Perversion der Nachbarschaft

Den Kampf gegen die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts haben die Polen gewonnen - gegen die Deutschen und ohne sie. Das ist Geschichte. Aber nur wer sie kennt, kann die Probleme der deutsch-polnischen Gegenwart verstehen

Seit der Wiedervereinigung Deutschlands haben alle Deutschen Polen als ihren östlichen Nachbarn. Nachbarschaften sind jedoch bekanntlich von unterschiedlichen Qualitäten. Der Zustand der deutsch-polnischen Nachbarschaft, für den immer wieder jene von Franzosen und Deutschen als Vorbild genannt wird, kann trotz der seit den neunziger Jahren sehr guten offiziellen Beziehungen zwischen der Republik Polen und der Bundesrepublik Deutschland immer noch nicht als zufrieden stellend bezeichnet werden.

Dies mag verwundern angesichts der deutsch-polnischen Interessengemeinschaft, die am Ende der achtziger Jahre ihren Ausdruck in der Erkenntnis fand, dass die deutsche Einheit und die Freiheit Polens einander bedingten. Die Wiedervereinigung Deutschlands bedeutete für die Polen, dass die Sowjetunion ihr Land nicht mehr als die unverzichtbare Brücke nach Deutschland zu betrachten brauchte. Die Souveränität Polens wiederum bedeutete für Deutschland, dass die Sowjetunion die DDR faktisch aufgegeben hatte. Wie wäre das frühere Mitteldeutschland von den Sowjets dauerhaft zu halten gewesen, nachdem Polen im Zuge der erneuten Legalisierung der "Solidarnos′c′" im Frühling 1989 von den Sowjets nicht mehr als sichere Brücke dorthin benutzt werden konnte?

Das Ende der DDR begann an der Ostsee

Mit der größten Streikwelle der europäischen Nachkriegsgeschichte hatte deshalb im August 1980 an der polnischen Ostseeküste nicht nur die Agonie des Kommunismus begonnen, sondern auch die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung. Erich Honecker erkannte damals sofort, dass ein nichtsozialistisches Polen die Existenz der DDR in Frage stellen würde. Aus diesem Grund drängte er in den Jahren 1980 und 1981 darauf, dass die Staaten der sozialistischen Zwangsgemeinschaft der polnischen Freiheitsbewegung Einhalt gebieten sollten. Von allen kommunistischen Parteichefs des Warschauer Paktes unterstützte dieser deutsche Kommunist die Idee der Militärintervention der "sozialistischen Bruderstaaten" in Polen am nachdrücklichsten. In Polen wurde damals die DDR-Führung zu Recht als der größte Feind angesehen. Deren unübersehbare geistige Beschränktheit und die - selbst im Vergleich mit anderen kommunistischen Systemen - außergewöhnliche Einfältigkeit des DDR-Regimes verstärkten diese Empfindung.

Die sozialpsychologisch (wenn auch nicht intellektuell) nachvollziehbare Folge dieses Erscheinungsbildes der DDR in Polen war eine zunehmend unkritische Wahrnehmung der Polenpolitik der demokratischen und atlantischen Deutschland im Westen. Selbst die in Polen bekannte und belächelte Freundschaft des Bundeskanzlers Helmut Schmidt mit dem Chef der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei in den siebziger Jahren, Edward Gierek, tat dieser naiven Sichtweise keinen Abbruch. (Schmidt verstieg sich seinerzeit in einem Interview zu der Aussage, dass er den Allround-Dilettanten Gierek gerne in seiner Regierung hätte). Es schien, als hätte die Entstehung der "Solidarnos′c′" - der größten organisierten Massenbewegung der europäischen Nachkriegsgeschichte - das Tor zur engen Zusammenarbeit zwischen den nichtkommunistischen Polen und dem demokratischen Deutschland geöffnet.

