Nicht Bedrohung, sondern Partner

Die Türkei hat sich verändert. Seit dem 28. August 2007 werden die drei höchsten staatlichen Ämter - Premierminister, Parlamentspräsident, Staatspräsident - von Vertretern der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bekleidet, einer Partei, die ihren politischen Ursprung in der islamistischen Bewegung der Türkei hat

Die politische Machtfülle der AKP ist umso erstaunlicher, als im Frühjahr 2007 Teile des Militärs, des Justizapparates sowie eine Koalition aus Kemalisten und Nationalisten versucht hatten, die Wahl des früheren Außenministers Abdullah Gül zum Staatspräsidenten zu verhindern. Am 27. April 2007, wenige Tage vor dem zweiten Wahlgang, veröffentlichte der Generalstabschef der türkischen Streitkräfte ein Memorandum im Internet, in dem er sich sehr kritisch zur Wahl des neuen Staatspräsidenten der Türkei äußerte. Angesichts der politischen Turbulenzen um den Kandidaten Abdullah Gül unterstrich der Generalstabschef den Willen der Armee, ihrem Auftrag zur Verteidigung der säkularen Werteordnung der türkischen Republik ohne Zögern gerecht zu werden. Diese ungeschminkte Warnung des Militärs an die Regierung, ihren im religiösen politischen Lager verankerten Kandidaten nicht um jeden Preis durchzusetzen, löste einen politischen und juristischen Streit aus, an dessen Ende die Wahl von Gül zum Staatspräsidenten zunächst tatsächlich scheiterte und sich Premierminister Recep Tayyip Erdogan gemäß der Verfassung gezwungen sah, vorgezogene Parlamentswahlen auszurufen.

 

Die Parlamentswahlen vom 22. Juli 2007 demonstrierten jedoch auf eindrucksvolle Weise, dass das vom Militär angeführte Bündnis gegen Gül einen Pyrrhussieg errungen hatte. Nach dem amtlichen Endergebnis erzielte die AKP 46,6 Prozent der abgegebenen Stimmen und damit fast zwölf Prozentpunkte mehr als bei ihrem Wahlsieg im November 2002. Seit Adnan Menderes in den fünfziger Jahren war es keinem amtierenden Regierungschef in der Türkei mehr gelungen, seine zweite Amtszeit mit einem eindeutigen Zuwachs an Wählerstimmen anzutreten. Zusammen mit der AKP schafften nur die Republikanische Volkspartei (CHP), die sich als Sachverwalter des Erbes ihres Gründers Mustafa Kemal Atatürk ansieht (20,9 Prozent), und die rechtsnationalistische Partei der Nationalen Bewegung (MHP) mit 14,3 Prozent den Einzug in die Nationalversammlung. Zusätzlich kamen 26 unabhängige Kandidaten, die zum größten Teil der Partei der demokratischen Gesellschaft (DTP) nahe stehen, mit Direktmandaten ins Parlament. Die DTP ist in den von Kurden besiedelten Gebieten stark, hat aber landesweit keine Chance, die extrem hohe Sperrklausel von zehn Prozent zu überwinden; sie schickt daher ihre Kandidaten als Unabhängige ins Rennen.

 

Gestärkt durch die Wahlen setzte die AKP schließlich im August 2007 mit ihrer parlamentarischen Mehrheit im dritten Wahlgang ihren Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten durch. Damit war die vom Militär angeführte außerparlamentarische Kampagne gegen Gül und die AKP vollkommen fehlgeschlagen. Das kemalistische Establishment hat eine ebenso deutliche wie schmerzhafte politische Niederlage erlitten. Wie ist dieser politische Erfolg der AKP vor dem Hintergrund der EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei zu bewerten? Ist er ein Zeichen der fortschreitenden Demokratisierung des Landes? Oder handelt es sich um den Beginn einer schleichenden Islamisierung der türkischen Politik? Ist die Türkei auf dem Weg zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union? Oder wird sie ein islamistischer Staat werden, der sich womöglich eines Tages gegen die westliche Wertegemeinschaft stellt?

