Ohne Mittelstand kein Aufschwung

Um die Großen kümmert sich die Politik, um die Kleinen der Konkursverwalter - so sehen viele Ostdeutsche die wirtschaftlichen Verhältnisse in ihrer Region. Doch nur wenn die Kleinen größer werden können, wird das Land auf die Beine kommen

Wie heißt es so schön? Der Mittelstand ist das Rückgrat unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Wo wären wir ohne den Mittelstand! Politik muss für den Mittelstand da sein! So hören wir es sonntags in jeder politischen Wahlkampfrede. Am Montag sieht die Welt dann etwas anders aus, jedenfalls aus Sicht von Mittelstand und Handwerk. Dort hat man zunehmend den Eindruck, um die Großen kümmere sich die Politik, um die Kleinen der Insolvenzverwalter.


In Ostdeutschland ist die Bedeutung des Mittelstandes sogar noch höher als in der alten Bundesrepublik. Im einzigen boomenden Sektor des Ostens, der verarbeitenden Industrie, liegt die durchschnittliche Unternehmensgröße bei etwa 40 Mitarbeitern - im Westen bei über 100. Von 6.000 Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe Sachsens gibt es nur 45 (!), die mehr als 500 Beschäftigte haben. Große industrielle Kerne gibt es so gut wie nicht mehr. Wirtschaftspolitik in Ostdeutschland ist deshalb fast ausschließlich Mittelstandspolitik - zumindest sollte man dies annehmen.

Auf die Arbeitsplatzeffekte kommt es an

Doch die Realität sieht anders aus. Seit 1990 hat es keine besondere, durchdachte wirtschaftspolitische Strategie für die kleinen und mittleren Unternehmen im Osten gegeben. Im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik standen häufig Großansiedlungen, seien es VW, BMW, Infineon oder die Chipfabrik in Frankfurt an der Oder. In Sachsen ging seit 1990 jede dreißigste ausgegebene Steuermark an die Firma Siemens. Die Leuchttürme sollten Arbeitsplätze bringen, da war der Staat nicht knauserig mit den Steuermillionen. Doch die Arbeitsplatzeffekte sind in der Summe nicht überzeugend, denn am Fuß der Leuchttürme ist es zumeist dunkel. Untersucht man die Wirkung der seit 1990 eingesetzten Fördermittel auf die Beschäftigung, kommt man auf erstaunliche Zahlen: eine halbe Milliarde Euro ausgereicht an Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern hat vereinfacht gesagt etwa 5.000 Arbeitsplätze gesichert oder geschaffen, durch die indirekten Effekte lässt sich diese Zahl noch verdoppeln. Die gleiche Menge an Fördermitteln - ausgereicht an Unternehmen mit weniger als 500 Mitarbeitern - hat jedoch ungefähr 50.000 Arbeitsplätze gesichert oder geschaffen. Hinzu kommt eine unglaubliche Chuzpe, mit der die großen Unternehmen die Politik erpressen. Ganz unverhohlen hat kürzlich Infineon mit der Abwanderung ins Ausland gedroht, sollte die Bundesregierung weiter Steuervergünstigungen streichen wollen. Dabei hat Infineon in Dresden in den letzten Jahren selbst über 800 Millionen an Steuergeldern bekommen - nicht eingerechnet die Bürgschaften und die zusätzliche Infrastruktur. Die Firma Degussa hat in den vergangenen Jahren unzählige Fördermillionen bekommen, um ihren Standort in Sachsen zu erhalten. Jetzt, ein halbes Jahr nach Ablauf der Fördermittelbindefristen wird das Werk geschlossen. Welche Gesellschaft kann eigentlich die Subventionen zahlen, wenn sie keine Steuereinnahmen mehr hat?