Ernüchterung trat mit der Verhängung des Kriegszustandes in der Volksrepublik Polen in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1981 ein. Den Polen, auch jenen, die das Regime Wojciech Jaruzelskis in dieser Nacht in Gefängnisse und Internierungslager einsperrte, wurde mittels der gleichgeschalteten Medien des Kriegszustandes mitgeteilt, dass der deutsche Bundeskanzler die Verhängung des Kriegszustandes in Polen gutheiße. Mit Entsetzen mussten die antikommunistischen Polen feststellen, dass es sich dabei nicht um eine Propagandalüge handelte. Schmidt erfüllte tatsächlich einen der sehnlichsten Wünsche des nach der Verhängung des Kriegszustandes in der zivilisierten Welt isolierten Generals Jaruzelski.

Herr Honecker war wirklich sehr bestürzt

Offenbar nach einer Absprache mit Jaruzelski hatte Honecker kurz vor dem 13. Dezember 1981 Helmut Schmidt in die DDR eingeladen, wo der westdeutsche Regierungschef von der Nachricht über die Pazifizierung Polens und der Freiheitsbewegung "Solidarnos′c′" überrascht wurde; Honecker selbst war über die in Polen bevorstehende gewaltsame Lösung offensichtlich vorab informiert worden. Auf einer Pressekonferenz am Morgen des 13. Dezembers bedauerte der Bundeskanzler in Anwesenheit seines - wie er es einige Jahre später in der Zeit bekannte - "Bruders" aus dem Osten: "Herr Honecker ist genauso bestürzt gewesen wie ich, dass dies nun notwendig war." Nach der Rückkehr in die Bundesrepublik startete Schmidt eine große Paketaktion für die Not leidende polnische Bevölkerung, die ihm half, sein Image als Polen-Freund zu wahren.

Doch selbst wenn dieser Rettungsversuch misslungen wäre - Schmidt hätte sich darüber gefreut, dass der Kriegszustand in Polen seine Ostpolitik rettete. Er ging nämlich der damals vorherrschenden Hysterie um die angeblich bevorstehende sowjetische Militärintervention in Polen auf den Leim und war der falschen Meinung, dass nur eine Gewaltlösung durch Jaruzelski dieser Militärintervention vorbeugen könne. Ein sowjetischer Einmarsch in Polen dagegen hätte das Ende der bundesrepublikanischen Ostpolitik bedeutet.

Diese Ostpolitik beruhte auf dem im Verhältnis zu totalitären Staaten wenig überzeugenden Grundsatz des "Wandels durch Annäherung". Demnach strebte die deutsche Politik die "Lösung der deutschen Frage" (was eher selten als deutsche Einheit verstanden wurde) auf dem Weg der Zusammenarbeit mit den kommunistischen Machthabern an, vor allem jenen in Moskau und in Ostberlin. "Solidarnos′c′" passte nicht in dieses Konzept. Die polnische Gewerkschaftsbewegung strebte nämlich die Überwindung des kommunistischen Systems durch friedliche Strukturreformen an, oder - wie es Timothy Garton Ash später zutreffend formulierte - durch eine "Refolution".

Es war klar, dass Polen dabei das entscheidende Glied in der Kette der Länder sein würde, die sich vom kommunistischen Totalitarismus befreien wollten. Ebenso klar war für rational Denkende, dass solche Strukturreformen in Polen letztlich auf die Überwindung der Jalta-Ordnung hinauslaufen mussten. Wegen dieser weltpolitischen Bedeutung der Strukturkrise der Volksrepublik Polen fand die "Solidarnos′c′" ihren wahrscheinlich wichtigsten westlichen Verbündeten im amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan. Selbstverständlich darf man hier auch vom Wirken Johannes Pauls II. nicht absehen, dessen welthistorisches Format sich jedoch nicht auf eine bloß politische Dimension reduzieren lässt.

