Politik funktioniert wie Marktwirtschaft

Unlängst haben Larissa Giehl und Kerstin Griese in der Berliner Republik begründet, warum vom Kinderwahlrecht nicht viel zu halten sei. Doch weil in der Demokratie zu kurz kommt, wer keine Stimme hat, brauchen wir innovative neue Instrumente

In der Berliner Republik 6/2003 haben Larissa Giehl und Kerstin Griese die fraktionsübergreifende Initiative für ein Kinderwahlrecht verrissen, das von Eltern als gesetzlichen Vertreterinnen und Vertretern ausgeübt werden soll. Der Vorschlag sei "verfassungswidrig", kein Beitrag zur Demokratie, das Gegenteil emanzipatorischer Jugendarbeit und lenke von der Diskussion über mehr Kinderfreundlichkeit ab. Gefordert seien nicht Alibi-Instrumente sondern echte Mitentscheidungsmöglichkeiten (!), wie es einige Jugendparlamente oder andere Modelle jugendpolitischer Vertretungen vormachten. Als Mitunterstützer der Kinderwahlrechtsinitiative danke ich den beiden Autorinnen für die Zusammenfassung der üblichen Bedenken. Ich möchte aber die Gelegenheit ergreifen, dazu Stellung zu nehmen.

Ich bin zutiefst überzeugt, dass unsere Demokratie Innovationen braucht. Speziell die Verwirklichung von Kinderrechten und die Partizipation von Kindern bedürfen eines neuen Impulses, wenn es nicht bei "Sonntagsreden" und einem dauerhaften Selbstbetrug bleiben soll. Symbolische Aktivitäten sind gut und schön - für sich genommen aber verhindern sie selbst die Erfüllung der gesteckten Ziele.

Politik funktioniert, grob gesagt, wie die Marktwirtschaft. Wer nicht wählen kann (wie Kinder oder Ausländer) ist auf die Almosen der Parteien angewiesen, die aus rationalen Gründen ihre wählenden Interessengruppen bedienen. Dass Kinder, Betreuung und Bildung jetzt als Zukunftsthemen erkannt wurden, hat mehr mit den Existenzängsten der Alten (Rentensorgen) und der Wirtschaft (Nachwuchs- und Qualitätssorgen) zu tun als mit echter Kinderfreundlichkeit. Die Kosten der Geburtsverweigerung und einer verkorksten Jugend ohne Perspektive (Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Drogen, Migrantenkinder, Vandalismus) sind zu hoch, um sich weiter die Verleugnung der Kinder- und Familieninteressen leisten zu können. Dennoch werden in Zukunft die Interessen einer "alten Gesellschaft" dominieren.

Wer glaubt eigentlich, das Kinder- und Jugendparlamente mehr sind als Meinungsumfragen und Trainingcamps für zukünftige Juso- und JU-Funktionäre? Wer wie ich viele Modelle in der Praxis erlebt hat, weiß, dass "Mitentscheidung" nur bedeuten kann, dass die Politikstrukturen der Erwachsenen auf Macht verzichten - und die Beschlüsse der Kinder und Jugendlichen tatsächlich durch diese selbst in die Tat umgesetzt werden. Erst dann wird die Sache interessant und glaubwürdig. Das heißt nicht, dass ich nicht weiterhin auch Übungsfelder unterstützen will.

Auf Ideen kommt es an

Natürlich ist eine Grundgesetzänderung ein schwieriges Projekt, aber es ist wie bei allen echten Innovationen die Idee, die etwas bewirken soll, die einen Diskurs in Bewegung setzen kann. Es sind auch in dieser Sache nicht die gebetsmühlenartigen Bedenken und Blockaden, die etwas verändern oder gar verbessern können. Ich halte drei Grundthesen für richtig:

Erstens, Kinder sind eigenständige Persönlichkeiten. Sie sollen, so früh es geht, ihrer Entwicklung entsprechend gefördert und an allen sie betreffenden Angelegenheiten beteiligt werden. Nur so können sie zu kritikfähigen und selbstbestimmten Individuen heranwachsen, die ihre soziale und politische Verantwortung in der Familie, in Gruppen und in der Gesellschaft insgesamt wahrnehmen. Diese für die Persönlichkeitsentfaltung und die Demokratie selbst notwendigen Prozesse müssen so früh und weit es geht in der Familie, in Kinderhäusern, Schulen, im Stadtteil und in Vereinen gefördert und eingeübt, aber bei allen öffentlichen Belangen und Verfahren auch institutionell mehr (und nicht nur als Symbolveranstaltung ohne konkrete Folgen) verankert werden.

