Partei zwischen allen Stühlen

Die Ungleichheit nimmt zu - und auch die Empörung über sie. Ein Gewinnerthema für die SPD wird daraus bislang aber nicht, dafür geht es der Mitte zu gut. Wie kann die Partei trotzdem aus ihrem Schutzmacht-der-kleinen-Leute-Ghetto ausbrechen?

In einer repräsentativen Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung stimmten jüngst mehr als 80 Prozent der Befragten der Aussage zu, die Ungleichheit in Deutschland sei mittlerweile zu groß. Interessanterweise wird diese Sicht über alle sozialen Gruppen und über fast das gesamte Parteienspektrum hinweg mit großer Mehrheit geteilt. Zugleich fordern drei Viertel von ihnen höhere Steuern für Privatpersonen mit hohem Einkommen und großen Vermögen. Auch aus wissenschaftlicher Sicht wird zunehmend vor den Gefahren einer wachsenden Ungleichheit gewarnt. Eine zu große Ungleichheit würde das Wachstum bremsen, zu Blasen auf den Finanzmärkten führen, soziale Folgekosten produzieren und die Demokratie gefährden. Selbst OECD, Weltbank und einflussreiche Ratingagenturen haben mittlerweile in den Chor der Ungleichheitsskeptiker eingestimmt.

Handelt es sich um eine Steilvorlage für die Sozialdemokratie, um mehr Gerechtigkeit und Umverteilung zu wagen? Überall, in den Zirkeln der SPD wie auch in weiteren gesellschaftlichen Kreisen, wächst der Appetit auf eine programmatische Volte. Besonders die Linke in der SPD möchte sich endgültig vom Treibanker der Hartz-IV-Gesetze befreien und sehnt sich nach einem neuen Kurs. Doch es lauern auch Gefahren. So befürchten viele, die SPD habe ihr „Gerechtigkeitskapital“ längst verspielt und sei samt Personal und Politik kaum noch in der Lage, das Problem einer wachsenden Ungleichheit glaubwürdig zu verkörpern. Und nicht wenige sind der Meinung, mit Umverteilungsrhetorik sei kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Die leidvollen Erfahrungen des Wahlkampfs 2013, die sowohl die SPD wie auch die Grünen machen mussten, haben die Euphorie verständlicherweise getrübt. Damals tobte eine Schlacht um die Mittelschicht und die Frage, ob die vorgelegten Steuerpläne diese nun zusätzlich belasten oder eben nicht. Geschröpft werden möchte niemand, ob nun die Wähler an den Biertischen, die Eltern vor der Kita oder die Rentner auf Städtereise.

Zwar waren die Reformvorschläge zur Besteuerung von hohen Einkommen, Vermögen und Erbschaften an vielen Stellen nicht klar genug, und über manche Grenzziehungen bei den Steuersätzen lässt sich gewiss streiten. Dennoch stellt sich die Frage, warum es SPD wie Grünen nicht gelungen ist, die Mittelschicht für eine Steuerreform zu begeistern. Kurzum: Warum ließ sich das Unbehagen an der Ungleichheit nicht in politisches Kapital ummünzen? Hatte der Neoliberalismus für ein „falsches Bewusstsein“ gesorgt?

Entfremdung vom sozialdemokratischen Projekt

Auch jetzt gibt es wieder erhebliche Anlaufschwierigkeiten, das Thema Ungleichheit in Schwung zu bringen. Diejenigen, die immer alles besser wissen, nölen bereits halblaut und führen Personaldebatten. Doch so einfach ist die Sache nicht. Statt auf Personen zu schimpfen, sollte man den Strukturwandel betrachten. Dann wird deutlich, dass ein Erregungsthema noch lange nicht zum Gewinnerthema werden muss. Warum also springt die Mittelschicht nur halbherzig auf, wenn sich der sozialdemokratische Zug in Bewegung setzt?

