Ostdeutsche Erwartungen

Politische Kultur im Übergang

Am November 1999 veranstaltete das Moskauer Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung ein Diskussionsforum zum Thema: "10 Jahre Transformation: ein Vergleich der deutschen und russischen Entwicklung". Die russische Seite war aus Politik und Politischer Wissenschaft hochrangig besetzt; sie analysierte drastisch Zerfall, Verarmung, Korruption, Machtmissbrauch, mafiakapitalistische Ausplünderung und verfallende Moral des Landes. Produktive Investitionen finden kaum statt, das Kapital fließt in den Westen ab.

Ich nahm aus Moskau die Erfahrung einer brisanten Mischung aus verletztem Stolz, der nostalgischen Erinnerung an Gleichheit und staatlich garantierte Sicherheit sowie einer Sehnsucht nach dem "starken Mann" an der Spitze mit nach Berlin. Typische Aussagen auf und am Rande der Konferenz lauteten: "Es ist schwer, damit fertig zu werden, dass so vieles, was wir aufgebaut haben, umsonst war." "Eigentlich gefällt uns das sozialdemokratische Modell der sozialen Absicherung, und dass der Staat Arbeit schafft, mehr als jedes andere." "Das Misstrauen der Bürger gegen den Staat, der mit kriminellen Gruppen verwoben ist, ist enorm." Wladimir Putin, immerhin verantwortlich für den Feldzug gegen Tschetschenien, avanciert zum Helden und Hoffnungsträger: "Endlich einmal jemand, der tut, was er sagt".

Haben diese russischen Impressionen einen Bezug zu Ostdeutschland? Natürlich ist bei uns vieles anders: Die DDR ist beigetreten; die Übertragung des Wirtschafts-, Rechts- und Sozialsystems der alten Bundesrepublik; die Rolle der Europäischen Union; die 800 Milliarden Mark innerdeutscher Transfers. Die 1 Million Mark staatlicher Subventionen pro Arbeitsplatzerhaltung; Privatisierung und Rechtssicherheit des Eigentums schufen Investorenvertrauen, so dass es keine Kapitalflucht gab. Ein berechenbares Steuerrecht und besondere Abschreibungsmöglichkeiten förderten Investitionen.

Aber gibt es nicht doch ostdeutsche Erwartungshaltungen an die Politik, die postkommunistischen russischen Befindlichkeiten gar nicht unähnlich sind und die eine Politik der Angleichung der Lebensverhältnisse und der notwendigen Modernisierung erschweren? Die russischen Kommunisten haben heute jedenfalls den gleichen rund 20-prozentigen Stimmenanteil wie die PDS in Ostdeutschland. Beide Parteien haben Erfolg mit einer Rhetorik von nationalistischem beziehungsweise ostdeutschem Wir-Gefühl und sozialem Populismus. Gilt das Verdikt: "Wer reformiert, wird abgewählt", nicht besonders für Ostdeutschland, wo es in den Wahlen des Herbstes 1999 (in Brandenburg minus 14,8 Prozent; in Thüringen, in Sachsen und im Ostteil Berlins nur noch Platz drei hinter der PDS) zum Absturz der SPD gekommen ist?

Bestandsaufnahme: Sozialwissenschaftlich ermittelter Sonderweg Ost

Aus der empirischen Sozialforschung der neunziger Jahre ist bekannt, dass sich die Ostdeutschen in wesentlichen politischen Erwartungshaltungen von den Westdeutschen unterscheiden:


Zwar haben sich in zehn Jahren Einheit individuelle Einstellungen und Werte in Ost und West angenähert. Für politisch-gesellschaftliche Orientierungen gilt dies jedoch nicht. Die Ostdeutschen lehnen nach wie vor stärker soziale Ungleichheit, pure Marktlogik, ausschließliches Effizienzdenken ab und sprechen sich mehr für Gleichheit, Gerechtigkeit, Konsens und staatliche Verantwortung beziehungsweise Regulierungen aus. Die Ostdeutschen haben höhere Ansprüche an Ausmaß und Umfang der Sozialpolitik und sind unzufriedener mit den aktuellen Ergebnissen des Sozialstaates. Rund 90 Prozent sprechen sich seit Mitte der neunziger Jahre gegen Kürzungen im Sozialbereich aus, und meinen, der Staat müsse auch in Zukunft seiner Verantwortung bei Altersvorsorge und Krankheit nachkommen. 72 Prozent der Ostdeutschen gegenüber 50 Prozent der Westdeutschen meinen, soziale Sicherheit gehöre unbedingt zur Demokratie. Noch 1997 fanden 79 Prozent der Ostdeutschen die Idee des Sozialismus gut; sie sei nur von schlechten Politikern ruiniert worden. Die Haltung zum bundesdeutschen Wirtschafts- und Sozialsystem ist in Ostdeutschland im Vergleich zum Westen distanzierter, kritischer und auf Veränderungen orientiert, die Rolle des Staates gegenüber dem Markt zu stärken.