Lech Wal′e¸sa ging man lieber aus dem Weg

Die allermeisten westdeutschen Entscheidungsträger bewerteten die Chancen der entschlossenen, aber immer friedlichen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus in Polen in den achtziger Jahren als gering. Die deutschen Politiker besuchten die Warschauer Kommunisten und machten dabei üblicherweise einen großen Bogen um den Friedensnobelpreisträger Lech Wal′e¸sa sowie andere Symbolgestalten der inzwischen verbotenen, doch noch immer die Mehrheit des polnischen Volkes repräsentierenden "Solidarnos′c′". Die beschämendsten Beispiele dafür boten Herbert Wehner (er umarmte bei seinem Polen-Besuch Anfang 1982 Jaruzelski), Franz Josef Strauß (er ließ sich auf ein Propagandainterview zugunsten des Regimes von Jaruzelski mit dem kommunistischen Radio ein), Willy Brandt (er lehnte ausdrücklich ein Treffen mit Lech Wal′e¸sa ab), Hans-Jochen Vogel (er besuchte das Grab des von Offizieren des Sicherheitsdienstes der Volksrepublik Polen ermordeten Priesters Jerzy Popiel′uszko im Morgengrauen, auf dass seine Geste die polnischen Kommunisten nicht allzu sehr verärgere).

Damit unterschied sich die bundesrepublikanische "Realpolitik" gegenüber Polen von jener der anderen demokratischen Länder. Denn im Übrigen wurde die in den Untergrund verbannte "Solidarnos′c′" von den westlichen Politikern grundweg anständig behandelt und für gewöhnlich unterstützt. Damals wurde klar: Selbst in der Zeit der größten polnischen Tragödie nach dem Zweiten Weltkrieg zog Bonn das eng(stirnig) begriffene nationale Interesse dem Kampf gegen den kommunistischen Totalitarismus und für die Freiheit Polens vor.

Plötzlich war der faule Pole wieder da

Dies wurde begleitet durch das Abflauen der großen Sympathiewelle für die polnische Freiheitsbewegung, die nach den Streiks in der Danziger Lenin-Werft im Sommer 1980 in der deutschen Bevölkerung aufgekommen war. Nur einmal in der modernen Geschichte beider Länder hatte es eine vergleichbare Periode der deutschen Begeisterung für einen Freiheitskampf der Polen gegeben, nämlich nach der Zerschlagung des polnischen Januar-Aufstandes im Jahre 1830 durch Russland. In den achtziger Jahren jedenfalls verwandelte sich die Polen-Sympathie der Westdeutschen schrittweise in Abneigung. Die Stereotype vom faulen Polen und seiner "polnischen Wirtschaft" wurden wiederbelebt: "Die Polen wollen nicht arbeiten, die streiken nur". Diese Stimmung in der Bundesrepublik korrespondierte mit jener, die in der DDR seit 1980 geschürt wurde. Das Honecker-Regime bediente sich ungeniert der in der Bevölkerung verbreiteten antipolnischen Vorurteile - nicht zuletzt, um vom eigenen wirtschaftlichen Fiasko abzulenken. Die katastrophale Lage der DDR in den achtziger Jahren ließ sich trotz immenser Geldzahlungen und sonstiger Hilfe der Bundesrepublik immer weniger verstecken.

Die Irrtümer der großen Männer

Ungeachtet der zunächst verheißungsvollen Entwicklung fand also im Zuge der ersten "Solidarnos′c′"-Ära (1980-1981) kein qualitativer Wandel der bundesdeutschen Polen-Politik statt. Allen Sonntagsreden über das "Aus-der-Geschichte-Gelernte" zum Trotz war das demokratische Deutschland nicht in der Lage, die nichtkommunistischen Polen als politische Partner zu behandeln. Es darf freilich nicht vergessen werden, dass Deutschland zu Beginn der achtziger Jahre erst 35 Jahre von der zwei Jahrhunderte währenden Periode seiner Geschichte entfernt war, in der es immer wieder erfolgreich versucht hatte, Polen von der Landkarte zu tilgen. Anfang der achtziger Jahre lag es erst ein Jahrzehnt zurück, dass sich die Bundesrepublik dazu bewogen hatte, die Westgrenze Polens anzuerkennen. Die Unfähigkeit, in der "Solidarnos′c′" Chancen auch für die deutsche Einheit zu sehen, entsprang wahrscheinlich der Ignoranz der politischen Entscheidungsträger in der Bundesrepublik, die wider alle offenkundigen Symptome der Strukturkrise des Kommunismus tatsächlich glaubten, die Polen gingen mit ihren Forderungen "zu weit", sie seien "politisch nicht realistisch" und bedrohten deshalb die "Erfolge der Ostpolitik", die "gut für die Menschen" seien.

