Plädoyer für eine maßvolle EU

Die niederländische Regierung hat eine "Subsidiarity Review" in Auftrag gegeben, in der die Kompetenzen der EU kritisch geprüft werden. Machen sich die Niederländer gemeinsam mit David Cameron und Angela Merkel daran, Europa zu renationalisieren?

„Werden die Niederlande dem britischen Premierminister David Cameron helfen, die Europäische Union zu reformieren?” So lautet der Titel der Subsidiarity Review, einer Analyse des Centre for European Reform im Auftrag der niederländischen Regierung, in dem die Kompetenzzuweisungen an die Europäische Union überprüft werden. In der Tat sucht David Cameron nach Verbündeten, um die Bedingungen der britischen EU-Mitgliedschaft neu zu verhandeln. „Ich will einen besseren Deal für Großbritannien“, hatte er in seiner Europarede vom Januar dieses Jahres angekündigt. Und die Niederländer sieht er dabei als Mitstreiter. Denn es war Hollands Premier Mark Rutte, der mit Cameron übereinstimmte, dass „die Zeit einer immer umfassenderen Union in sämtlichen Politikfeldern hinter uns liegt“. Deshalb applaudierte Cameron – der seine EU-Rede ursprünglich in Den Haag halten wollte – der holländischen Regierung zu ihrer Subsidiaritätsanalyse: Hier werde „sorgfältig beobachtet, was die EU als Ganze tun und was sie lassen sollte“.

Inzwischen könnte es auch heißen: „Werden die Niederlande Cameron und Merkel helfen, die EU zu reformieren?” Denn überraschenderweise merkte die deutsche Kanzlerin jüngst in einem Wahlkampfinterview an, dass Kompetenzen von der europäischen Ebene an die Mitglieder zurückgegeben werden könnten: „Wir müssen nicht alles in Brüssel entscheiden, wir können auch erwägen, Dinge zurückzugeben. … In den Niederlanden wird diese Frage aktuell diskutiert. Nach der Wahl werden wir das auch tun.“

In Großbritannien wurden diese Sätze als Unterstützung für Camerons Vorstoß gewertet, die Beziehung zwischen dem Königreich und der EU neu auszuhandeln. Vor allem Großbritanniens europafeindliche Boulevardzeitungen begrüßten Merkels Äußerungen, die in den Niederlanden und in Deutschland kaum Beachtung fanden. Einige Beobachter werteten die Sätze als wahltaktischen Schachzug, um EU-skeptische CDU-Wähler davon abzuhalten, zur Anti-Euro-Partei AfD abzuwandern. Worum aber geht es überhaupt in der Subsidiarity Review der niederländischen Regierung?

Die niederländische Regierung präsentierte die Ergebnisse der Analyse unter dem Slogan „Europa wenn nötig, national wenn möglich“. Dieser steht für die Kritik, die EU vernachlässige die Prinzipien der Subsidiarität und der Proportionalität. Um einer schleichenden Einmischung der EU in die nationale Politik der Mitgliedsstaaten entgegenzuwirken, legt die Studie eine Liste von neun grundlegenden Empfehlungen für den legislativen Prozess der EU sowie 54 Ansatzpunkten für spezifische Maßnahmen vor. Diese sollen dem niederländischen Außenministerium zufolge zunächst im nationalen Parlament diskutiert und anschließend in die EU eingebracht werden. Neben der Bezeichnung einiger Felder, in denen die EU zu größerer gesetzgeberischer Zurückhaltung aufgefordert wird – unter anderem im Strafprozessrecht, in der Direktbesteuerung und den Sozialversicherungssystemen – wird für andere Politikfelder gefordert, Gesetzesvorlagen aus der EU gar nicht mehr zuzulassen. Und selbst in Bereichen, in denen die Notwendigkeit der EU-Gesetzgebung anerkannt wird, lautet der Tenor, den Mitgliedsstaaten mehr Handlungsspielraum zu lassen und die bürokratischen Auflagen gering zu halten.

Die holländische Bevölkerung ist unzufrieden

Wie Frans Timmermans, der sozialdemokratischen Außenminister der Niederlande, betonte, setzten die Niederlande dabei „nicht auf eine Vertragsänderung oder auf opt-outs, sondern auf einen inklusiven Prozess, um die existierende Gesetzgebung zu korrigieren und politische Übereinkunft über zukünftige Prioritäten der Legislatur zu erreichen. Die niederländische Regierung ist überzeugt, dass die Zeit einer immer umfassenderen Union in sämtlichen Politikfeldern hinter uns liegt. Wie das Referendum über den Verfassungsvertrag von 2005 verdeutlicht, war und ist die holländische Bevölkerung mit einer Union unzufrieden, die ihren Aufgabenbereich ständig ausdehnt, als ob dies ein Selbstzweck wäre“.

Die europäische Integration ist ein schrittweiser Vorgang, in der die Entscheidung für eine Maßnahme auf EU-Ebene nur fällt, wenn sie notwendig ist, beziehungsweise im Interesse der beteiligten Staaten liegt. Das gilt für die Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise, aber auch für diverse Politikfelder wie Energie, Klima, Asyl und Migration sowie die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes. Das Ziel dieser Initiative ist eine Europäische Union, die maßvoller, nüchterner und gleichzeitig effektiver arbeitet.

