Phönix in der Asche

Die Mitgliedsstaaten von Europäischer Union und Eurozone müssen gemeinsam auf die Wirtschaftskrise reagieren. Sonst verpassen sie die Chance, Europa wirtschaftlich und politisch gestärkt aus der Krise hervorgehen zu lassen

Die Krise, die im Jahr 2007 auf den Finanzmärkten begann, hat seit dem zweiten Halbjahr 2008 die Realwirtschaft in einem Ausmaß ergriffen, das bis heute nicht voll abschätzbar ist. Die Negativspirale könnte sich weiter drehen. Die Konjunkturaussichten für 2009 und 2010 könnten noch weiter nach unten korrigiert werden und die Arbeitslosigkeit weiter ansteigen als erwartet " bisher wird mit mehr als vier Millionen neuen Arbeitslosen in der EU gerechnet. Die politischen und sozialen Folgen verstärken sich zusehends. In den Ländern, in denen soziale Netze nicht existieren oder gerissen sind, dürften soziale Spannungen bis hin zu Gewalt zunehmen. So könnten neue Sicherheitsrisiken entstehen. In einigen Regionen der Welt werden sich womöglich sogar die geopolitischen Machtkonstellationen verschieben.

Vor diesem Hintergrund wächst der Druck auf die EU, eine langfristig tragfähige und vor allem gemeinsame politische Antwort auf die Auswirkungen der Krise zu finden. Diese Herausforderung ist groß, da die Krise auch in Ländern der EU politische Instabilität verursacht oder verstärkt und weitere Regierungen an den Rand der Handlungsunfähigkeit bringen könnte. Jüngste Entwicklungen in Lettland und Griechenland geben darauf einen Vorgeschmack.

In der ersten Phase der Krisenbekämpfung reagierte die Eurozone " dem damaligen Kenntnisstand entsprechend " mit den unmittelbar vorhandenen Mitteln. Zunächst sprang die Europäische Zentralbank in die Bresche. Rasch nahm sie die Rolle als lender of last resort ein, passte ihre Instrumente zur Liquiditätsbereitstellung an, ging neue Kooperationen ein, unter anderem mit der amerikanischen Notenbank. Doch im zweiten Halbjahr 2008 kristallisierte sich heraus, dass eine geldpolitische Reaktion allein nicht ausreicht, um der Krise entgegenzuwirken.

Plötzlich war Fiskalpolitik wieder en vogue

So rückte die Fiskalpolitik in den Mittelpunkt. Ihre Rolle zur konjunkturellen Stabilisierung wurde neu bewertet: Plötzlich war es europäischer, ja globaler Konsens, dass massive Konjunkturpakete die realwirtschaftlichen Folgen der Finanzkrise abfedern müssten. Die damit eingeläutete zweite Phase der Krisenreaktion ist von einem Tabubruch gekennzeichnet. Auf einmal werden Debatten geführt, die noch vor einem Jahr undenkbar schienen: Der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Europäische Zentralbank mahnen bei den Regierungen der Mitgliedsstaaten mehr diskretionäre Fiskalpolitik an, und sogar über die Überlebensdauer des bereits flexibilisierten Stabilitäts- und Wachstumspakts wird längst spekuliert. Um den Märkten Vertrauen zurückzugeben, wird der gegenseitige Haftungsausschluss der Staaten der Europäischen Währungsunion (EWU) " die so genannte No-Bail-Out-Klausel in Artikel 103 des EG-Vertrags " politisch heruntergespielt. Es werden Szenarien entworfen, wie ein finanzieller Beistand für EWU-Mitglieder juristisch, politisch und finanziell organisierbar wäre. Mit unterschiedlichen Begründungen wird die Ausgabe von Euroanleihen gefordert: um Geld für weitere Stützungskredite aufzunehmen, um Infrastrukturinvestitionen zu bezahlen oder auch als grundsätzliche Form, um Staatsanleihen zu besseren Konditionen finanzieren zu können. Und während sie in den sicheren Hafen der gemeinsamen europäischen Währung drängen, stellen einige mittel- und osteuropäische EU-Staaten überdies die Konvergenzkriterien des Maastrichter Vertrages infrage.