Nun hat die Geschichte häufig genug gezeigt, dass Politiker irren können. Die Schöpfungskraft so mancher "großer Männer" auf dem diplomatischen Parkett hat sich als dürftig erwiesen. Die "Solidarnos′c′" dagegen, die sowohl dem Rhythmus der Geschichte als auch - was sie als Treue gegenüber Europa verstand - moralischen Prinzipien folgte, war letztlich erfolgreich. Die Hilfen der katholischen Kirche Deutschlands und vieler, häufig namenloser deutscher Anhänger des polnischen Kampfes gegen den Kommunismus sollten deshalb nicht in Vergessenheit geraten. Sie haben ihren Anteil daran, dass "Solidarnos′c′" 1989 einen Umbruch in Europa einleitete, der (zusammen mit dem Krieg in Afghanistan sowie den Entwicklungen im Baltikum und in Ungarn) die Welt veränderte. Auch zur deutschen Einheit hat dieser Umbruch mehr beigetragen als die westdeutsche Ostpolitik. Denn er beruhte auf dem einzig wahren Grundsatz im Umgang mit Unrechtssystemen: "Annäherung durch Wandel". Im Nachhinein erscheint es selbstverständlich, dass das Ende des Kommunismus die deutsche Einheit hervorbringen musste - selbst ohne die aktive Mitwirkung der bundesdeutschen Politik. Nachdem der Mittel- und Osteuropa verdeckende rote Vorhang abgerissen war, entstanden - fast beiläufig - auch bessere Bedingungen für das nachbarschaftliche Mit- und Nebeneinander von Polen und Deutschen. Doch jetzt zeigte sich, mit welch immensen strukturellen und mentalen Problemen die Geschichte diese beiden Nachbarn in die neunziger Jahre entlassen hatte.

Erst Historiker werden die Tragweite des in diesem Jahrzehnt Vollbrachten würdigen können. Das wiedervereinigte Deutschland rang sich zur Anerkennung der polnischen Westgrenze durch. Man unterzeichnete einen Nachbarschaftsvertrag, der Maßstäbe für ähnliche Verträge im gesamten Mitteleuropa gesetzt hat. Das Problem der Benachteiligung der deutschen Minderheit in der Republik Polen gab es von Anfang an nicht - auch in dieser Hinsicht vollzog sich beim östlichen Nachbarn Deutschlands ein rapider Bruch mit der Volksrepublik. Die wirtschaftlichen Beziehungen entwickeln sich beinahe imposant und sichern viele Arbeitsplätze in beiden Ländern; dem Handelsvolumen nach ist Polen der größte Partner Deutschlands in Mittel- und Osteuropa. In enger Zusammenarbeit mit Polen ist Deutschland das Problem der illegalen beziehungsweise unerwünschten Einwanderung los geworden - in den achtziger Jahren wahrscheinlich das prekärste innenpolitische Thema der Bundesrepublik.

Und trotzdem ist die Entwicklung in dieser Dekade nicht befriedigend verlaufen. Noch immer gibt es mindestens vier miteinander verwobene Problemkomplexe, die in den vergangenen Jahren immer deutlicher hervortraten. Gemeint sind die Ungleichheit beider Partner, die mentalen Probleme ihres Verhältnisses, der ausschließende Charakter dieser Nachbarschaft, und das Dauerproblem der illegalen, aber hingenommenen doppelten Staatsangehörigkeit.