Ein Grund dürfte sein, dass die Erfolge der sozialdemokratischen Agenda in den siebziger und achtziger Jahren heute ihre Durchschlagskraft behindern. Wohlstandsgewinne auf breiter Front, kollektiver Aufstieg, das Wachstum einer gut gestellten und saturierten Mittelschicht sowie Prozesse von Individualisierung und Pluralisierung haben das soziale Fundament verändert, auf dem gesellschaftliche Forderungen nach sozialem Ausgleich ruhen. Eine vergleichsweise ausgeglichene Einkommensverteilung, kollektiver Wohlstandszuwachs und ein hohes Maß an sozialer Versorgung haben die Mittelschichten zwar begünstigt, aber zugleich die Selbstbindung großer Teile der Bevölkerung an das interventionistische Projekt gelockert und auf diesem Wege Einflugschneisen für neoliberales Ideengut geschaffen. Trotz aller Krisenszenarien: Mittelschicht bedeutet heute immer noch eine recht gute sozioökonomische Lage.

Jedoch haben wir es nicht allein mit einer arbeitnehmerischen und „staatsbedürftigen“ Mitte zu tun. Dies wäre zu eng gedacht. In den Haushalten der Mittelschicht sind Fragen von Vermögensakkumulation und -übertragung über die Zeit gesehen wichtiger geworden, der Anteil der Besitzer von Wohneigentum steigt (wenn auch im europäischen Vergleich auf relativ niedrigem Niveau), und die private Vorsorge bindet Teile der ­Mittelschicht an die Kapitalmärkte; ebenso hat sich der Bildungswettbewerb intensiviert sowie auch die Neigung, durch private Ausgaben nachzuhelfen. Wurden die Optionen früher durch die Verbreiterung der ökonomischen Basis erweitert, sieht man sich heute gezwungen, mit den eigenen Ressourcen so umzugehen, dass sie sich mehren. Wer etwas auf der Haben-Seite hat, der ist aufgefordert, es zu investieren und Erträge zu erwirtschaften, sofern er im Statusspiel mithalten möchte.

Gerade weil die Mittelschicht von den kollektiven Zugewinnen des sozialdemokratischen Zeitalters profitiert hat, entfremdete sie sich vom sozialdemokratischen Projekt. Je besser ihre sozioökonomische Lage wurde, desto empfänglicher wurde sie für wirtschaftsliberale Angebote. Die Folge: Ihre Toleranz gegenüber Ungleichheit stieg, während sich die Staats- und Steuerskepsis vergrößerte. Statt sich auf das Modell des sozialen Ausgleichs dauerhaft zu verpflichten, wandte sie sich marktorientierten Lösungen und deren Vorteils- und Gewinnversprechen zu. Obwohl die Mittelschichten nach wie vor von staatlichen Leistungen abhängen, wurde das Mantra von Leistung, Produktivität und der positiven Anreizwirkung von Ungleichheit auch in der Mittelschicht zunehmend akzeptiert; zumindest war man bereit, die damit verbundenen strukturellen Veränderungen in Richtung einer Liberalisierung und Flexibilisierung hinzunehmen. Die große Unterstützung für den sozialpolitischen Schwenk vom nachsorgenden (durch Umverteilung) zum vorsorgenden Sozialstaat (durch Bildungsinvestitionen) sind Ausdruck dieser neuen Orientierung.