Besonders dem Wert der Gleichheit wird im Osten eine deutlich höhere Priorität zugemessen, in Zahlen von 1996: 47 Prozent Ost zu 28 Prozent West. Beim Wert der Freiheit verhält sich die Prioritätensetzung umgekehrt: 35 Prozent Ost zu 56 Prozent West. Das Allensbach-Institut für Meinungsforschung kommentierte dieses Ergebnis seiner Repräsentativstudie folgendermaßen: "Eine einzige Freiheit wird in den neuen Ländern höher eingeschätzt als in den alten: die Freiheit von finanziellen Risiken, sei es bei Krankheit, Not oder Arbeitslosigkeit. Keine andere Freiheit ist dort wichtiger. Das Freiheitsstreben der ostdeutschen Bevölkerung richtet sich weniger auf die Verteidigung der Bürgerfreiheit gegen staatliche und andere Begrenzungen als auf die Absicherung gegen Risiken und Sorgen um die eigene Existenz ... Alle politischen Maßnahmen, die auf sogenannte Egalisierung abzielen, werden in Ostdeutschland überdurchschnittlich unterstützt: eine hohe Steuerprogression, Vermögens- und höhere Erbschaftssteuern, die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems ... Der Aufruf, ‘mehr Gleichheit, weniger soziale Unterschiede′ (findet) eine überwältigende politische Resonanz: 77 Prozent der Ostdeutschen finden diese Forderung sympathisch" (FAZ 13.3.1996).

Zu diesem Befund passt die andauernde Selbstverortung der Ostdeutschen am unteren Ende der sozialen Schichtung. Sie definieren sich zu fast zwei Dritteln als der sozialen Unterschicht zugehörig, während dieser Selbsteinstufung in Westdeutschland nicht einmal 30 Prozent folgen. Spiegelverkehrt sehen die Ergebnisse bei der Frage nach der Mittelschichtzugehörigkeit aus. Im Osten rechnet sich etwa ein Drittel dazu, während es in Westdeutschland fast 60 Prozent sind. Entsprechend zählen sich zur Oberschicht in Ostdeutschland nur 3 Prozent, im Westen sind dies immerhin 12 Prozent (nach Wohlstandssurvey 1998).

Natürlich ist die ostdeutsche politische Kultur nach zehn Jahren Transformation und Integration nicht homogen. Thomas Koch hat jüngst im Deutschland-Archiv (Mai/Juni 1999) die Gleichzeitigkeit dreier Milieus beschrieben, die um die politisch-kulturelle Hegemonie in Ostdeutschland konkurrieren. Er nennt sie: (1) "Träger ostdeutschen Wir- und Selbstbewusstseins"; (2) "‘ost‘-deutsche Bundesbürger"; (3) "Völkische im Osten". Die Parteiidentifikationen überlappen sich hierbei, wobei die PDS im ostdeutschen Milieu und die CDU im Bundes-Milieu einen eindeutigen Schwerpunkt besitzen, während der SPD droht, relativ unspezifisch in beiden Milieus, in der sozial- und gleichheitsorientierten ostdeutschen Formation, wie auch in der auf Modernisierung und wirtschaftliche Leistung setzenden bundesdeutschen Formation, den kürzeren zu ziehen. Zwar verfüge die Anpassungsoption an die westlich-bundesdeutsche "Normalität" perspektivisch über die besten Ressourcen. Doch derzeit sind die Kräfteverhältnisse eindeutig, grob etwa 60:30:10.


Damit überwiegt derzeit noch zu fast zwei Dritteln das ostdeutsche Wir- und Selbstbewusstsein, das Koch durch folgende Stichworte kennzeichnet: "Zugehörigkeit/Selbstwahrnehmung: Ostdeutsche(r); Gewissheit, nicht westdeutsch zu sein. Haltung zur Bundesrepublik als Staat, Gesellschaft und System: Annäherung und kritische Distanz. Wertvorstellungen: pro-sozialistisch. Veränderungsoption: demokratischer Sozialismus. Haltung zur DDR im Rückblick: keine Totalablehnung. Konzentrierter politischer Ausdruck: PDS, demokratische Sozialisten in der SPD."