Meine These: Die Wirtschaftsmisere in Ostdeutschland lässt sich nur durch eine konsequente Stärkung der kleinen und mittleren Unternehmen überwinden. Es ist unrealistisch anzunehmen, wir könnten für Ostdeutschland noch 400 BMW-Ansiedlungen erwarten, um das Problem der höchsten Arbeitslosigkeit und niedrigsten Erwerbstätigkeit seit der Wende mit neuer Wirtschaftsdynamik in den Griff zu kriegen. Da die bisherigen Instrumente der Wirtschaftspolitik nicht in dem erhofften Umfang greifen, sind neue Wege nötig. Dazu gehört vor allem die - zugegeben nicht ganz neue Einsicht - dass wer im Osten sparen will, im Osten in Arbeit und damit in Wertschöpfung investieren muss. Nur das wird sich in Zukunft auch politisch auszahlen. Wer nicht in Arbeit investiert, muss Arbeitslosigkeit bezahlen.

An eine Aufholjagd ist nicht zu denken

Seit Mitte der 1990er Jahre beobachten wir in Ostdeutschland ein Wirtschaftswachstum, dass deutlich hinter den westdeutschen Wachstumsraten zurück bleibt. An eine Aufholjagd ist heute nicht zu denken - im Gegenteil, die Schere öffnet sich sogar. Bisher lag der Kern der Aufbaupolitik im Ausbau der Infrastruktur. Das ist richtig und nach wie vor wichtig. Die Infrastrukturlücke in Ostdeutschland ist immer noch sehr groß; nach vorsichtigen Schätzung des IWH-Halle beträgt sie rund 120 Milliarden Euro. Einige hoch moderne Autobahnabschnitte, Bahnstrecken oder Flughäfen sollten nicht darüber hinweg täuschen, dass vor allem in den Kommunen die wirtschaftsnahe Infrastruktur noch lange nicht den "Weststandard" erreicht hat. Hier ist in den nächsten Jahren noch enorme Aufbauarbeit nötig. Je schneller, umso besser.


Doch langsam sollten wir uns auch mit der Frage beschäftigen: Was kommt nach der Kraftanstrengung Infrastruktur? Was ist, wenn alle Autobahnen gebaut sind und trotzdem noch keine blühenden Wirtschaftslandschaften zu beobachten sind? Wie soll es dann weitergehen mit unserer Wirtschaft, mit Mittelstand und Handwerk?


Dazu müssen wir einen Wettbewerb um die besten Ideen zum Aufbau Ost in Gang setzten. Dabei geht es nicht um das "schönste" Krisenszenario. Es geht um politische Handlungsoptionen, um neue Perspektiven für Ostdeutschland. Wir haben nach der glücklicherweise und unverhofft gewonnenen Wahl 2002 eine zweite Chance für den Aufbau Ost, für eine zweite Kraftkraftanstrengung bekommen. Gerade Sozialdemokraten steht es gut zu Gesicht, Alternativen zur Massenarbeitslosigkeit, zum Niedriglohnland Ostdeutschland, zu Dumpinglöhnen und zur Abwanderung zu entwickeln. Und, bei aller Besonnenheit, die Tarifpartner an den Tag legen sollten um die zarten Pflanzen nicht in ihrem Wachstum zu stören:

Den Investoren ist doch wohl nicht eine streikfreie "Zone" versprochen worden oder gar die modellhafte Außerkraftsetzung von verbrieften Arbeitnehmer- oder Arbeitsschutzrechten, wie es sich beispielweise in den Machtphantasien des sächsischen Wirtschaftsministers Gillo äußert. Ihm schwebt ein "Gesetz zum Abbau von Hemmnissen am Arbeitsmarkt" vor, kurz AHA genannt. Meines Erachtens ist dies der untaugliche, rückwärtsgewandte Versuch, 13 Jahre nach der Wende mit Daumenschrauben für Arbeitnehmer jede moderne Unternehmensführung zu unterlaufen, die ja gerade auf Motivation, Verantwortung, Identifikation und Belohnung von Leistung und Erfolg setzt, weil anders Produktivität und Qualität im sich verschärfenden Wettbewerb gar nicht mehr sicherzustellen sind.