 

Seit dem Ankara-Abkommen von 1963 bis zum Beginn der Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und Ankara im Oktober 2005 und darüber hinaus ist die Türkei einen äußerst beschwerlichen und oftmals sehr steinigen Weg in Richtung europäische Integration gegangen. Zudem wurde das Land im Laufe der Zeit von einer Reihe von Konkurrenten überholt, die nun über den EU-Beitritt der Türkei mitbestimmen dürfen. Es gibt viele Gründe für diesen langwierigen und mühsamen Prozess, und man muss kein Prophet sein, um für die Zukunft weitere Enttäuschungen und Rückschläge vorherzusagen. Ein fortwährender Streitpunkt ist die Weigerung der Türkei, ihre Häfen und Flughäfen für Schiffe und Flugzeuge aus Zypern zu öffnen, solange das türkische Nordzypern wirtschaftlich isoliert bleibt. Da die Türkei damit gegen ihre rechtlichen Verpflichtungen gegenüber einem EU-Mitgliedsstaat verstieß, wurden im Dezember 2006 die Verhandlungen zwischen Brüssel und Ankara über acht der insgesamt 35 Verhandlungskapitel des acquis communautaire ausgesetzt. Weitere Kritik äußerte die Europäische Kommission im „Türkei-Fortschrittsbericht 2006“. Dieser kam zu dem Schluss, die Reformbemühungen der Türkei hätten sich im Jahr 2006 verlangsamt, hinsichtlich der Meinungsfreiheit und der Minderheitenrechte sowie in den Beziehungen zwischen dem zivilen und militärischen Bereich gebe es nach wie vor eindeutige politische Defizite. Diese Defizite werden durch die eingangs geschilderten politischen Ereignisse der vergangenen Monate gut illustriert.

 

Zweifellos handelt es sich bei den genannten Problemen um wichtige Argumente in der kontroversen Debatte über die geplante EU-Mitgliedschaft der Türkei. Doch auch historisch tief verwurzelte Klischeevorstellungen tragen dazu bei, dass die Befürworter des EU-Beitritts mit besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Die öffentliche Debatte im Vorfeld des Kopenhagener EU-Gipfels im Dezember 2004 hat gezeigt, dass das Gefühl der Türken nicht ganz von der Hand zu weisen ist, sie müssten sich nicht nur mit der Erfüllung politischer und wirtschaftlicher Vorgaben herumschlagen, sondern auch mit tief verwurzelten kulturellen Vorurteilen. In diesem Zusammenhang war die Wahl des Protestzeitpunkts gegen eine mögliche EU-Mitgliedschaft der Türkei bezeichnend. Die Gegner eines EU-Beitritts der Türkei erhoben ausgerechnet in einer Phase lautstark ihre Stimme, in der die damals neue türkische Regierung wichtige Reformen auf den Weg brachte, um die Kopenhagener Kriterien der EU zu erfüllen.

 

Im November 2002 hatten die Türken die schwache und zerstrittene Koalitionsregierung des kurz zuvor verstorbenen politischen Veteranen Bülent Ecevit abgewählt und erstmals der AKP unter Recep Tayyip Erdogan eine komfortable Mehrheit im türkischen Parlament verschafft. Obgleich die Wurzeln der AKP im politischen Lager der türkischen Islamisten liegen, führte die Partei schon damals einen offen europafreundlichen Wahlkampf und konnte Wähler aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten für sich gewinnen. Nach der Regierungsübernahme leitete die AKP einschneidende Reformen ein, um die formalen Anforderungen an eine EU-Mitgliedschaft zu erfüllen. Kurzum, die türkischen Wähler bewiesen ihre politische Reife, und die neue Regierung zeigte ihre Bereitschaft zur politischen Erneuerung.

Welchen Charakter hat der Reformprozess?

Gleichzeitig machten aber europäische Beobachter erneut das „Andersartige“ in der Türkei aus. In einem Ton, der an Reiseberichte von Orientalisten des 18. und 19. Jahrhunderts erinnerte, lamentierten sie über die kulturelle Eigenart der Türken und verwiesen auf die angeblich große Kluft, die diesen muslimischen Staat vom christlichen Europa trenne. In der nun einsetzenden öffentlichen Debatte ist es vor allem diese Frage, die mehr oder weniger deutlich die Argumentation der Gegner und Befürworter einer EU-Mitgliedschaft der Türkei dominiert. Während die Gegner den EU-Beitritt der Türkei wegen ihrer religiös begründeten Andersartigkeit ablehnen, befürchten die Befürworter, das Land könne ein islamistischer Schurkenstaat werden, sollte aus Brüssel ein „Nein“ kommen.

