So zersplittert die linke Mitte weiter.

Drittens ist Europa nur dabei, nicht mittendrin. Obwohl Griechenlands tägliche Politik massiv durch und von Europa beeinflusst wird, etwa durch die Politik der Troika oder aufgrund der aktuellen EU-Ratspräsidentschaft des Landes, spielt die Europäische Union im Hinblick auf den 25. Mai kaum eine Rolle. Stattdessen versucht die Opposition, den Wahlgang zu einem Referendum über die Sparpolitik zu stilisieren. Die Regierung weicht diesem Manöver einerseits aus, versucht jedoch andererseits, den Bürgern die Erfolge der Reformpolitik schmackhaft zu machen, indem sie ausgiebig diskutiert, wie und vor allem an wen der Primärüberschuss verteilt werden kann. Europa taucht in den Debatten nur schlagwortartig und instrumentell auf.

Die Europawahl wird zum Frustventil

Die Kommunalwahlen bekommen viel mehr Aufmerksamkeit. Es zeichnet sich ein sehr differenziertes Wahlverhalten ab. Auf kommunaler Ebene herrscht Pragmatismus vor; die Kandidaten werden auf ihre Konzepte zur Gestaltung der Kommunen hin geprüft. Die Parteizugehörigkeit verliert dabei an Bedeutung oder ist gar eine Last. Die Europawahlen könnten dagegen zum Ventil der Frustration werden – sei es, um Unmut auszudrücken, über die Regierung, die Politiker im Allgemeinen oder über den Zustand der Politik, die als Geschäft betrachtet wird, in dem unter dem Vorwand des Gemeinwohls private Interessen bedient werden.

Diese „Idiotisierung“ der Politik, die zunehmend aus der Zivilgesellschaft, aber auch von neuen Bewegungen angeprangert wird, wird immer weniger akzeptiert. Mithin könnten die Ergebnisse der Europawahlen und der Kommunalwahlen einige Indizien dafür liefern, inwiefern es gelingt, die Sphäre der Politik wieder mit der Sphäre der Bürger zu verbinden – und die griechischen „Idioten“ wieder für die „Polis“ zu erwärmen.

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