Eine zweite Chance für den Aufbau Ost

Ja, wir brauchen eine neue Anstrengung, eine kräftige Investitionsoffensive für den Osten - sowohl für Investitionen der Unternehmen aber besonders der öffentlichen Hand. Wirksame Politik für Ostdeutschland muss für Impulse von eben diesen beiden Seiten aus sorgen - nur das kann Wirtschaftsdynamik und Arbeitsplätze schaffen. Zum einen muss die im Osten seit fünf Jahren (!) anhaltende Konjunkturkrise von Stagnation bis Rezession durch kräftige Investitionsimpulse gestoppt werden. Zum anderen ist Ostdeutschland auch 13 Jahre nach der Vereinigung eben noch lange keine "normale", sich selbst tragende Volkswirtschaft, in der es geboten ist, mittelfristig ausgeglichene staatliche Budgets zu fahren. Wir sehen Licht am Ende des Tunnels, aber wie lang ist der Tunnel noch?


Etwa 40 Prozent dessen, was wir in Ostdeutschland heute verbrauchen und investieren, wird nicht von uns selbst erwirtschaftet. Der Osten hängt weiter an der Transfernabelschnur des Westens. Wer also auf Dauer sparen will, muss im Osten konsequent investieren und zwar in den ersten Arbeitsmarkt. Im vergangenen Jahr wurden im Raum Chemnitz etwa 300 Millionen Euro für öffentliche Arbeitsmarktmaßnahmen ausgegeben. Dem standen jedoch nur 50 Millionen an betrieblichen Investitionen gegenüber. Selbstverständlich hat Florian Gerster Recht, wenn er dieses Missverhältnis beklagt, noch dazu, wo die Effekte der AB-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen bisweilen sehr zweifelhaft sind. Doch die Konsequenz muss doch lauten, die Mittel aus der Finanzierung der Arbeitslosigkeit in Investitionen in Arbeit umzuwandeln statt zu kürzen - und darüber hinaus außer dieser Umsteuerung auch frisches Geld für öffentliche Investitionen in die Hände zu nehmen.


Seit Mitte der 1990er Jahre vollzieht sich die wirtschaftliche Aufholjagd des Ostens im Schneckengang. Seit der selben Zeit haben sich die Sachinvestitionen der Kommunen und Länder halbiert. Diese radikale Kürzung der öffentlichen Investitionen ist eine tickende Zeitbombe, eine Spirale nach unten. Nirgendwo lässt sich durch eine sich beschleunigende Abwärtsdynamik neue Beschäftigung schaffen oder auch nur der Stillstand aufhalten. Es sind noch Riesensummen und Jahre nötig, um diese vereinigungsbedingten Defizite auszugleichen. Ein weiteres Zurückfahren der öffentlichen Investitionen verstärkt die Krise und verringert sie nicht. Nur steigende Binnennachfrage, private wie öffentliche, stimuliert eine wieder wachsende, dynamische Wirtschaft. Dieser Zusammenhang lässt sich wohl kaum leugnen.


Das ist die wichtigste Aufgabe der nächsten Jahre: im Mittelstand Investitionen zu stimulieren. Es geht nicht um Alimentation schon gar nicht um Daueralimentation sondern um Hilfe zur Selbsthilfe, um Hilfe zur Entwicklung einer eigenständigen und sich selbst tragenden Wirtschaft, die zukünftig immer weniger als Wackerstein am Hals der alten Länder hängen muss. Der Stillstand der Konjunktur in den neuen Länder braucht dabei heute unbedingt ein Vorziehen der ursprünglich für später vorgesehenen Investitionen des Solidarpaktes II. Solche kräftige Impulse sind wesentlich wirksamer als das vorgesehene lineare Vertröpfeln.