Auf den ersten Blick scheinen das bisherige Krisenmanagement und die neuen Diskussionen zu beweisen, dass die Eurozone anpassungsfähig ist. Ein hohes Maß an Flexibilität hat schließlich auch in den vergangenen zehn Jahren gewährleistet, dass die auf dem Reißbrett entworfene Architektur der Währungsunion tatsächlichen Notwendigkeiten angepasst worden ist: So wurde etwa die Eurogruppe ohne Vertragsgrundlage zum wichtigsten Koordinationsforum der Eurozone aufgebaut, der Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde reformiert, und die wirtschafts- und fiskalpolitischen Prioritäten der europäischen Koordinierungsansätze wurden schrittweise angepasst.

Doch auf den zweiten Blick werden die bisherigen Handlungsansätze der europäischen und globalen Dimension der Krise nicht gerecht. Zu dominant sind nach wie vor nationale Denkweisen und Reflexe. Dies zeigte sich Ende 2008 am Beispiel des nicht eingerichteten europäischen Banken-Auffang-Fonds und der nur sehr bedingt vorhandenen Bereitschaft zur Koordinierung der Nachfragestimulierung.

Scharfsinnige Analysen, mutlose Forderungen

Ein aktuelles Beispiel ist die Reform der Finanzmarktaufsicht in der EU. Im Februar legte der frühere IWF-Präsident Jacques de Larosière den Bericht seiner Arbeitsgruppe vor, den die Europäische Kommission jetzt im Eilverfahren in die Tat umsetzen will. Die Analyse der Risiken und Probleme der Finanzmarktaufsicht im Bericht ist bestechend, die transnationalen Interdependenzen innerhalb der EU sind klar benannt. Denkt man die Ausgangsanalyse des Larosière-Reports stringent zu Ende, könnte man zu folgender Schlussfolgerung kommen: Ein gemeinsamer Markt braucht " bei 43 transnational agierenden Banken " eine effiziente grenzüberschreitende Finanzmarktaufsicht, um die Risiken besser abzuschätzen, als es im aktuellen System gelungen ist. Doch die viel weniger weit reichenden Empfehlungen der Arbeitsgruppe lesen sich, als wären sie in einer anderen Zeit geschrieben, vielleicht vor einem guten Jahr, als unbekannt war, wie viel im Finanzsektor im Argen liegt und mit welcher Wucht die Krise über das globale Wirtschafts- und Finanzsystem hinwegfegen würde. Damals waren die Interdependenzen innerhalb der EU und besonders der Währungsunion viel weniger offensichtlich. Von Journalisten gefragt, warum sein Bericht nichts Weitergehendes empfehle, antwortete de Larosière sinngemäß, er habe keine unrealistischen Vorschläge machen wollen.

Mit anderen Worten: De Larosière spricht der Politik die Bereitschaft zum gemeinsamen Handeln ab. Dafür mag es aus nationaler Sicht legitime Argumente geben, und die bestehenden politischen Entscheidungs- und Anreizstrukturen erklären die Zurückhaltung der Regierungen. Der aktuellen Situation angemessen ist diese Herangehensweise deshalb noch lange nicht.

Wir stehen heute in Europa vor der Wahl, ob wir die EU und die Währungsunion so entschieden stärken wollen, dass sie " wenn das Weltwirtschaftswachstum ab vielleicht 2011 wieder anzieht " wie ein Phönix aus der Asche gestärkt in den Wettbewerb mit anderen Weltregionen tritt und es dabei schafft, europäische Errungenschaften auf dem Gebiet der Sozialmodelle aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln; oder ob wir weiterhin mit halbwegs entschiedenen nationalen Antworten dahin dümpeln wollen, auf die Gefahr hin, dass wir in ein paar Monaten " wie bereits gegen Ende 2008 " erneut konstatieren müssen, dass die eingesetzten Mittel den unterschätzten Herausforderungen nicht angemessen waren.

Höchste Zeit für eine Strategie

Doch wie lange könnten wir uns das noch leisten? Schon jetzt deuten sich tektonische Spannungen in der EU an, die die Grundfeste der Integration infrage stellen könnten. Da sind nicht nur Auseinandersetzungen zwischen einigen EU-Partnern über protektionistische Maßnahmen, die den Binnenmarkt untergraben. Wir erleben Grüppchenbildungen, Abgrenzungsversuche einzelner EU-Länder untereinander, fragile Mehrheiten und handlungsunfähige Regierungen sowie aufkommenden Populismus, der sich auch gegen die EU selbst wendet. Verstärken sich diese Tendenzen, könnte es immer schwieriger werden, innerhalb von EU und EWU Antworten zu formulieren.

