Nicht kleiner werden - größer denken!

Millionen von Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft engagieren sich Tag für Tag ganz praktisch für Demokratie und Weltoffenheit. Zu ihnen und ihrem Lebensgefühl hat die SPD im Bundestagswahljahr 2017 keinen wirklichen Draht gefunden

Weltweit gelingt es sozialdemokratischen Parteien kaum mehr, das Gefühl und die Herzen der Menschen anzusprechen. Woran liegt das? In Deutschland hat die SPD in diesem Jahr eine Serie schmerzhafter Niederlagen erlitten, obwohl ihr Kanzlerkandidat Martin Schulz das sozialdemokratische Herzensthema der sozialen Gerechtigkeit in den Mittelpunkt seiner Kampagne gerückt hat. Gewonnen hat stattdessen eine AfD, die Heimat über Aus- und Abgrenzung definiert und gegen die Moderne rebelliert. Rechtspopulisten brauchen Spaltung und befördern sie. Die SPD ist mit ihrer traditionellen politischen Arbeit für den Zusammenhalt unserer vielfältigen Gesellschaft und für den sozialen Fortschritt hin zu einer gerechten Gesellschaft nicht durchgedrungen.

Es scheint Paradox: Überall, auch in Deutschland, nehmen Chancen-, Einkommens- und Vermögensungleichheit im Zuge der digitalen Globalisierung zu. Trotzdem hat die SPD-Kampagne für mehr soziale Gerechtigkeit zur schlimmsten Wahlniederlage auf Bundesebene seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland geführt. Wie kann das sein? Eine Erklärung muss weiter ausholen, da auch das Parteiprogramm von den Genossinnen und Genossen ganz überwiegend mit größter Zustimmung aufgenommen wurde, die Partei so geschlossen erschien wie in wenigen Wahlkampagnen zuvor und in dieser Zeit gegen den Trend erstaunlich viele Menschen, nämlich über 23 000, neu in die Partei eintraten.

Dringliche Anliegen wurden nicht aufgegriffen

Die meisten Neumitglieder haben angegeben, nach den Erschütterungen durch die unfassliche Wahl von Donald Trump und dem absolut unerwarteten Brexit aus Sorge um den Fortbestand der Demokratie („Wenn das möglich ist, dann ist alles möglich“), aufgrund des gefährdeten Zusammenhalts von Europa und wegen des Wunsches nach mehr sozialer Gerechtigkeit in die SPD eingetreten zu sein. Vielen ist die Angst vor dem Undenkbaren in die Glieder gefahren. Das hat die Dringlichkeit des eigenen parteipolitischen Engagements deutlich erhöht. War und ist also doch der Boden bereitet für eine fortschrittliche Programmpartei wie die SPD?

Eigentlich ja. Aber im Wahlkampf wurde erstens das Thema „Kampf um unsere Demokratie“ nicht mit Leidenschaft geführt, vermutlich um die AfD durch diese Auseinandersetzung medial nicht noch weiter aufzuwerten. Das war eine Fehleinschätzung. Der AfD ist es erfolgreich gelungen, die ernstzunehmenden Ängste politisch zu instrumentalisieren, die durch die vielen nach Deutschland Geflüchteten entstanden sind. Zweitens haben viele Bürger von der Nominierung von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten erwartet, dass er über seine Vision einer gefestigten Europäischen Union berichten werde. Der gefährdete Zusammenhalt der EU wurde im Wahlkampf jedoch nur am Rande gestreift. Das hat viele enttäuscht. Und drittens ist es der SPD trotz der Erfolge in ihrer Regierungszeit und vergleichsweise hoher Kompetenzzuschreibungen nicht gelungen, mittels des Themas soziale Gerechtigkeit mehr Wählerinnen und Wähler zu gewinnen. Offensichtlich konnten hiermit zu wenig Bürger überzeugt werden. Das hat verschiedene Gründe.

In der Mitte klafft eine Sinnlücke

Zuallererst fehlt das Vertrauen in die Gestaltungskompetenz der Parteien. Bei der regelmäßig vom Bundespresseamt ausgewiesenen politischen Kompetenz trauen der SPD seit Jahren in der Regel jedoch nur unter 10 Prozent der Befragten zu, die gegenwärtigen Probleme in Deutschland lösen zu können.

Zudem ist soziale Gerechtigkeit heute viel mehr als Aufstiegsgerechtigkeit („Bildung, Bildung, Bildung“). Genauso wichtig ist das, was man Abstiegsvermeidungsgerechtigkeit nennen könnte. Heute haben die meisten Menschen sehr viel mehr zu verlieren als noch vor fünfundzwanzig Jahren. Viele fühlen sich von Altersarmut bedroht, obwohl sie Geld gespart haben oder sogar ein Haus oder eine Eigentumswohnung besitzen. Da sie gelernt haben, dass es wegen des demografischen Wandels zukünftig zu wenig Beitragszahler für die vielen Rentner geben wird, ist sich in den Mittelschichten niemand mehr seines Erarbeiteten oder Ererbten dauerhaft sicher. Wer hat noch politische Angebote für diese Bürger?