Ohne Respekt keine gute Nachbarschaft

Eine geglückte Nachbarschaft setzt Gleichberechtigung voraus. Dabei braucht sie dem in Deutschland verbreitenen Vorurteil zum Trotz nicht unbedingt oder primär auf ökonomischer Gleichheit zu beruhen, weil ärmere Länder unter Umständen bessere wirtschaftliche Entwicklungschancen haben können als die reicheren. Vielmehr basiert die Gleichberechtigung auf dem gegenseitigen Respekt freier Partner, die den gleichen Sicherheitsstand genießen. Was die Sicherheit angeht, war Polen bis zum April 1999 kein NATO-Mitglied und somit Deutschland nicht gleich gestellt. Nicht von ungefähr bestand die Bundesrepublik während der Wiedervereinigungsverhandlungen beharrlich und erfolgreich auf der NATO-Mitgliedschaft des gesamten Deutschlands. Für Polen war es sehr wertvoll, dass die offizielle deutsche Politik den polnischen NATO-Beitritt unterstützte. Zugleich mussten die Polen jedoch konstatieren, dass die deutsche Öffentlichkeit ihrem Wunsch, der NATO beizutreten, viel skeptischer gegenüber stand als die Gesellschaften anderer Mitglieder der westlichen Verteidigungs- und Ordnungsgemeinschaft. Aus polnischer Sicht erschien diese Skepsis geradezu unbegreiflich: Waren es nicht die Polen gewesen, die im Zweiten Weltkrieg auf der Seite des Westens gekämpft hatten, weil sie von den Deutschen im Jahre 1939 überfallen worden waren? Und war es nicht Deutschland, das in der Nachkriegszeit die Westorientierung erst vollziehen musste, während Polen die Werte der abendländischen Zivilisation gegen zwei Totalitarismen in Folge verteidigte? Dass in Deutschland dennoch ernsthaft diskutiert wurde, ob dem polnischen Wunsch, NATO-Mitglied zu werden, nachgegeben werden dürfe, ist ein weiterer Beleg für die Unreife der deutsch-polnischen Nachbarschaft.

Solange Polen sich um die Mitgliedschaft in der Europäischen Union bemüht, kann ebenfalls nicht von der Gleichheit beider Nachbarn gesprochen werden. Auf dem Gebiet der EU-Erweiterung haben Deutschland und Österreich mit ihrem Vorstoß, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus den Beitrittsländern auf sieben Jahre dem Gutdünken der bisherigen Mitglieder der Union zu überlassen, die Pandora-Büchse geöffnet. Die Forderungen Spaniens, die darauf folgten, sind gut verständlich, wenn selbst reichere Länder, die von der Erweiterung der Union wirtschaftlich am meisten profitieren werden, so kurzsichtig handeln. Angesichts des klar absehbaren Arbeitskräftemangels in Deutschland in den kommenden Jahren fällt es schwer zu verstehen, warum Gerhard Schröder diesen Weg gegangen ist. Nach Lage der Dinge trägt der deutsche Bundeskanzler so die Hauptverantwortung dafür, wenn die Polen (übrigens nicht nur sie) erst zwei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Kommunismus gleichberechtigte Mitglieder der EU werden. Er hat dafür gesorgt, dass man in einem Jahrzehnt erneut Artikel mit der Feststellung wird schreiben können, dass soeben die Voraussetzungen für gelingende deutsch-polnische Nachbarschaft geschaffen worden seien.

Die ewigen Faulenzer sind plötzlich fleißig

Die zweite Gruppe der Probleme zwischen den Deutschen und den Polen betrifft die mentalen Schwierigkeiten des deutsch-polnischen Verhältnisses, genauer: das ausgesprochen schlechte Bild von Polens und den Polen in der Bundesrepublik. Symptomatisch für die Beständigkeit des deutschen Ressentiments ist die Tatsache, dass in der deutschen Öffentlichkeit zwar das Vorurteil von den Polen, die nicht arbeiten wollten, beinahe vollständig verschwunden ist. Doch man hat es bruchlos ersetzt durch das Vorurteil vom Polen, der - ob durch seine Arbeit in Deutschland oder die niedrigen Arbeitskosten in Polen - die deutschen Arbeitsplätze bedroht. Die Faulenzer sind also binnen einiger Jahre fleißig geworden. Nur eins hat sich nicht verändert: Die Deutschen mögen sie nicht besonders.