Thesen: Auch Ostdeutsche können falsches Bewusstsein haben

Die SPD hat ihre in der Bundestagswahl 1998 errungene führende Stellung im ostdeutschen Dreiparteiensystem 1999 erst einmal wieder eingebüßt. Dies hat verschiedene öffentlich diskutierte Gründe. Meine These allerdings ist, dass diese Niederlagen auch tieferliegende Ursachen Ost haben. Es gibt Orientierungen des Sonderweges Ost, wie sie die Sozialwissenschaften
beschreiben, die Gift sind für eine Politik, die den Reformstau auflösen, den Staatshaushalt konsolidieren und die Sozial- und Steuersysteme modernisieren muss. Natürlich kann die Bundesregierung manches besser machen. Doch das Problem falscher ostdeutscher Erwartungshaltungen, die nicht nur die SPD, sondern die Politik überhaupt nicht erfüllen kann, bleibt
bestehen. Dies will ich - im Bewusstsein mit diesem Denkanstoß anzuecken - in ein paar Thesen aufzeigen:

- Die ostdeutsche Ungeduld, von der Regierung sofortige Problemlösung zu verlangen, kann in einer komplexen Gesellschaft nicht bedient werden. So wurde die Stimmenthaltung und -abwanderung der eigenen Wählerklientel begründet mit einem Vertrauensverlust in die Politik der Bundesregierung, die Versprechen gebrochen habe, mit der man generell unzufrieden sei, die keine klaren Konzepte habe. Wer im Staat einen schier allmächtigen Akteur sieht, der alles schnell und ohne Kompromisse eingehen zu müssen, zum Besseren wenden kann, wenn er nur wirklich will, dessen Erwartungen müssen notwendigerweise enttäuscht werden. Das zeigt sich besonders beim Thema Arbeit: Arbeitsplatzbeschaffung kann nur sehr begrenzt Staatsaufgabe sein, vielmehr gibt es auf dem Arbeitsmarkt den Zusammenhang mit wirtschaftlichen Bedingungen wie Konjunktur, Lohnhöhe, Sozialleistungen, Steuersystem etc. Erfolge, etwa des Bündnisses für Arbeit, brauchen Zeit.

- Die bewußtseinsmäßige Abspaltung der privaten Sphäre von Wirtschaft und Gesellschaft ist ein alter DDR-Reflex, sie führt zurück zur Nischen- statt zur Zivilgesellschaft und zu unlogischem Wahlverhalten. Während die persönliche wirtschaftliche Lage von den meisten als gut oder doch wenigstens als zufriedenstellend eingeschätzt wird, beurteilen gleichzeitig viele von diesen die allgemeine wirtschaftliche Lage als schlecht. Je deutlicher Demokratie und Marktwirtschaft kritisiert werden, desto weiter öffnet sich die Schere bei der Einschätzung der persönlichen und der allgemeinen wirtschaftlichen Lage. Am deutlichsten ist diese Schizophrenie bei den zukunftsskeptischen PDS-Anhängern, die im Durchschnitt nicht zu den Verlierern der Einheit zählen, eher sogar Besserverdienende-Ost sind. Sie bleiben der Protestwahl, einer Kultur des Meckerns und des Abstrafens verhaftet, denn auch die gestärkte PDS hat ein katastrophales Kompetenz-Profil: Ihre Wähler erwarten erst gar nicht, dass sie mit den Problemen besser fertig werden würde als andere.

- Dem ostdeutschen Wir-Gefühl, Verlierer der Einheit, "Deutsche zweiter Klasse", sozial unten zu sein, liegen manchmal problematische Vergleichsmaßstäbe zugrunde. Drei Viertel aller Ostdeutschen glauben derzeit, die Bundesregierung tue zu wenig für die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West. Sicher gibt es viele Bereiche, in denen Ostdeutsche kollektiv den kürzeren gezogen haben, erinnert sei nur an "Rückgabe vor Entschädigung". Doch über manchen Vergleich lohnt sich nachzudenken: Dass die Rente bei 85 Prozent West liegt, gilt als Benachteiligung Ost. Doch liegt sie real aufgrund der längeren Beitragszeiten bei Frauen bei 130 Prozent West und bei Männern bei 103 Prozent West. Dass die Löhne bei 75 Prozent West liegen, gilt als Nachholproblem - aber gleichzeitig ist die Produktivität lediglich bei 60 Prozent des Westens angelangt. Welchen Effekt hätte 100 Prozent Lohn auf Investitionen und die auch so schon doppelt so hohe Arbeitslosenquote wie im Westen? Zugespitzt: Wieweit ist es realistisch, dass sich Frankfurt/Oder in jeder Hinsicht mit Frankfurt am Main vergleicht - oder lässt sich nicht auch aus einem Vergleich, wenn nicht mit Russland, so doch wenigstens mit dem osteuropäischen Transformationsprozess in Polen, Tschechien oder Ungarn, lernen? Und auch auf der Ebene der individuellen Lebenswelt ist mancher Frust relativ: Fragt man nach der persönlichen Entwicklung, so antworten beispielsweise derzeit weit mehr Ostberliner (jeder zweite) als Westberliner (nur jeder fünfte), dass es ihnen heute besser gehe als vor der Wende.