Fallschirme aus der Oberlausitz

Da der Schlüssel für unsere weitere ostdeutsche wirtschaftliche Entwicklung bei den kleinen und mittleren Unternehmen liegt, müssen wir die Frage diskutieren, ob der Staat nicht stärker als bisher auch in deren finanzielle Stabilisierung und Konsolidierung einbezogen werden muß. Es geht nicht um Verstaatlichung von Unternehmen - das dies nicht zum Erfolg führt, konnte man im Osten sehr gut besichtigen. Gefragt ist vielmehr ein stabilisierendes Eingreifen des Staates auf Zeit, um den existierenden Unternehmen Wachstumschancen zu eröffnen. 13 Jahre nach der Wende ist Konsolidierung und "Stärken stärken" ebenso wichtig wie Neuaufbau, auch um die Millionen von Steuermitteln, unendliche Energien und private Mittel nicht der galoppierenden Kapitalvernichtung von Insolvenzen zu überlassen.


Gerade im verarbeitenden Gewerbe gibt es eine Vielzahl von sich dynamisch entwickelnden Betrieben, Betriebe mit guten Produkten und Exportchancen. Doch häufig fehlen ihnen die Kraft und die Kontakte, um ihre Produkte zu verkaufen, aus dem regionalen Markt auf Wachstumsmärkte vordringen. In der Oberlausitz produziert ein Unternehmen Fallschirme für die Bundeswehr und Isoliermatten für den Airbus - offensichtlich stimmen dort Preis und Leistung. Liebend gern würden die Oberlausitzer auch andere Kunden gewinnen und neue Arbeitsplätze schaffen - doch dafür müssen sie auf Spezialmessen nach Amerika oder Frankreich gehen. Das jedoch kosten mehrere Zehntausend Euro - Geld, das einfach nicht in der Kasse ist. Hier müssen wir helfen.

Niedrige Löhne als Standortnachteil

Die bestehenden Unternehmen müssen deshalb zuerst in die Lage versetzt werden, wachsen zu können. Momentan sind sie mit ihrer minimalen Kapitaldecke, ihren kurzen Markt-, Management- und Marketingerfahrungen zu klein, um zu expandieren. Deshalb orientieren sie sich hauptsächlich auf den regionalen Märkten, die häufig stagnieren oder gar schrumpfen. Dort machen sich die Unternehmen dann im Wettbewerb gegenseitig selbst kaputt. Stattdessen müssen sie von innen heraus wachsen, um neue Arbeitsplätze zu schaffen und bessere Löhne zahlen zu können. Dass niedrige Löhne für die meisten der innovativen Unternehmen mittlerweile zum Standortnachteil werden, sehen selbst viele ostdeutsche Geschäftsführer ein - obwohl die wirtschaftliche Lage einfach nicht mehr hergibt. 62 Prozent von Unternehmern im boomenden verarbeitenden Gewerbe Sachsens sehen Unzufriedenheit unter den Beschäftigten wegen der anhaltenden Lohndifferenzen, 77 Prozent glauben, dass gute Fachkräfte deshalb nicht zu bekommen sind.


Der mutige Ausbau staatlicher Beteiligungen und Bürgschaften kann den Unternehmen die Luft verschaffen, die sie zum Atmen brauchen und ihre Zukunftsfähigkeit sichern helfen. Diese Instrumente - mit zeitlicher Begrenzung eingesetzt - bedeuten für den Staat ein relativ geringes Risiko und fließen - im Unterschied zu herkömmlichen Fördermitteln, die den Unternehmen gleichsam "geschenkt" werden - auch zurück. Beteiligungen, die Eigenkapitalcharakter haben, und Bürgschaften hingegen können die Unternehmen langfristig stabilisieren und ihnen die nötige Kreditwürdigkeit bei den Geschäftsbanken verschaffen. Deshalb ist auch eine Öffnungsklausel für das Kapital-für-Arbeit-Programm nötig, dass es auch erlaubt, an den verschärften Bedingungen der Hausbanken vorbei zu helfen.