Vor zehn Jahren konnte man nicht erwarten, dass dieses bereits vor 1933 gängige Ressentiment sehr schnell zu überwinden sei. Doch dass sich auf diesem Gebiet seither so gut wie nichts zum Besseren verändert hat, bedeutet indessen eine große Enttäuschung. Schließlich hatte man zu Beginn der neunziger Jahre annehmen können, dass die Last des Kommunismus, die sowohl die Republik Polen als auch die Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung in gewaltigen Transformationsprozessen abzuwerfen haben, eine gute Grundlage für die echte Annäherung beider Völker sein könnte - zumindest für jene zwischen den ehemaligen DDR-Deutschen und den Polen.

Ostdeutschland ist in Polen unbeliebt

Die Deutschen, konfrontiert mit dem Erbe des Kommunismus in der DDR, hätten besser als andere begreifen können, dass die "polnische Wirtschaft" systembedingt war. Und dass die Polen unter den gegebenen Systembedingungen wahrscheinlich besser gewirtschaftet haben als die Deutschen, wenn auch mit dem gleichen unvermeidbaren Ergebnis des vollkommenen Versagens der zentralen Planwirtschaft. In der Praxis aber verlief und verläuft die Überwindung des kommunistischen Erbes in Ostdeutschland und in Polen unter derart unterschiedlichen Vorzeichen, dass weder die Polen allzu viel von den Deutschen lernen noch die Deutschen übermäßig von den polnischen Erfahrungen profitieren. Das verstärkt das gegenseitige Desinteresse am Aufbauprozess des Nachbarn.

Während sich die Polen aus finanziellen Gründen keine Subventionstransformation leisten können, erscheint es den Deutschen aus politischen Gründen unmöglich, die auf Jahrzehnte angelegte Subventionierung Ostdeutschlands zu stoppen. Zudem gab es in den neuen Bundesländern in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung einen virulenten Antipolonismus mit Überfällen auf polnische Autos, Reisebusse, Arbeiter und Touristen, was die polnischen DDR-Stereotype aktualisierte. Die Folge: Ostdeutschland ist heute in Polen genauso unpopulär wie einst die DDR. Während in Polen mittlerweile eine gegliederte Gesellschaft entstanden ist, die aus einer Mittelschicht sowie Armen und Reichen besteht, hat sich die DDR-Bevölkerung in eine vorwiegend durch die untere Mittelschicht geprägte Gesellschaft gewandelt. Von ostdeutschen Reichen ist ebenso wenig bekannt wie von ostdeutschen Armen, die mit den polnischen vergleichbar wären. Während die Polen auf ihren postkommunistischen Wiederaufbau - zum Glück sehr langsam - stolz zu sein beginnen, fühlen sich die Ostdeutschen von den Westdeutschen ausgeplündert und dominiert.

Wenn also heute in Deutschland überhaupt ein Verständnis spürbar ist für die Bemühungen Polens, seine Modernisierung aus eigener Kraft zu schaffen, dann so gut wie ausschließlich im Westen der Republik. Hier nämlich ist die Erinnerung an jene 40 DM, die der Bürger am Anfang der Währungsreform 1948 in die Hand gedrückt bekam, noch vorhanden - zumindest rudimentär. Es ist eine Erfahrung des Wiederaufbaus von niedrigem Niveau aus, die Polen und Westdeutsche, nicht aber die Ostdeutschen, gemeinsam haben. Alles in allem: Es wird zwar kaum laut darüber gesprochen, doch den Polen erscheint es in vielerlei Hinsicht sinnvoller, mit den Westdeutschen zu verkehren als mit den Ostdeutschen.