Gesucht wird ein Entfesselungskünstler

Zweifellos richten sich aber die Effekte von Ökonomisierung und wachsender Ungleichheit auch gegen die Mittelschichten selbst. Auch sie beklagen die Glorifizierung des Marktes und eine grassierende Wettbewerbskultur, die bis zur Erschöpfung führen kann. Dass sie damit gleich zum Bannerträger einer erneuten Sozialdemokratisierung werden, ist aber unwahrscheinlich. Zu stark ist inzwischen ihre Bindung an den Markt. Die Statusprojekte vieler Angehöriger der Mittelschicht umfassen eben mittlerweile den Besitz von Vermögen und Immobilien. Die Lage ist daher zutiefst ambivalent: Mit dem „Unbehagen an der Ungleichheit“ geht ein gleichzeitiges „Einverständnis mit der Ungleichheit“ (Pierre Rosanvallon) einher. In Fragen der Ungleichheit herrscht ein geteiltes Bewusstsein vor: Man ist dagegen und doch dafür; man hat eine kritische Meinung, möchte aber nicht an der Steuerschraube drehen. Und während staatliche Leistungen eingefordert werden, wird am Markt fleißig investiert. Die Mittelschicht ist mehr denn je eine Zwischenklasse, ein Zwitterwesen, für welche Marktaffinität und „Staatsbedürftigkeit“ (Berthold Vogel) gleichermaßen gelten.

Auch deshalb sitzt die SPD zwischen allen Stühlen: Sich als Schutzmacht der „kleinen Leute“ zu inszenieren, ist hoch riskant. Diese Beschreibung macht der statusorientierten Mittelschicht zu wenige Angebote. Nicht weniger riskant ist allerdings der Versuch, sich zum Muntermacher einer angezählten Mittelschicht zu machen. Bei Teilen der unteren Schichten verfängt das nationalistische Schließungsangebot der Rechtspopulisten schon jetzt. Und wichtige Gruppen der linksbürgerlichen Mittel­schicht fühlen sich im grünen kosmopolitischen Milieu viel wohler als bei der SPD. Beide Fronten in gleichem Maße wahlpolitisch und in einem Programm zu adressieren, wird kaum gelingen. Diese üble Klemme sklerotisiert die ganze Partei und sorgt für sinkende Umfragewerte.

Gesucht wird nunmehr ein Entfesselungskünstler, der die Selbstbindung der Partei an eine schrumpfende Stammbelegschaft aufzuheben vermag, allerdings ohne das Anfüttern eines neuen Klientelismus jenseits des angestammten Reviers. Ob diese programmatische und kommunikative Leistung im Binnenraum von Macht und Mitgliedschaft überhaupt gelingen kann, ist eine offene Frage. Man darf aber vermuten, dass ein parteiinternes Selbstgespräch nicht genügen wird. Letztlich braucht es den Schritt ins Freie, eine Frischluftzufuhr jenseits dieser Fronten. Wenn es die Aufgabe von Parteien ist, Einzelinteressen nicht nur zu aggregieren, sondern in einen Prozess der kollektiven Willensbildung einzubinden und damit auch zu transformieren, so liegt hier das wichtigste Betätigungsfeld einer in die Jahre gekommenen Partei, die sich nach Zukunft sehnt. Natürlich braucht die Sozialdemokratie das Bekenntnis zum gesunden und verantwortlichen Staat, die Bejahung von Toleranz und Liberalität und selbstredend ein Gerechtigkeitsprojekt jenseits reiner Interessenpolitik. Wenn angesichts einer fortschreitenden Ökonomisierung auch die Mittelschicht die steigende Ungleichheit problematisiert, so muss man sie ansprechen und politisieren. Sonst wird sie in der Wagenburg der Besitzstandwahrung verharren.

Keine Frage: Diese Aufgabe wird nicht leicht zu bewältigen sein. Gesucht wird daher eine Programmatik, in der Markt und Leistung ebenso ihren Platz haben wie Solidarität und Gerechtigkeit, in der Identitätsfragen offen gestellt werden, ohne in billige Ausgrenzungsrhetorik zu verfallen. Dazu braucht es eine Sprache und einen Stil, die Haltung ausdrücken, aber auch ein echtzeitiges Lebensgefühl. Und schließlich ein Narrativ, das deutlich macht, dass das sozialdemokratische Projekt nicht von gestern ist, sondern im Gegenteil: auf der Höhe der Zeit.

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