Mehr Intelligenz fördern als Beton

Daneben brauchen wir in Ostdeutschland eine differenzierte Förderpolitik, die sich auf die besondere Situation der Region einstellt. Bisher können wir beobachten, dass die klassischen Instrumente nicht greifen. Investitionszuschüsse für Maschinen oder Computer sind leicht abrechenbar, inwieweit die Maschine oder der Computer aber betriebswirtschaftlich tatsächlich sinnvoll ist, wird nicht gefragt. Was wir brauchen, ist eine "weiche Förderpolitik", die weniger als bisher die harten Faktoren - also Häuser und Maschinen - unterstützt, sondern sich auf die offensichtlichen Schwächen der ostdeutschen Unternehmen konzentriert. Die Förderpolitik soll mehr "Intelligenz" statt "Beton und Eisen" fördern. Es kann manchmal sinnvoller sein, ein Markteintritts- oder ein Managementkonzept zu bezuschussen, als einen weiteren Computer oder Produktionstechnik. Dazu braucht es vollkommen andere Mechanismen der Förderung. Bisher war das sehr einfach - alles, was nach harter Investition klang, wurde mit einer Zulage unterstützt. Sinnvoller ist es jedoch, Investitionen eben als solche zu behandeln - und entsprechend über Wechsel auf die Zukunft mit Darlehen und Krediten zu finanzieren. Und die nicht rückzahlbaren Zuschüsse für weiche Faktoren wie F+E, Managementberatung, Marktzugang und Marketing zu verwenden. Vor allem die Absicherung von Exportgeschäften in Osteuropa ist ein Instrument, dass für die kleinen Unternehmen von größter Bedeutung ist - solange sie nicht von Hermesbürgschaften abgesichert werden.

Dem Osten gehen die Arbeitskräfte aus

Ein neues Problem wird die Betriebe im Osten bereits in wenigen Jahren einholen. Dann wird der gewaltige Geburteneinbruch aus der Zeit nach der Wende die Unternehmen erreichen - zu einem Zeitpunkt, da besonders viele Arbeitnehmer in Rente gehen werden. Ab 2006 werden die Unternehmen von der Arbeitnehmerseite in die Zange genommen: Es wird schlicht keiner mehr da sein, der die angebotene Arbeit annehmen kann. Denn die Jungen sind in den letzten Jahren abgewandert oder eben nicht geboren worden. Im Jahr 2007 wird es, im Vergleich zum Jahr 2003, nur noch halb so viele junge Menschen geben, die einen Ausbildungsplatz nachfragen. Gleichzeitig wird sich ab dem Jahr 2006 die Zahl der in Rente gehenden Beschäftigten schnell verdoppeln. Bereits heute besteht in den Wettbewerbssegmenten der verarbeitenden Industrie Sachsens Fachkräftemangel. Mittlerweile wird die lange Arbeitslosigkeit selbst zur Ursache des Fachkräftemangels, wodurch die Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung noch verstärkt werden. Gehen doch Fertigkeiten und Fähigkeiten verloren, von Selbstvertrauen ganz zu schweigen. So kann sich das neue BMW-Werk in Leipzig zwar vor Bewerbungen kaum retten. Immerhin 80.000 haben sich bis heute gemeldet und jeden Tag werden es 150 mehr - ohne dass eine einzige Anzeige geschaltet wurde. Der Anteil der Arbeitslosen unter den Bewerbern liegt jedoch nur bei 20 Prozent. Da scheinen viele bereits aufgegeben zu haben. Der Osten läuft damit in die paradoxe Situation, gleichzeitig Fachkräftemangel und hohe Arbeitslosigkeit zu haben.


