Noch ist in Polen nichts verloren

Die Brüder Kaczynski irritieren. Doch mit Empörung über den Populismus der polnischen Rechten ist es nicht getan. Wie die Frage der Vergangenheitsbewältigung zum verbindenden Element der deutsch-polnischen Beziehungen werden könnte

Seit der Parlamentswahl in Polen im September 2005 liest man in den deutschen Medien Kommentare über das Nachbarland, die Angst machen: „Die polnische Katastrophe“, „Der Nachbar als Schreckgespenst“, „Horrorkabinett“ (Tageszeitung), „Zurück ins Mittelalter“ (FTD), „Rechtsruck in Polen“ (Handelsblatt), „Polens Irrweg“ (Süddeutsche Zeitung). Den neuen polnischen Präsidenten Lech Kaczynski stellen deutsche Medien vorzugsweise als antisemitischen, homophoben Populisten und Verfechter der Todesstrafe dar.

Die Partei der Zwillingsbrüder Kaczynski, „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), hatte die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gewonnen und dann, nachdem der Versuch einer Koalition mit der bürgerlich-liberalen „Bürgerplattform“ (PO) gescheitert war, die beiden radikalen Parteien „Liga polnischer Familien“ und „Selbstverteidigung“ an der Regierung beteiligt. Bei „Recht und Gerechtigkeit“ ist der Name Programm. Die Partei steht für zwei zentrale Vorhaben: die Stärkung des (Rechts-)Staates und die Abrechnung mit der kommunistischen Vergangenheit. Im Wahlkampf kündigte die PiS an, damit die „vierte Republik Polen“ zu schaffen. Beide Themen, die Rolle des Staates und die Vergangenheitsbewältigung, haben den polnischen Wahlkampf dominiert und prägen auch weiterhin die öffentliche Debatte. Im Mittelpunkt der deutschen Berichterstattung hingegen standen vor allem die anti-deutsche Rhetorik und der polnische Ultrakatholizismus.

Um die politische Situation in Polen einzuordnen, reicht es nicht, sich über den polnischen Populismus zu echauffieren. Vielmehr müssen die Ziele der PiS in einem gesamtgesellschaftlichen und historischen Kontext gesehen werden. Die deutsche Presse macht sich diese Mühe nicht – und bewertet die jüngsten Ereignisse weit hysterischer als etwa britische oder französische Medien. So droht in Deutschland ein verzerrtes Bild des gegenwärtigen Polens zu entstehen.

Selbst 16 Jahre nach dem Systemwechsel steht Polen noch am Anfang der Aufarbeitung seiner kommunistischen Vergangenheit. Während der Deutsche Bundestag unmittelbar nach der Wiedervereinigung (1991) das „Stasi-Unterlagen-Gesetz“ verabschiedete und damit den „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“ (also die Gauck- beziehungsweise Birthler-Behörde) schuf, musste Polen auf einen entsprechenden politischen Akt lange warten.

Die polnische Stasidebatte

Erst im Jahr 1997 verabschiedete der polnische Sejm das so genannte Lustrationsgesetz und gründete ein Jahr später, nach deutschem Vorbild, das Institut für nationale Erinnerung (IPN). Der Widerstand dagegen war groß, selbst der damalige polnische Präsident Alexander Kwasniewski von der postkommunistischen SLD wollte die Gesetzesinitiative stoppen. Dabei ist das polnische Gesetz vergleichsweise harmlos: Allein die höchsten Staatsvertreter müssen eine Erklärung darüber abgeben, ob sie für den Staatssicherheitsdienst tätig waren. Routineüberprüfungen im öffentlichen Dienst sind ebenso wenig vorgesehen wie Arbeitsverbote oder andere Sanktionen für die offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes. Das polnische Prinzip der Vergangenheitsbewältigung: Bestraft werden nur Personen in politischen Spitzenämtern, die eine Tätigkeit bei der polnischen Stasi verheimlicht haben.

Während die deutsche Birthler-Behörde Anfragen innerhalb von vier bis sechs Wochen beantwortet, braucht die IPN zwei bis drei Jahre. Zum Vergleich: Die Birthler-Behörde hat seit 1991 um die sechs Millionen Anfragen bearbeitet. In Polen waren es seit dem Jahr 2001 gerade mal 52.000, was nicht nur an bürokratischen Hürden liegt, sondern auch am mangelnden Interesse der Polen.

Geschichtsaufarbeitung als Exportartikel?

Kein Wunder, dass vielen dies nicht reicht. Im Jahr 2005 gelangte der Journalist Bronislaw Wildstein, ein ehemaliger Oppositioneller, an eine Liste mit rund 240.000 Namen aus den Archiven des IPN und veröffentlichte diese im Internet. Die Liste enthält unter anderem Namen von offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern der polnischen Stasi. „Die Menschen sollen wissen, welche Funktion ihre Nachbarn oder Kollegen früher hatten“, begründete Wildstein seine Aktion. Obwohl die Zahl der Anfragen beim IPN danach rapide anstieg, kritisierten viele den Vorgang als „wilde Lustration“. Doch selbst die Kritiker gaben zu, dass eine konsequente und differenzierte Aufarbeitung der Vergangenheit für Polen lebensnotwendig ist.

In Deutschland findet die polnische Stasi-Debatte kaum Beachtung. Dabei wissen die Deutschen genau, wie schmerzvoll und doch unverzichtbar die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist. Nicht von ungefähr gilt die Aufarbeitung der beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts als vorbildlich. Der britische Historiker Timothy Garton Ash erkennt der „Vergangenheitsbewältigung made in Germany“ gar „Exportfähigkeit“ zu. Folglich bestehen gerade in diesem Bereich große Chancen zu Zusammenarbeit und Erfahrungsaustausch beider Länder.