Es ist also höchste Zeit, dass die Partner in der Eurozone oder der EU insgesamt eine Strategie erarbeiten, die es kurzfristig erlaubt, besser auf die Krisezu reagieren, und die gleichzeitig Pflöcke einschlägt, um besonders die Eurozone langfristig auf eine solidere Grundlage zu stellen.

Planen für den Ernstfall

Erstens sollte der möglicherweise kurzfristig eintretende Ernstfall vorbereitet werden: Zu planen sind weitere Stützungsmaßnahmen für Mittel- und Osteuropa ebenso wie für EWU-Länder, denen möglicherweise die Zahlungsunfähigkeit droht. Für die EWU-Länder bietet die Beistandsklausel in Artikel 100 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft eine mögliche Grundlage. Instrumente für Kredite an EWU-Staaten müssten allerdings erst noch erdacht werden " etwa ein zweckgebundener Eurobond, ähnlich den Instrumenten zur Finanzierung von Zahlungsbilanzkrediten nach Artikel 119. Damit zusammen hängt die wichtige Frage, wie mit Stützungsdarlehen wirksamer Reformdruck verbunden werden kann. Sinnvoll wäre es, Darlehen der EU-Partner weiterhin mit IWF-Paketen zu kombinieren, so dass der Währungsfonds den notwendigen externen Reformdruck aufbauen kann und das damit einhergehende Spannungspotenzial nicht zwischen EU-Partnern entsteht.

Die zweite extrem wichtige Aufgabe besteht darin, Liquiditätsengpässe im Bankensektor und bei Unternehmen abzumildern. Dieses Problem ist derzeit besonders in Mittel- und Osteuropa relevant. Im Februar stellten die European Bank for Reconstruction and Development, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und die Weltbank gemeinsam neue Kreditlinien in Höhe von 25 Milliarden Euro zur Verfügung. In den kommenden Monaten muss überprüft werden, ob weitere Maßnahmen nötig sind, um die Kreditklemme abzuschwächen. Es bietet sich auch die Chance, in der Krise ausstehende grenzüberschreitende Konsolidierungsprozesse im europäischen Finanzsektor anzutreiben. Gelingt dies bei einer gleichzeitigen deutlichen Verbesserung der Aufsichtsstrukturen in der EU, könnte möglicherweise nach dem Ende der Krise mit Recht behauptet werden, dass der europäische Finanzsektor vergleichsweise stärker geworden ist.

Drittens muss die Wirkung der fiskalpolitischen Stimulierungsprogramme kritisch überprüft werden. Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob angesichts möglicherweise stärker als erwartet ausfallender Konjunktureinbrüche weitere Maßnahmen nötig werden und wie diese dann europäisch und global so koordiniert werden, dass bestehende Probleme der collective action abgemildert werden können. Die Herausforderung liegt auch darin, weiterhin protektionistischen Tendenzen entgegenzuwirken, damit gerade im Falle eines neuen Aufschwungs voll vom Potenzial des Binnenmarktes und des Welthandels profitiert werden kann. Schließlich sollte bei der fiskalpolitischen Diskussion immer die Frage mitgedacht werden, wie die EU-Staaten nach der Krise auf einen Konsolidierungskurs zurückfinden, der die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen gewährleistet.

Warum mehr Koordination nötig ist

Der aus der Krise entstandene Handlungsdruck sollte als Chance begriffen werden, auch langfristige Probleme anzugehen. Zehn Jahre nach dem Startschuss der Währungsunion liegen genug Erfahrungen und Beobachtungen vor, die " auch ohne Krise " Anlass zur Diskussion geben, ob die Währungsunion ihr Potenzial voll ausschöpft.