Umso wichtiger ist es, bereits heute zu beginnen, die Unternehmen auf diese Entwicklungen vorzubereiten. Die meisten ostdeutschen Unternehmen sind schlicht zu klein, um sich langfristige Personalplanung alleine zu "leisten" - zu sehr sind sie mit dem ganz alltäglichen "Wahnsinn" von Auftragsbeschaffung, Produktionsabsicherung, Finanzierungsproblemen und Marketing beschäftigt. Wenn der Staat nicht will, dass diese Unternehmen in wenigen Jahren in noch gravierendere Turbulenzen kommen, muss heute gehandelt werden - auch damit nicht viele der Fördermillionen der vergangenen 14 Jahre umsonst waren. Das heißt, es müssen Anreize geschaffen werden, um heute - noch dazu in einer Zeit der verstärkten Abwanderung - auf den Personalmangel der nächsten Jahre zu reagieren. Es müssen heute Brücken in die Erwerbsfähigkeit gebaut werden, auch Brücken zwischen Jung und Alt. Darüber hinaus brauchen wir eine Personalberatungsinitiative und Personallotsen, die den Unternehmern die kommenden personalwirtschaftlichen Probleme klar machen. Denn das ist das Hauptproblem: Vielen ist noch gar nicht klar, was binnen kurzer Zeit auf sie zukommt.

Mitarbeiterbeteiligung am Produktivkapital

Ein weiteres Instrument zur Stabilisierung bestehender Unternehmen ist die Mitarbeiterbeteiligung am Produktivvermögen. Eine neue Diskussion über die Verteilung des Produktivvermögens ist an der Zeit. Diese Debatte über die Beteiligung der abhängig Beschäftigten am Produktivkapital der Unternehmen hat eine lange Tradition. Bereits in der Weimarer Republik wurde diese Forderung als Alternative zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel und zur Stärkung der Investitionskraft kapitalschwacher Unternehmen propagiert. In Ostdeutschland - mit seiner eher partnerschaftlichen Unternehmenskultur - fallen derartige Ideen auf eine fruchtbaren Boden. Sie sind auch sinnvoll wegen der immer noch andauernden Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmer, die wesentlich für die positive Entwicklung der ostdeutschen Unternehmen war und ist.

Mitarbeiter als wichtigstes Kapital

Nach wie vor gibt es in den neuen Ländern im Zusammenhang mit dem Produktivvermögen eine besondere Situation. Hier geht es nicht allein um das klassische (sozialdemokratische) Ziel einer breiteren und gerechteren Verteilung des Produktivkapitals. In Folge des Produktionseinbruchs nach der Wirtschafts- und Währungsunion muss in den neuen Ländern nach wie vor dringend die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verbessert werden. Hinzu kommt eine doppelte Entfremdung der Ostdeutschen im Verhältnis zum Eigentum: Über das sogenannte "Volksvermögen" der DDR konnten sie in Wirklichkeit nicht verfügen - und Privateigentum konnten sie nicht bilden. Die ostdeutsche Gesellschaft ist im wesentlichen eine von Arbeitnehmern, Arbeitslosen und Konsumenten. Sie ist kaum eine Gesellschaft von Eigentümern am Produktivkapital, da ist sie im Osten schon lange von den ostdeutschen Westeigentümern überrundet worden - eine Umverteilung Ost-West der besonderen Art. Angesichts der extrem dünnen Eigenkapitaldecke kann man viele Unternehmer auch kaum als Selbständige betrachten. Die Eigenkapitalquote ostdeutscher Unternehmen beträgt im verarbeitenden Gewerbe nur ein Drittel des westdeutschen Wertes. Diese unzureichende Ausstattung lastet wie ein Mühlstein auf diesen Unternehmen: Sie haben zu wenig Liquidität, ihr Rating ist beklagenswert, sie kommen schlechter an Kredite und wenn, dann nur zu strafverschärfend höheren Zinsen, und sie sind kaum in der Lage, in Forschung und Entwicklung zu investieren oder gar größere Krisen zu überstehen.