Schon in diesem Sommer plant die PiS eine Novelle des Lustrationsgesetzes und damit die Einlösung eines zentralen Wahlversprechens. Der zu überprüfende Personenkreis soll von derzeit rund 27.000 auf 120.000 erweitert werden. Darunter werden alle Staatsbediensteten fallen, inklusive der Mitarbeiter sämtlicher Botschaften und Konsulate, der staatlichen Unternehmen, der Versicherungsanstalten und öffentlichen Medienanstalten. Wer Stasi-Mitarbeiter war, dessen Name soll veröffentlicht werden. Zudem sind Sanktionsmöglichkeiten geplant, etwa ein zehnjähriges Verbot der Arbeit im öffentlichen Dienst.

Mit dem Gesetzesvorhaben geht es der PiS also einerseits um Aufklärung. Andererseits soll der Staat „entkommunisiert“ werden. Denn der alte Staatsapparat wurde nie wirklich ausgetauscht. Noch heute sitzen an vielen entscheidenden Stellen Personen mit kommunistischer Vergangenheit – ob im Justizwesen, im Geheimdienst, bei der Polizei, in der Armee oder in der Verwaltung. Auch die Universitäten und Schulen wurden nie entideologisiert und auf Verstrickungen mit dem alten System hin durchleuchtet.

Blockierter Staat und Korruption

Das Ausmaß dieser Versäumnisse ist für Westeuropäer kaum vorstellbar. In regelmäßigen Abständen kommen in Polen Staatsaffären ans Tageslicht. Sie sind Auswüchse des verfilzten und korrupten Staatsapparates, des Nepotismus und undurchsichtiger Verflechtungen zwischen politischen Eliten, der Wirtschaft und Kriminellen. Die brisanten Affären werden zwar von den unabhängigen Medien regelmäßig aufgedeckt und in Parlamentsausschüssen akribisch untersucht, doch am desolaten Zustand des Staates ändert das nichts.

Über die Ursachen des Problems ist sich das politische Lager rechts von den Postsozialisten einig: Bei der „friedlichen Revolution“ 1989 gingen die Oppositionellen aus der Solidarnosc-Bewegung am runden Tisch mit den alten Machthabern zu viele faule Kompromisse ein. Daraufhin standen bei der Transformation des Landes die Schaffung eines freien Marktes und individuelle Freiheitsrechte im Vordergrund, nicht aber der Umbau des Staates selbst. Damals fehlten dafür auch einfach die – sowohl personellen als auch ideellen – Ressourcen.

Doch auch später hatten die demokratisch gewählten Regierungen kein wirkliches Interesse an einer Staatsreform. Vor allem das postkommunistische Bündnis SLD, das von 1993 bis 1997 und von 2001 bis 2005 an der Macht war, blockte alle Reformen ab, ja machte Erreichtes teilweise wieder rückgängig. Gleichzeitig versank die SLD immer tiefer in Korruptionsskandalen. Das ohnehin in der polnischen Seele verwurzelte Misstrauen gegenüber dem Staat wuchs unaufhaltsam.

Die Rechnung dafür bezahlen die polnischen Linken jetzt mit ihrem Abstieg in die politische Bedeutungslosigkeit. Das Parteiensystem hat sich stark zu Gunsten des rechten Lagers verschoben, so dass die klassische Aufteilung in links und rechts derzeit überhaupt nicht mehr existiert. Neben der national-konservativen PiS bestimmen ausschließlich bürgerlich-liberale, nationalistische oder klerikale Parteien die Szenerie. Auch deshalb fällt es Beobachtern aus den wohltemperierten westeuropäischen Demokratien so schwer, Kriterien für die Beurteilung der polnischen Politik zu finden.

Nun hat sich die PiS aufgemacht, die Polen wieder mit ihrem Staat zu versöhnen und das Gemeinwesen zu stärken. Dafür will sie neben dem Lustrationsgesetz beispielsweise eine zentrale Stelle zur Korruptionsbekämpfung einrichten und den aus der kommunistischen Zeit stammenden militärischen Nachrichtendienst abschaffen. Ein weiterer Baustein dieser Strategie: Die Kaczynski-Brüder sprechen viel von Solidarität und staatlicher Fürsorge und appellieren an den Patriotismus.

Hat die PiS Erfolg, könnte sie ein reinigendes Gewitter sein, auf das ein demokratischeres Polen mit mehr Staatsvertrauen, mehr Gemeinsinn und weniger Korruption folgen mag. Scheitert sie jedoch – an der Unbezahlbarkeit ihrer Versprechen, an der Provinzialität ihres Personals oder an eigenen Affären – könnte die PiS unberechenbar werden und dem Land nachhaltig Schaden zufügen. Bislang jedoch gibt es trotz der Koalition mit dubiosen Parteien kaum Anzeichen für eine Radikalisierung der Regierung.

Deshalb sollte die deutsche Politik übersteigerten polnischen Populismus sowie anti-deutsche und schwulenfeindliche Rhetorik missbilligen, gleichzeitig aber den von der PiS eingeschlagenen Weg der Selbstreinigung durch Vergangenheitsbewältigung ausdrücklich gutheißen. Die deutschen Erfahrungen mit der Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte könnten ein Schlüssel für die dringend notwendige bessere Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern sein.

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