- Das in Ostdeutschland mehr als im Westen verbreitete wohlfahrtsstaatliche Staatsverständnis umfassender nationaler Regulierung, Vorsorge und Umverteilung ist in der Gefahr, in einem sozialdemokratischen Traditionalismus von Anfang der 70er Jahre zu verharren und sich von der (west-)europäischen sozialdemokratischen Debatte abzukoppeln. Angesichts von Globalisierung, Europäisierung, neuen Technologien, dem Wandel von Arbeit, Sozialstruktur und Lebenswelten ist das sozialdemokratische Politikkonzept der kollektiven Verantwortung für den Schutz individueller Würde zwar nicht obsolet, es muss aber ergänzt werden durch Konzepte eines Innovations- und Investitionsstaates, der Förderung der Kultur des Unternehmertums, von Bildung und Forschung, der Freisetzung schöpferischer Fähigkeiten, die in Menschen, in modernen Unternehmen und Institutionen angelegt sind. Eine Haltung des passiven Abwartens und des Anspruches auf unveränderte Leistungen kann Reformen blockieren, auch wenn sie von links kommt. Es mag schwerfallen, zehn Jahre nach dem Systemwechsel nicht endlich am Status Quo festhalten zu können. Aber wir befinden uns mitten in einer Zeitenwende. Diese finanzwirtschaftliche, digitale, arbeits- und
lebensweltliche Zäsur lässt das Modell des europäischen Sozialstaates nicht unangetastet. Kernfragen, gegen die sich auch ostdeutsche Befindlichkeiten nicht immunisieren sollten, sind zum Beispiel: wodurch ist der Sozialstaat zukunftssicher zu machen, damit er aus der Finanzierungskrise herauskommt, nicht passivierend wirkt und solidarisches Handeln und individuelle Aktivierung fördert? Wie kann die politische Arbeitsteilung von Staat und Zivilgesellschaft zugunsten letzterer verschoben werden ohne in Privatisierung abzurutschen? Wie können wir den Herausforderungen des "digitalen Kapitalismus" (Peter Glotz) gerecht werden, in dem Wissen, Information, Kommunikation und Bildung zu zentralen Produktionsfaktoren werden?

Hinter mancher Verabsolutierung von Gleichheit in Ostdeutschland steht nicht eine Debatte ums bessere Gemeinwohl, sondern es geht darum, dass diejenigen, die sich als Übervorteilte und als Verlierer der Geschichte sehen, auf ihr Recht pochen. Soziale Gerechtigkeit droht zu einer Metapher dafür zu werden, hier und jetzt ein möglichst gutes Leben vom Staat einzuklagen. Für die Mehrheit der Wähler in Ostdeutschland war das Thema soziale Gerechtigkeit im Herbst 1999 ausschlaggebendes Wahlmotiv. Gerechtigkeit war gewissermaßen die Achillesferse der SPD, ein Teil ihrer potentiellen Wählerschaft war der Meinung, dass die SPD nicht mehr im Einklang mit sozialer Gerechtigkeit stehe. Eine solche Wahrnehmung ist offensichtlich selektiv, hingewiesen sei nur auf die Schließung der zahlreichen Steuerschlupflöcher, darauf, dass die Durchschnittsfamilie 1999 seit Jahren erstmals wieder über mehr Geld verfügt usw. Auch um Gerechtigkeit muss unter dem Wandel gesellschaftlicher Bedingungen jedes Mal neu gerungen werden, natürlich ist sie Bestandteil von Interessenkonflikten, Durchsetzungsstrategien und notwendigen Kompromissen, nicht losgelöst von der Staatsverschuldung zu sehen. Zudem steht im Mittelpunkt, runter zu kommen von der hohen Arbeitslosigkeit, die zu gesellschaftlicher Ausgrenzung führt. Zwischen Gleichheit und Bedingungen, unter denen verstärkt arbeitsplatzschaffend investiert wird, können Zielkonflikte bestehen. Nicht Vermögen an sich ist das Problem, vielmehr, wie möglichst viel Kapital zu unternehmerischer Aktivität vor Ort angeregt werden kann. Und: Sind nicht niedrige Einkommen, zum Beispiel für einfache Dienstleistungen - wenn sie mit sozialer Absicherung verbunden sind und zu einem einigermaßen guten Leben reichen - der Alternative Arbeitslosigkeit vorzuziehen?