Kein Fortschritt ohne Wettbewerb

Damit ist das nächste Problem benannt: der ausschließende Charakter der deutsch-polnischen Nachbarschaft. Die deutsch-polnischen Beziehungen sind heute vorwiegend die westdeutsch-polnischen Beziehungen. Dieser Zustand ist insofern ein perverser Misserfolg, als er die physisch angrenzenden Gebiete betrifft. Er wird durch die krasse Unterrepräsentation der Ostdeutschen in den Eliten der Bundesrepublik verstärkt. Die einzige Chance, diese Perversion der Nachbarschaft in überschaubarer Zeit zu überwinden, besteht in der Intensivierung der grenzübergreifenden regionalen Zusammenarbeit. Dazu aber ist es notwendig, dass Polen gleichberechtigtes Mitglied der EU wird. Polen grenzt an jene deutschen Regionen, in denen sozialstaatliche Wohltätigkeit und wirtschaftlich- demografische Katastrophe in unheilvollem Wechselverhältnis stehen. Es zeugt einfach von gewissen Denkunzulänglichkeiten anzunehmen, dass der ökonomische Aufstieg Ostdeutschlands ausgerechnet dadurch möglich werde, dass man die polnische Konkurrenz auf Abstand hält. Wer wirtschaftlichen Fortschritt ohne Wettbewerb und die durch ihn erzwungene Anstrengung will, sollte das System der halb-zentralen Planwirtschaft, das in Ostdeutschland in den neunziger Jahren aufgebaut worden ist, zur vollständigen Planwirtschaft ausbauen.

Was fehlt, sind Mut und europäischer Geist

Schließlich gibt es eine Reihe von Dauerproblemen des deutsch-polnischen Verhältnisses, die mit der doppelten Staatsangehörigkeit der deutschen Minderheit in Polen zusammenhängen. Die Konsulate der Bundesrepublik, die wie die Republik Polen die doppelte Staatsbürgerschaft strikt ablehnt, verteilen nämlich Pässe der Bundesrepublik Deutschland an die nach dem Grundgesetz deutschstämmigen Bürger der Republik Polen. In Polen führt dies etwa dazu, dass sich tausende Wehrdienstpflichtige zum Wehrdienst nach Deutschland absetzen. Der polnische Staat nimmt diesen massenhaften Rechtsbruch unzulässigerweise stillschweigend hin. Die einzige rationale Lösung des Problems wäre auf beiden Seiten die Akzeptanz der doppelten Staatsbürgerschaft. Dann könnte man das Problem des Wehrdienstes gemeinsam lösen, weil man endlich zugeben dürfte, dass es in beiden Ländern Menschen gibt, die Pässe beider Staaten besitzen. Damit würden beide Länder zudem Maßstäbe setzen für den Umgang mit ähnlichen Problemen im gesamten Mitteleuropa, wo das Beharren auf nationalistischen Prinzipien aus bekannten Gründen besonders unsinnig und gefährlich ist. Bis jetzt hat aber weder der deutsche noch der polnische Gesetzgeber die dazu nötige Intelligenz, den erforderlichen Mut und das hinreichend ausgeprägte europäische Bewusstsein bewiesen.

Die deutsch-polnische Nachbarschaft hat lange Zeit vor allem an den Problemen beider Nationen gelitten, ihren Platz in Europa und damit auch bei sich selbst zu finden. Heute leidet diese Nachbarschaft unter dem Mangel an jenen Tugenden, die im gegenseitigen Verhältnis auch früher schon knapp waren: eben Mut, Intelligenz und europäisches Bewusstsein. Zum Trost kann man sagen, dass diese Mängel die Wirklichkeit der Politik in den meisten europäischen Ländern kennzeichnen. Insofern passen sich besonders die Polen dem europäischen Standard sehr schnell an. Vielleicht besteht der Sinn der europäischen Einigung gerade darin?

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