Die aufgezeigten Basisprinzipien beziehen sich unter anderem auf den Europäischen Gerichtshof. Wenn dieser das EU-Recht in einer Weise interpretiert, die der europäische Gesetzgeber weder eingeplant noch intendiert hatte, sollte eine Änderung des EU-Reglements möglich sein, auf das der Gerichtshof seine Urteile stützt. Ähnliches gilt für die Europäische Kommission: Jede EU-Intervention braucht eine klare rechtliche Basis in den EU-Verträgen. „Schleichende Kompetenzen“ darf es nicht geben. Das Ziel: keine neuen EU-Gesetze in Feldern, in denen nationale Regierungen sie nicht wollen.

Die 54 spezifischen Empfehlungen – inklusive technischer Fragen, die weit in die Tiefen der Brüsseler Technokratie eindringen – bezeichnen detailliert, wo die Macht der EU zurückgeschraubt werden soll. Einige Beispiele:

Erstens, die fortschreitende Harmonisierung der Sozialversicherungssysteme soll gestoppt werden. Hierzu heißt es: „Es ist notwendig, die negativen Auswirkungen der Arbeitsmigration zu bekämpfen, inklusive des Missbrauchs der Sozialversicherungssysteme.“ Zweitens sollen sich die Aufgaben der EU-Behörden genauso wenig erhöhen wie ihre Budgets. Drittens, keine EU-Regulierung von Medienpluralismus. Viertens wird eine zweijährige Nullrunde für die Gehälter der EU-Beamten gefordert. Fünftens seien die Kohlendioxid-Emissionen auf globaler statt auf EU-Ebene zu verhandeln. Sechstens solle das Risikomanagement für Überschwemmungen nur für transnationale Wasserläufe harmonisiert werden. Siebtens wird ein Ende von EU-Programmen für Schulmilch und Schulobst gefordert.

Das Bild von einem alternativen Europa

Welche Bedeutung aber hat diese Subsidiaritätsanalyse aus den Niederlanden? Offenkundig ist, dass sie in EU-Kreisen viel mehr Schlagzeilen gemacht hat als in den Niederlanden selbst. Von der niederländischen Politik und in den Medien wurde die Review größtenteils verhöhnt. „Europäische Schulmilch stoppen!“ wurde zum Symbol ihrer Abseitigkeit. Kritik fiel auch auf die komplexen technischen Einzelheiten, die als Demonstration des langweiligen und technokratischen Charakters der EU-Politik gewertet wurden.

Obendrein wurde die Review als Ablenkungsmanöver bezeichnet. So richte man die Aufmerksamkeit der niederländischen Wähler auf unwesentliche Themen wie grenzübergreifende Tunnel, anstatt die demokratische Debatte auf die beispiellose Zentralisierung und Uniformisierung im Zuge der Eurorettung zu fokussieren. Man könnte wie der Economist argumentieren, der Review selbst sowie die Liste der „No-go-areas für Brüssel” seien lediglich Ausdruck des Europafrusts der niederländischen Öffentlichkeit. Hier zeigen sich Parallelen zu Deutschland, wo die AfD vom politischen und journalistischen Mainstream zunächst nicht ernst genommen wurde.

Im Kern liegt die Bedeutung der Subsidiarity Review – trotz ihrer Schwächen – jedoch darin, dass hier ein Bild von einem möglichen anderen Europa gezeichnet wird: einer Union mit Maß. Die niederländische Analyse bricht mit der There-is-no-Alternative-Haltung zur EU. Damit öffnet die niederländische Regierung die Tür für eine möglicherweise reformierte EU, die auf einer verbesserten Balance zwischen nationaler Demokratie und EU-Ebene beruht.

Ohne fundamentale Debatte siegt der Populismus

Dies ist dringend notwendig. Denn besonders außerhalb Deutschlands wird immer deutlicher, dass die Mehrheit der Wähler die Idee eines mehr denn je zentralisierten und vereinten Einheitseuropa nach dem Prinzip one size fits all nicht unterstützt. Die Niederlande sind ein vollkommen in alle EU-Politikfelder inklusive dem Euro und der Schengen-Zone integriertes Gründungsmitglied der EU. Und trotzdem sind in der niederländischen Gesellschaft Euro-Skepsis und eine argwöhnische Haltung gegenüber der europäischen Integration tief verbreitet. Seit dem „Nee“ im niederländischen Referendum über die Europäische Verfassung bis zur aktuellen Eurokrise ist die Pro-EU-Stimmung abgekühlt. Die niederländische Einstellung zu Brüssel hat sich ins Negative gekehrt, die Menschen sind ernüchtert.

Dafür gibt es Gründe. Die Niederlande befinden sich in einer ernsten ökonomischen Lage. Obwohl dem Eliteclub der AAA-Länder angehörend, ist das Land vor allem durch hausgemachte Probleme wie die Immobilienblase und das angeschlagene Rentensystem in schlechter wirtschaftlicher Verfassung. Dass die Niederlande in der Eurozone dennoch zu den Geberländern gehören, verschlechtert das Verhältnis zur EU sowie zur Eurozone. Vor diesem Hintergrund ist die Idee einer reformierten und maßvolleren Union wichtig, nicht nur in den Niederlanden, sondern in der gesamten EU. So kann der wachsenden Euroskepsis begegnet und die Lücke zwischen gebildeten EU-Unterstützern und weniger gebildeten EU-Ablehnern verringert werden. Nur so kann ein apolitisches, technokratisches TINA-Europa verhindert und eine Debatte über ein alternatives Europa befeuert werden.

Bleibt hingegen eine solch fundamentale Debatte über die Zukunft des europäischen Projekts aus, wird die paneuropäische Revolte der Populisten immer mehr Eigendynamik entwickeln – mit ungewissem Ausgang.

Aus dem Englischen von Lucie Kretschmer und Marius Mühlhausen

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