Ohne Werte wären wir auch nicht besser

zum Schwerpunkt: Macht. Kampf. Raum. Droht jetzt die Rückkehr der Geopolitik?, Berliner Republik 3+4 /2014

Der 9. Mai ist der „Tag des Sieges“. An ihm gedenkt Russland jährlich des verlustreichen Sieges über Hitler-Deutschland, und an genau diesem Tag besiegelte Wladimir Putin in diesem Jahr das neue Schicksal der Krim – mit einer Militärparade. Deut­licher könnte die Bildsprache nicht sein. Ist also mit der Annexion der Krim die Geopolitik zurück?

Viel hängt davon ab, wie man Geopolitik definiert, das zeigen die Beiträge im Schwerpunkt der vorigen Ausgabe der Berliner Republik. Rolf Mützenich konstatiert, dass „das Konzept der Geopolitik“ als Zustandsbeschreibung der gesamten Weltpolitik „ungeeignet“ sei. Gleichwohl spricht er davon, dass es mit Russland, China und den USA Staaten gebe, die zu Instrumenten der „klassischen Geopolitik“ griffen, wenn dies der Ausweitung des eigenen Einflusses diene. Versteht man Geopolitik schlicht als Machtverschiebungen, so ist auch Deutschland davon betroffen. Ulrich Speck folgert daraus, dass ein mächtigeres Deutschland eine robustere Außenpolitik brauche. David Jalilvand und Timothy Snyder hingegen beobachten im Fall Russlands neue Spielarten der Geopolitik, die über eine schlichte Wiederauflage alter imperialistischer Konzepte hinausgehen. Gasexporte werden strategisch zur Ausweitung der eigenen Einflusszone genutzt, die Annexion der Krim erfolgte durch verdeckte russische Kräfte, und ein Scheinreferendum der lokalen Bevölkerung soll der Landnahme einen demokratischen Anstrich geben. Dabei, so betont Snyder richtigerweise, dienen Begriffe wie Demokratie und Rechtsstaat nur als „leere Gefäße“, als bloße Hülle für traditionelle Machtprojektion.

Ist also die Geopolitik mit aller Macht zurück? Im engeren Sinne: Nein. Eine Annexion wie im Fall der Krim ist nach wie vor die Ausnahme und nicht die Regel. Obwohl in Moldawien und Georgien das Prinzip der territorialen Integrität infrage steht, obwohl sich in Nordafrika und im Nahen Osten alte Grenzen in Auflösung befinden, greift die These von der Rückkehr der Geopolitik zu kurz. Denn vier bezeichnende Merkmale aktueller Konflikte bleiben von den Autoren weitgehend unerwähnt.

Erstens: Der Charakter der neuen Konflikte wird mit „Geopolitik“ schon deshalb völlig unzureichend erfasst, weil der Begriff die Konkurrenz von Staaten um Territorien beschreibt. In fast allen aktuellen Auseinandersetzungen um Grenzen spielen aber nichtstaatliche Akteure eine entscheidende Rolle: In Libyen kontrollieren unzählige Milizen und Warlords Teile des zersplitterten Landes; im syrischen Bürgerkrieg steht das Assad-Regime unterschiedlichen islamistischen und säkularen Gruppen gegenüber; jenseits aller Grenzen bedroht der Vormarsch des IS die staatliche Integrität des Iraks und Syriens. Besonders in Nordafrika und im Nahen Osten prägen nichtstaatliche Akteure die existierenden Konflikte. Klar, auch ihnen geht es um die Herrschaft über Territorien und die Ausbeutung der dortigen Ressourcen. Konfessionelle, weltanschauliche und ethnische Brüche spielen dabei aber eine wichtigere Rolle als die Konkurrenz zwischen Staaten.

Zweitens sind diese nicht-staatlichen Akteure keine billigen Stellvertreter äußerer Mächte und damit mehr als nur Mittel im Spiel der Geopolitik. Zwar erhalten sie oft Unterstützung von außen – wie die Separatisten in der Ukraine, die Milizen in Syrien oder die Kurden im Irak –, aber das bedeutet nicht, dass diese Akteure zugleich extern kontrolliert würden. Die Separatisten in der Ukraine erhalten von Moskau nicht nur militärische Ausrüstung und Training, sondern russische Soldaten füllen angeblich auch ihre Reihen auf. In Tripolis und Benghasi stehen islamistische Milizen einer Allianz gegenüber, die unlängst durch Luftschläge von Ägypten unterstützt wurde. Als prototypisch für die Verbindung von äußeren Mächten und lokalen Milizen muss wohl der Konflikt in Syrien gelten. Seit 2012 wird das Assad-Regime sowohl von Russland als auch von der libanesischen Schiitenmiliz Hisbollah unterstützt. Geld bekommt die Hisbollah überwiegend aus dem Iran, deren Revolutionsgarde ferner die syrische Armee ausbildet. Sunnitische Gruppen, sei es die Al-Nusra-Front oder der IS, haben in der Vergangenheit durch indirekte Unterstützung aus anderen Staaten profitiert: In Saudi-Arabien und Katar spendeten Privatpersonen ungehindert und großzügig für den islamischen Dschihad. Die Türkei wiederum lässt ihre Grenzen offen für Kämpfer, Spenden und Material. Westliche Staaten unterstützen in unterschiedlichem Umfang die Freie Syrische Armee mit Logistik, finanziellen Mitteln und, hinter vorgehaltener Hand, auch mit Waffen.