Die Stabilisierung der mittelständischen Unternehmen im Osten durch Beteiligung am Produktivkapital hat deshalb eine enorm wichtige Aufgabe. So können die Arbeitnehmer an wirtschaftliche Prozesse und unternehmerisches Denken heran geführt werden. Heute, 13 Jahre nach der Wende, haben viele Ostdeutsche immer noch ein gebrochenes Verhältnis zur sozialen Marktwirtschaft, zu Eigentum und eigenverantwortlichem, unternehmerischem Handeln. Doch genau dafür lässt sich in kleineren Unternehmen ein besonderer Einblick gewinnen. Das heißt aber auch, dass die Arbeitnehmer in stärkerem Maße als bisher in die Unternehmen und die Unternehmenskultur integriert werden müssen. Ein Instrument dazu ist eben der Ausbau von Mitarbeiterbeteiligungsmodellen. Mitarbeiterbeteiligung kann die Vermögensbildung der Arbeitnehmer stärken, Mitarbeiter motivieren und sie so an ihre Unternehmen binden. Mit diesem Modell kann sich die Produktivität im Unternehmen erhöhen, gleichzeitig bauen sich die Arbeitnehmer über ihre Beteiligung eine ergänzende Alterssicherung auf. Damit können niedrige Renten - bedingt durch niedrigere Reallöhne und gebrochene Erwerbsbiografien nach der Wende - ergänzt werden. Gleichzeitig wird die Finanzierungssituation der Unternehmen stabilisiert.


Sozialdemokratische Unternehmenspolitik sollte deshalb Mitarbeiterbeteiligungsmodelle im Osten stärker als bisher fördern. Sie stellen ein partnerschaftliches Verhältnis von Mitarbeitern und Unternehmern her, ohne die Entscheidungsfreiheit der Unternehmer einzuschränken. Wer als bloßer Kostenfaktor angesehen wird, wird sich kaum mit seinem Unternehmen identifizieren. Beschäftigte, die am Unternehmen beteiligt sind, sind engagierter, motivierter, sind produktiver und arbeiten mit höherer Qualität.


Sozialdemokraten stünde es gut an, solche kooperativen Wirtschaftsmodelle zu fördern. Dazu sollten unter anderem Arbeitnehmer auf den Teil ihres Netto-Einkommens, den sie in das Betriebskapital einbringen, eine deutlich zu erhöhende staatliche Prämie erhalten. Auch Teile von Fördermitteln könnten in das juristische Eigentum der Mitarbeiter gehen - treuhänderisch verwaltet vom Unternehmer. Konkrete Pläne der Regierung sind bisher noch nicht bekannt. In der Koalitionsvereinbarung von 1998 war der Plan zwar verankert, die Arbeitnehmer "verbessert" am Produktivkapital zu beteiligen. Das Bündnis für Arbeit ist an dieser Stelle auch nicht weiter gekommen. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass in Zukunft Bewegung in die Debatte kommt. Denn die Gewerkschaften überdenken ihre bisher ablehnende Haltung - und auf der Suche nach Ideen zur Rentenreform kann sich die Arbeitnehmerbeteiligung zu einem neuen Element der Alterssicherung entwickeln.

Warum Solidarität organisiert werden muss

Diese Politik der drei Säulen - Investitionsoffensive, Stabilisierung der Unternehmen und weiche Förderpolitik - erfordert eine neue Kraftanstrengung. Vor allem braucht eine solche Politik Solidarität - und genau diese Solidarität muss der Staat, muss die Regierung - eine sozialdemokratische zumal - organisieren. Bisher hat der Markt im Osten gründlich versagt: Die Rahmenbedingungen waren für Unternehmen nicht adäquat, die Ausgangsvoraussetzungen für die Unternehmen zu schlecht, um mit dem Westen zu konkurrieren. Wenn wir nicht wollen, dass eines Tages die gesamte Marktwirtschaft - und mit ihr auch die Demokratie - am Pranger der Ostdeutschen steht, müssen wir dieses Marktversagen korrigieren. Es sei denn, wir wollten allen Ernstes den Aufbau Ost für im Grunde nach erledigt erklären, wie man es gelegentlich auch schon von Sozialdemokraten hören kann.