15 Millionen Deutsche sind ausgegrenzt

Zweitens, das Wahlrecht unserer Verfassung steht im Rang unter den Grundrechten, deren Träger auch die 15 Millionen Kinder im Alter von null bis achtzehn Jahren sind. Sie sind also ein Teil des Souveräns, des Staatsvolkes im Sinne des Grundgesetzes. Insofern geht es bei der geltenden Praxis um einen Verfassungs-konflikt, für den wir eine Lösung vorschlagen. Das persönliche Wahlrecht wird aufgrund eines nachrangigen Artikels aus nachvollziehbaren Gründen in der persönlichen Durchführung einschränkt. Diese Bestimmung ist aber der jeweiligen politischen Gestaltung unterworfen (siehe die Senkung des Wahlalters von 21 Jahren auf 18 Jahre oder auf 16 Jahre bei Landtags- und Kommunalwahlen; Ausländerwahlrecht in Ländern). Es geht also beim Kinderwahlrecht nicht um die Diskriminierung kinderloser Wähler und Wählerinnen, sondern um die Verringerung der Ausgrenzung von 15 Millionen Deutschen aus der Demokratie.

Drittens, die tatsächlichen Bedingungen der Verwirklichung von Interessen und Grundrechten, die politische Gestaltung im Sinne der Förderung von Würde, Menschenrechten und Persönlichkeitsent-wicklung - all dies wird erst Realität, wenn die Rechte unterschiedlicher Gruppen tatsächlich gleich sind. Daher gibt es einen dialektischen Zusammenhang zwischen unserer ökonomisch und sozial gut begründeten Kinder- und Familienpolitik und dem Fortschritt in der tatsächlichen Entwicklung der Rechte und Interessenlagen von Kindern. Ihnen von den bestimmenden Gruppen und Eliten "großzügig" angebotene Beteiligung wird zu Recht von Anbietern und Betroffenen nicht ernst genommen. Der Grundsatz One man, one vote! gilt also auch bei Kindern.

Vor den machtpolitischen, pragmatischen und systemischen Fragen stellen sich grundsätzliche: Ist dieser radikaldemokratische Ansatz der Kinderpolitik eine politische Aufgabe für uns? Und wenn ja, können Kinderrechte durch die Senkung des Wahlalters besser als bisher realisiert werden? Oder durch das Vertretungsrecht (das ja nach dem Grundgesetz auch eine Pflicht und Verantwortung der Eltern gegenüber ihren Kindern ist und in anderen öffentlich-rechtlichen Belangen selbstverständlich akzeptiert wird)?

Die persönliche Wahrnehmung des Wahlrechts von der Geburt an ist absurd, eine Wahlrechtssenkung schon realistischer, aber zu Recht umstritten. Sie löst nur einen geringen Teil des Problems, nämlich denjenigen der 16- bis 18-Jährigen. Bei allen Diskussionen mit Jugendlichen in den betroffenen Altersstufen sind übrigens zwei Drittel gegen eine Wahlaltersenkung - die wenigen Juso- und JU-Funktionäre hingegen dafür. Auf Parteitagen ist die Mehrheit meist dagegen. Zielkonflikte ergeben sich aus - davon zu Recht abgeleiteten - Forderungen nach der Senkung des Alters von Volljährigkeit und Strafmündigkeit.

Kinder als "Verfügungsmasse" der Eltern?

Mit guten Gründen wird gegen die Wahrnehmung des Kinderwahlrechts durch die Eltern eingewandt, dass auf diese Weise die Sichtweise, Kinder seien Besitz oder Verfügungsmasse der Eltern, gestärkt und das Kinderwahlrecht für parteipolitische Interessen der jeweiligen Elternteile missbraucht werden könnten. Aber sind diese Bedenken wirklich ausreichende Argumente in einer stabilen Demokratie? Immerhin verkraftet diese heute noch ganz andere Probleme und Widersprüche, die wir gerne lösen würden - etwa massenweise Wahlenthaltung. Die Risiken und Chancen wären in Wirklichkeit für alle demokratischen Parteien gleich. Die vordergründigen praktischen Schwierigkeiten werden, auch wenn es schwierig ist, in allen anderen Lebensbereichen, auch in öffentlich-rechtlichen, irgendwie gelöst. Warum sollte das nicht auch in der Wahrnehmung des Kinderwahlrechts bei Fragen wie "Wer von den Eltern mit einem Kind soll das Wahlrecht ausüben"? oder "Wie machen das geschiedene Eltern"? möglich sein.