Einen Impuls für eine grundlegende Diskussion gibt zum Beispiel die Tatsache, dass die regionalen Konjunkturzyklen innerhalb der EWU teilweise auseinander driften. Dahinter steht ein Verlust von Wettbewerbsfähigkeit in Ländern wie Italien, Portugal oder Griechenland. Aus wachsenden ökonomischen Divergenzen, die durch die Krise verstärkt werden dürften, resultieren unterschiedliche politische Präferenzen hinsichtlich der EWU und ihrer Governance. Nach zehn Jahren EWU zeichnet sich ab, dass die bestehenden Marktmechanismen regional divergierende Entwicklungen nicht ausgleichen können. Diskutiert werden sollte daher eine Doppelstrategie: einerseits eine Verstärkung der wirtschaftspolitischen Koordination innerhalb der EWU, die sich neben den Finanzministern künftig auch auf die Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialminister erstrecken sollte, sowie eine intensivere Einbindung der Sozialpartner.

Der konjunkturell abgekoppelte EU-Haushalt

Andererseits geht es um eine Stärkung der fiskalischen Stabilisierung, die nicht nur durch die nationalen Haushalte erfolgen sollte, damit die EWU, wie andere Währungsunionen auch, über einen auf höchster Ebene wirkenden Mechanismus verfügt. Diese makroökonomische Dimension sollte auch in die sich entwickelnde Diskussion über das Budget der EU Eingang finden, das aufgrund seines Charakters als Programmbudget mit mehrjähriger Ausgabenfestlegung bislang völlig abgekoppelt von konjunkturellen Entwicklungen funktioniert (und im Falle Spaniens während des Bau-Booms sogar noch zur Überhitzung beigetragen hat). Hier wird kein Quantensprung möglich sein, aber es könnte ein Systemwechsel angelegt werden, etwa indem die Einführung einer EU-Steuer oder eine modernisierte Ausgabenpolitik auch unter makroökonomischen Aspekten in Betracht gezogen werden.

Die kommenden Osterweiterungen der Eurozone werden die Governance-Mechanismen vor weitere Herausforderungen stellen. Mit der schieren Mitgliederzahl werden sich Atmosphäre und Arbeitsweise der Eurogruppe weiter verändern. Der persönliche und vertrauliche Charakter der Entscheidungsfindung sowie die Fähigkeit zur Konsensbildung dürften geringer werden. Dies gilt umso mehr, als mit den mittel- und osteuropäischen Staaten neue Partner zur EWU stoßen werden, die ihre nationalen Präferenzen vor dem Hintergrund einer anderen strukturellen und konjunkturellen wirtschaftlichen Situation formulieren. Überdies haben sie in Einzelfällen eine abwartende bis skeptische Haltung zu europäischen Koordinationsprozessen.

Viel spricht auch dafür, weitere Zusammentreffen der Staats- und Regierungschefs der Eurozone zu organisieren. Die Themen auf der Reformagenda reichen teilweise weit über die Zuständigkeit der Finanzminister hinaus. Wird tatsächlich die wirtschaftspolitische Koordinierung in der Eurozone gestärkt, sollte dies unbedingt die explizite Rückendeckung der Staats- und Regierungschefs haben, damit die Verwirklichung etwaiger Reformvorhaben im Inland überhaupt möglich ist. Eurozonengipfel könnten beispielsweise informell vor dem Frühjahrsrat der EU-Staats- und Regierungschefs abgehalten werden. Gegenüber den EU-Staaten, die nicht Teil der Eurozone sind, sollte ein hohes Maß an Offenheit gewährleistet sein.

Globale Krise, nationale Antworten?

Die bisherige Reaktion auf die Finanzkrise hat gezeigt, dass die Gemeinschaft trotz der komplexen Entscheidungsmechanismen punktuell in der Lage war, flexibel auf die Herausforderungen zu reagieren. Die Bereitschaft zur Koordination und Zusammenarbeit innerhalb der EU ist gewachsen. Dabei hat sich allerdings auch gezeigt, dass es keine konsequente Verarbeitung der ökonomischen Interdependenzen in europäisches Handeln gibt. Trotz starker innereuropäischer Interdependenzen und des globalen Charakters der Herausforderungen verlaufen die Bewertung von Kosten und die Bereitschaft zur Aufteilung von Risiken weiter entlang nationaler Grenzen.

Dabei ist die Liste kurzfristiger Handlungsnotwendigkeiten und mittelfristiger Reformanforderungen lang " sofern wir wollen, dass die Eurozone wirtschaftlich und politisch gestärkt aus der Krise hervorgeht. Doch im Frühjahr 2009 lässt sich bislang nur feststellen: Der Phönix putzt seine Flügel noch nicht. Vorerst bleibt er in der Asche sitzen.

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