Darüber hinaus hat besonders die Finanzmarktkrise den Menschen bitter gezeigt, dass es irrelevant ist, ob sie hart und fleißig arbeiten, sich an die Regeln halten und ständig weiterbilden. Nein, bedeutsam ist, ob sie als Top-Banker oder als Top-Automanager abgesichert sind, weil sie in einer „systemrelevanten“ Branche arbeiten. Alle anderen können in die Lage geraten, jederzeit unerwartet auf der Strecke zu bleiben. Die SPD hat mit der sozialen Gerechtigkeit zwar all diese Ängste und Unsicherheiten aufgerufen, sie hat den Wählerinnen und Wählern aber nicht den Glauben vermittelt, diese Herausforderungen auch bewältigen zu können.

Das hört sich jetzt alles sehr düster an. Aber gab es nicht den Hype um Martin Schulz? Wir waren doch alle überrascht von der überwältigenden Aufbruchstimmung, von der immensen Sehnsucht nach Sinnstiftung, Hoffnung und Gemeinschaft – verbunden mit dem Wunsch, genau hierfür etwas tun zu können. Anders als viele klugen Kommentatoren, die in der Mitte ein politisches Überangebot ausmachen, bin ich der Meinung, dass in der Mitte eine stetig wachsende Lücke klafft, die von den Parteien immer weniger abgedeckt wird: eine Sinnlücke.

Immer weniger Menschen können Sinn im politischen Handeln der Parteien entdecken. Gleichzeitig engagieren sich jedoch immer mehr Menschen für unsere Gesellschaft. Sie wollen etwas für die Gemeinschaft tun und sind auch der Meinung, tatsächlich etwas tun zu können. Nach einer Allensbach-Umfrage haben sich seit 2015 rund 55 Prozent der Erwachsenen für Geflüchtete engagiert! Ein unglaublich positiver Wert. Und trotzdem – oder gerade deswegen – unterscheidet eine sehr deutliche Mehrheit zwischen Wirtschaftsflüchtlingen, die nur gesteuert und sehr begrenzt über ein Einwanderungsgesetz ins Land kommen sollen, und den Bürgerkriegsflüchtlingen, denen sehr viel Empathie und Mitgefühl entgegengebracht wird. Diese Überforderungsängste wurden im Wahlkampf nicht thematisiert – auch nicht von der SPD. Aus Angst vor der AfD?

Echte Angebote an Engagierte und Sinnsucher

Inzwischen gibt es wieder gefährlich große Parallelen zur Zwischenkriegszeit der Weimarer Republik. Heute wie damals nehmen Rassismus, Nationalismus, Politikverdrossenheit, Zweifel an der Demokratie, eine Verrohung unserer Gesellschaft, die Verdrehung von Tatsachen und Falschmeldungen (Fake News), Begriffsverwirrungen, Verschwörungstheorien, die Sehnsucht nach Führerfiguren und die Bereitschaft zu politischer Gewalt wieder zu. Es gibt aber auch große Unterschiede: Neben dem ausgebauten Sozialstaat sind es zuallererst die unglaublich vielen Bürger, die sich für unser Gemeinwesen engagieren, die nach einem Sinn in ihrem Leben suchen und bereit sind, dafür etwas zu tun. Mit ihnen können und müssen gerade politische Programmparteien wie die SPD wieder offen und partizipativ kommunizieren, um etwas zu verändern.

Die SPD hat nach ihrer schmerzhaften Niederlage jetzt die Chance auf einen Neuanfang. Der ist dringend notwendig. Die Partei muss sich bewegen. Wichtig ist, die sich auftürmenden Probleme nicht in den bestehenden Strukturen, verkrusteten Institutionen und veralteten Prozeduren lösen zu wollen, sondern bereit zu sein, neue Wege der Beteiligung zu gehen. Es geht nämlich nicht nur um die Politikinhalte, sondern auch um den Politikstil. Nur so wird es möglich sein, glaubhaft ein alternatives Sinnangebot einer Gemeinschaft ohne Ausgrenzung zu entwickeln und so die entstandene Lücke zu schließen.

Wahrgenommen werden, darauf kommt es an

Einfach wird das nicht. Wir haben das große Problem, dass die globale Digitalisierung, der weltweite Klimawandel und die damit verbundene Migrationsbewegung alles schneller verändern, als unsere Gesellschaften oder die Politik sinnvoll darauf reagieren können. Wenn sozialdemokratische Parteien wie die SPD in Europa wieder politisch erfolgreich sein wollen, müssen sie nicht nur Angebote für benachteiligte Gruppen, sondern auch Angebote für die Mittelschichten entwickeln, mit denen diese in diesem Wandel mehr Sicherheit vor dem Abstieg erfahren können. Es ist wichtig, den Menschen wieder das Gefühl zu geben, dass sie wahrgenommen und anerkannt werden mit dem, was sie für unsere Gemeinschaft ohne Ausgrenzung tun. Dass wir alle gemeinsam etwas zum Besseren verändern können. Dass es einen Unterschied ausmacht, wer sich für unser friedliches Gemeinwesen engagiert und wer nicht. Und zwar unabhängig vom Geburtsort, von Hautfarbe oder Geschlecht. In diesem Sinne verstandene Heimat ist Einheit in Vielfalt. So könnte ein modernes Deutschland entstehen, ein faires, das nicht ausgrenzt, sondern zusammenhält. Und, in dem die SPD weiterhin eine wichtige Rolle spielt. Denn die Demokratie zu erhalten ist unsere Aufgabe.

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