Warum das eine tun, das andere aber lassen?

Jugendverbände vertreten zu Recht die Auffassung, Kinder müssten sich selbst organisieren und ihre Rechte eigenständig erkennen, einfordern und organisieren, weil sie kein Anhängsel ihrer Eltern sein sollen. Sehen wir einmal von den üblichen Eigeninteressen der organisierten Kinderlobby und ihrer Funktionäre ab, deren Einfluss tatsächlich leider immer mehr abnimmt, teile ich diese Position grundsätzlich. Aber warum sollten wir das eine tun, das andere aber lassen? Warum sprechen die unterstützungswürdigen Aktivitäten der Kinder- und Jugendarbeit, der Verbände und Initiativen, der Kommunalpolitik gegen das "Kinderwahlrecht", das von Eltern bis zum 18. Lebensjahr ihrer Kinder verantwortlich wahrgenommen werden soll? Warum sollte dasselbe für die Partizipationsforderung gelten, die im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankert ist? Das kann mir bisher niemand sagen.

Im Gegensatz zu Larissa Giehl und Kerstin Griese glaube ich, dass umgekehrt ein Paar Schuhe daraus wird mit dem Kinder besser laufen lernen. Beides ist notwendig und würde sich gegenseitig verstärken: Mehr praktische Einübung von Demokratie in allen Lebensbereichen der Kinder und Jugendlichen und zugleich die Verwirklichung des Kinderwahlrechts. Eine dogmatische Ablehnung dieser Initiative und des Gruppenantrages ohne die Benennung weiterführender Alternativen halte ich nicht für glaubwürdig. Es wäre perspektivlos, bei besserem Wissen sogar zynisch, wenn der Linken keine andere politische Antwort einfallen würde.

Ich kann mir gut vorstellen, dass bereits die heftige öffentliche Debatte über das Kinderwahlrecht, vor allem aber dessen Verwirklichung selbst, Prozesse in Bewegung setzt - Prozesse, die in den meisten Familien zwischen zunehmend reifer werdenden Kindern und ihren Eltern und dann in viele gesellschaftliche Bereiche hinein politisierend und demokratisierend wirken können. Der Missbrauch durch Eltern, der zweifellos auch vorkommen wird, ist aushaltbar und kann sogar produktiv genutzt werden.

Das Wahrnehmungsrecht der Eltern für das Wahlrecht ihrer Kinder, würde mehr elterliche Verantwortung im Sinne einer geforderten und reflektierten Pflicht bedeuten. Dass diese Pflicht ernst genommen wird, lässt sich gewiss nicht erzwingen. Gerade deshalb aber handelte es sich hier um einen Baustein neuer Politik, die den Menschen und Familien mehr Eigenverantwortung geben, sie weniger bevormunden und den übertrieben fürsorglichen Staat abbauen würde.

Ein "weiches" Thema, das Gefühle bewegt

Die Auswertungen der letzten Landtags- und Bundestagswahlen haben gezeigt, dass es für Sozialdemokraten lohnend und auch längerfristig Erfolg versprechend ist, das Thema der Kinder- und Familieninteressen offensiv zu besetzen. Es liegt in der Mitte der Gesellschaft. Es ist ein "weiches" Thema, das Gefühle bewegt, zugleich aber vor dem Hintergrund der Demografie auch ein sehr "hartes" Querschnittsthema. Unsere Politik auf diesem Feld wird sehr nachhaltig die Zukunftsfähigkeit, die Gerechtigkeit und den Wohlstand unserer Gesellschaft beeinflussen.

Abgesehen von einigen Korrekturen spricht viel gegen die weitere fiskalische Benachteiligung "Kinderloser" durch den Staat. Sie tragen bereits heute im Rahmen der steuerlichen und beitragsfinanzierten Umverteilung Leistungen für Kinder und Familien. Die Entscheidung für Kinder darf und kann nicht fiskalisch erzwungen werden. Sondersteuern (etwa auf Erbschaften oder Vermögen) für Bildung und Betreu-ungsstrukturen sind natürlich dennoch sinnvoll.

Ich bin ernsthaft überzeugt, dass dieser, auf den ersten Blick vielleicht exotisch anmutende Vorschlag dazu beitragen kann, die Kinder- und Familienpolitik in die Offensive zu bringen. Und auch die SPD.

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