Wachstum im Osten nützt dem ganzen Land

Ein prosperierender Osten ist aber vielleicht die wichtigste Voraussetzung dafür, dass die Wachstumskräfte in ganz Deutschland wieder freigelegt werden können. Mit einem massiven Abbau der Arbeitslosigkeit könnten langfristig die staatlichen Transfers von West nach Ost abgebaut und so die öffentlichen und privaten Haushalte in ganz Deutschland entlastet werden. Der Aufschwung in Ostdeutschland ist notwendig für einen neuen wirtschaftlichen Boom in ganz Deutschland. Das bedeutet Aufträge, Umsätze und Gewinne für unsere Unternehmen, die dann investieren und neue Arbeitsplätze schaffen - und auch endlich höhere Löhne zahlen können. Wie die Kürzung des Arbeitslosengeldes, die diejenigen bestraft, die am wenigsten für ihre Situation können, in größerem Maße neue Arbeitsplätze schaffen soll, ist schleierhaft. Keiner der Besserverdienenden, die das neue Patentrezept propagieren, kann auch nur annähernd den Wirkungsmechanismus erklären, wie Abbau von Sozialleistungen tatsächlich neue und zusätzliche Arbeitsplätze schafft statt, wie immer in den vergangenen 20 Jahren, von der einen Seite auf die andere Seite umverteilt.


Ein neuer wirtschaftspolitischer Ansatz für Ostdeutschland verlangt Änderungen im Denken und Handeln, er verlangt die Bereitschaft, alte Bärte abzuschneiden sowie die Fähigkeit weder zu dogmatisieren noch alternative Vorschläge zu dämonisieren. Sozialdemokratische Politik sollte sich solcher Veränderungen nicht schämen. Wenn sie verbunden sind mit einer neu zu organisierenden Solidarität mit dem Osten Deutschlands, sind die Sozialdemokraten die einzigen, die das in Ost und West gleichermaßen erklären können. Wir könnten auf diese Weise die soziale Einheit verwirklichen, nachdem "die anderen" sich nur die nationale Einheit auf die Fahnen geschrieben haben. Das Vertrauen und die zweite Chance für eine neue Anstrengung beim Aufbau Ost hat die Sozialdemokraten glücklicherweise bei der letzten Bundestagswahl erhalten. Erfolge dieser Politik werden vielleicht langsamer sichtbar werden. Man kann womöglich nicht immer gleich eine neue Maschine einweihen und ein neues Werk eröffnen, sondern bestenfalls neue Kunden begrüßen. Doch immerhin wird damit ein nachhaltiger Arbeitsplatzaufbau und ein neuer Aufschwung im Osten verbunden sein. Und den kann auch der Westen gut gebrauchen.

Wie der Mittelstand sozialdemokratisch wird

Eine konsequente Politik für den ostdeutschen Mittelstand wird sich letztendlich auch politisch für die SPD auszahlen - und zwar dauerhaft. Die kleinen und mittleren ostdeutschen Unternehmer sind bei weitem nicht so wie in den alten Ländern auf die konservativen Parteien festgelegt. Soziale Verantwortung wird groß geschrieben, gerade dort, wo die Unternehmen klein sind. Eine spürbare Verbesserung des wirtschaftlichen Rahmens würde schrittweise zu einer Aufhellung der Stimmung im Osten führen - und schließlich auch den Sozialdemokraten wachsenden Erfolg bei Wahlen bescheren.

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