In Moskau erhält man heute sinnlich bestätigt, wo die Grenzen liegen: wie wichtig es ist, dass niemand wegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter, wegen Lebensphasen, in denen der Einzelne nicht marktmäßig funktionieren kann, ins Bodenlose stürzt. Die
erbärmlich bettelnden Großmütter in der Innenstadt sollten uns eine herzzerreißende Mahnung sein: Es geht darum, soziale Marktwirtschaft zu erneuern, nicht darum, alle Regulierungen einzureißen.

Was tun?

Erstens darf nicht der Eindruck entstehen, die SPD würde nicht jederzeit in Innovation und sozialer Gerechtigkeit eine Einheit sehen. Gerade im Osten kann sich Modernisierungsbereitschaft nur auf der Basis sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit entwickeln. Vielleicht könnte die alte Unterscheidung von Erhard Eppler zwischen Strukturkonservatismus und Wertkonservatismus weiterhelfen: Gerade um unsere Werte von Gerechtigkeit und Solidarität im derzeitigen "Zivilisationsbruch" (so der Soziologe Heinz Bude) zu bewahren, müssen wir auch gegen viele Partialinteressen Strukturen reformieren.


Zweitens scheint die Rede von der "Neuen Mitte" und überhaupt allzu forsche Modernisierungsrhetorik in Ostdeutschland wenig anzukommen. Das ist kein Plädoyer, die notwendigen Zukunftsreformen sein zu lassen, doch bei ihrer Vermittlung stärkere Vorsicht walten zu lassen. Kommunikation kann polarisierend wirken wollen, es kommt aber darauf an, mehr Menschen mitzunehmen, indem das ungewohnte Neue in integrierende und akzeptierte Formeln gegossen wird.

Drittens muss gerade in Ostdeutschland das Vertrauen in den Kernbereich der sozialdemokratischen Grundwerte soziale Gerechtigkeit und Solidarität wiederhergestellt werden. Dazu kann eine offensive Debatte beitragen, was an der Schwelle zum 21. Jahrhundert Gerechtigkeit und Solidarität eigentlich bedeuten. Die Rückführung der Staatsverschuldung etwa ist ein Akt der
Solidarität mit den kommenden Generationen.

Viertens müssen sich - das ist die Bringschuld des politischen Handelns, dieser Beitrag thematisierte ja nur Erwartungshaltungen an die Politik - faktische Erfolge in der Wirtschaftspolitik und am Arbeitsmarkt einstellen. Das nächste Jahr wird mit seinem Wirtschaftsaufschwung entscheidend.

Fünftens ist nicht Ab- und Ausgrenzung, sondern der offensive Umgang mit dem noch mehrheitlichen ostdeutschen Milieu mit seiner Unterschichtsorientierung und PDS-Nähe empfehlenswert. Dies aber nicht im Sinne eines bloßen Bedienens vorhandener ostdeutscher Erwartungshaltungen, sondern es kommt darauf an, auch Befindlichkeiten aufzugreifen und so umzulenken, dass eine größere Bereitschaft zur Modernisierung entsteht.

Sechstens kommt es darauf an, objektive Zusammenhänge, die den realen Hintergrund für derartige Erwartungshaltungen bilden, zu verändern, etwa die übermäßige Abhängigkeit der Ostdeutschen von staatlichen Entscheidungen, Transfers und Fördertöpfen zu überwinden zugunsten eines "Auf-eigenen-Füßen-Stehens". Nichts wird mehr als ostdeutsche Netzwerke, selbständige Entwicklungen und eigener Erfolg Selbstbewusstsein und Realismus fördern. Oberflächliche Inszenierungskunst reicht nicht aus, es braucht demokratische Kommunikation, damit sich moderne, mehrdimensionale und selbstreflexive Positionen der sozialen Demokratie und Gemeinwohlorientierung verbreitern.

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