Diese Unterstützungsleistungen von außen lassen sich aber nicht eins zu eins in eine Kontrolle über die kämpfenden nichtstaatlichen Akteure ummünzen. Moskaus Kontrolle der Rebellen in der Ostukraine wurde sowohl bei der Entführung der OSZE-Beobachter als auch beim Abschuss der malaysischen Passagiermaschine in Zweifel gezogen. Die Türkei ist mit ihrer Politik der Duldung und Unterstützung islamistischer Gruppierungen gescheitert. Das Mantra „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ ist zu einfach. Nicht nur Ankara muss erkennen, dass es die Geister, die es rief, nicht mehr los wird und dass seine Nachbarschaft im Chaos versinkt.

Deshalb muss die deutsche Politik drittens eine Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit nichtstaatlichen Akteuren finden. Konfliktlösungen können nicht mehr nur zwischen Regierungen verhandelt werden, wenn nichtstaatliche Akteure faktisch Teile der betroffenen Staaten kontrollieren. Das macht sie zu zentralen Akteuren bei Verhandlungen um Machtverteilung und Grenzziehung, auch wenn wir ihre Vorgehensweisen und Ziele nicht immer anerkennen können.

Viertens muss sich die deutsche Außenpolitik eingestehen, dass die nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten Ordnungsvorstellungen langfristig auf dem Prüfstand stehen. Die regelbasierte Ordnung des Interessenausgleichs, des internationalen Rechts und der Begrenzung militärischer Mittel wird derzeit gleich mehrfach herausgefordert. Es genügt nicht mehr, die gesamte Aufmerksamkeit nur auf eine akute Krise zu richten: Neben der Ukraine gibt es gewaltsame Auseinandersetzungen in Afrika (Zentralafrikanische Republik, Mali, Südsudan, Libyen); der alte Krisenherd Afghanistan droht erneut aufzuflammen; die Konflikte in Syrien, im Irak, zwischen Palästina und Israel erschüttern den Nahen Osten. An neuen selbstbewussten Mächten wie Indien und China scheitert oftmals der Fortschritt bei wichtigen Themen; Indiens jüngste Blockadehaltung in der Welthandelsorganisation belegt das eindrucksvoll.

Die Debatte über eine Neuausrichtung deutscher Außenpolitik fällt also mitten in eine Zeit, in der die alte Ordnung unter Druck steht. Die Autoren der Berliner Republik fragen zu Recht, was sich daraus für die deutsche Politik lernen und folgern lässt. Richtig ist, dass die Bundesrepublik in dieser Situation stärker als bisher „ordnungsstiftend und ordnungssichernd“ (Speck) wird eingreifen müssen. Zu kurz springen wir in der Debatte aber, wenn wir uns auf die Frage beschränken, ob Deutschland nun eine „robustere“ Außenpolitik braucht und inwiefern dies militärische Mittel impliziert. Für die Strategiefähigkeit sind andere Dimensionen entscheidender.

Demokratische Legitimation muss das Rückgrat einer erfolgreichen Außenpolitik sein. Legitimation erfordert Diskussionen; das lehrt das Beispiel der Ukraine deutlich: Öffentlich und inmitten des Europawahlkampfs wurde um den richtigen Kurs gerungen. Folgt man den jüngsten Umfragezahlen der Körber-Stiftung (siehe den Schwerpunkt-Beitrag von Thomas Paulsen), stimmen die Deutschen getroffenen Entscheidungen in der Außenpolitik dann zu, wenn es konkret wird. Niemand ist abstrakt für mehr oder weniger Engagement, nur zu konkreten Initiativen entwickeln die Bürger eine Meinung. Wer erfolgreich Außenpolitik betreiben will, muss sie konkret machen und bereit sein, sie öffentlich zu verteidigen. Dazu gehört auch eine ehrliche Auseinandersetzung mit bisherigem Engagement, zum Beispiel in Afghanistan.

Natürlich haben Deutschland und Europa ebenfalls außenpolitische Interessen. In der Ukraine-Krise müssen sie mit robusten Mitteln verteidigt werden: mit Sanktionen und mit Konzepten dafür, wie Europa zukünftig unabhängiger von russischem Gas werden kann. Aber es wäre ein fataler Fehler, sich auf Putins Logik der Geopolitik einzulassen. Denn bei der Auseinandersetzung mit Putins Russland geht es vor allem um den Wettbewerb konkurrierender Lebensmodelle: In Russland werden Menschenrechte missachtet, politische Macht und wirtschaftlicher Wohlstand konzentrieren sich in den Händen weniger, Korruption grassiert. Deshalb muss Putins Außenpolitik auf Zwang setzen, um benachbarte Staaten und Gesellschaften an sich zu binden. Im Gegensatz dazu sollten Europa und die Vereinigten Staaten in ihrer Reaktion auf die Ukraine-Krise, aber auch in Syrien und im Irak, ihre Werte fest im Auge behalten. Pluralismus, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschenrechte sind universelle Werte und werden im Westen gelebt. Nicht nur viele Ukrainer wollen, dass ihre Gesellschaft diesen Werten gerecht wird. Diese Werte decken sich auch mit den Forderungen unzähliger Menschen, die im Arabischen Frühling demonstriert haben oder vor den Repressionen in China ins Ausland geflohen sind.

Ihnen – diesen Werten und diesen Menschen – sollte eine westliche Außenpolitik verpflichtet sein, die sich an friedlichem Interessensausgleich, der Einhaltung internationaler Regeln und der Unantastbarkeit der Würde des Menschen orientiert.

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