 

Angesichts der nun erfolgten Stärkung der AKP wird diese polarisierte Diskussion wohl nicht so schnell verstummen. Vor diesem Hintergrund sind drei miteinander zusammenhängende Fragen für die laufende Debatte von entscheidender Bedeutung: Welchen Charakter hat der Reformprozesses in der Türkei? Welche Folgen hätte ein Scheitern der Beitrittsverhandlungen? Und wie ist es, ganz generell, um die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie bestellt?

 

Etliche europäische Beobachter der türkischen Politik stellen immer wieder die Frage nach den „wahren“ Absichten hinter der Beitrittskandidatur der Türkei. Sie deuten die besonderen Schwierigkeiten, mit denen sich Ankara bei der Reform des Landes konfrontiert sieht, in dem theoretischen Kontext, den Samuel Huntington in seinem Buch über den Kampf der Kulturen vorgegeben hat. Darin bezeichnet Huntington die Türkei als ein „zerrissenes Land“, in dem die autoritäre Elite des kemalistischen Staates versuche, das Land gegen den Willen der absoluten Mehrheit der Bevölkerung an den Westen zu binden. Aus türkischem Blickwinkel handelt es sich bei Huntingtons Bild allerdings um eine Karikatur der politischen Wirklichkeit im Land. Natürlich trifft es zu, dass in der Türkei – wie in allen EU-Mitgliedsstaaten – eine breite Koalition von EU-Skeptikern existiert. Gegenwärtig trifft man in diesem politischen Lager auf autoritär gesinnte Laizisten und Islamisten, die ein seltsames Zweckbündnis aus linken und rechten Nationalisten bilden. Vor allem seit die AKP-Regierung begonnen hat, wichtige demokratische Reformen zu verwirklichen, meldet sich diese heterogene Koalition autoritär gesonnener politischer Kräfte immer wieder lautstark zu Wort.

 

Allerdings werden die Befürworter einer autoritären Politik zahlenmäßig zunehmend von einer Schicht gut ausgebildeter Türken überflügelt, die – unabhängig von ihrer jeweiligen laizistischen oder religiösen Haltung – den demokratischen Wandel deutlich begrüßen. Die Wahlen im Juli 2007 haben dies eindeutig unterstrichen: Sie können auch als ein öffentliches Votum gegen die politische Einflussnahme des Militärs gewertet werden. Hinzu kommt, dass sich die AKP am Wahltag nicht nur auf die Stimmen religiöser Türken, sondern auch auf das politische Vertrauen einer großen Zahl nicht praktizierender Muslime stützen konnte. Nur eine demokratische Türkei, die auf einer funktionierenden Marktwirtschaft und einer rechtsstaatlichen Ordnung beruht, kann dieser neuen, demokratisch gesonnenen Generation eine Zukunft bieten. Sie hat ein aufrichtiges Interesse am Reformprozess und wird langfristig das politische Schicksal der Türkei bestimmen.

Was wäre, wenn der Beitrittsprozess scheiterte?

Man kann daher mit gutem Grund davon ausgehen, dass diese Generation versuchen wird, den umfassenden Reformprozess fortzusetzen – ungeachtet der Hürden, die ihnen die Gegner des EU-Beitritts in der Türkei und in der EU in den Weg stellen. Allerdings ist dieser innenpolitische Kampf zwischen demokratischen und autoritären politischen Kräften mit dem eindrucksvollen Wahlsieg der AKP noch keinesfalls entschieden. Die Beitrittsverhandlungen zur EU stellen daher in der derzeitigen Situation für die politische Elite des Landes – und gerade auch für die AKP selbst – einen notwendigen Rahmen dar, um den politischen und wirtschaftlichen Reformkurs fortzusetzen. Trotz dieser innenpolitischen Machtkämpfe besteht aber die begründete Zuversicht, dass sich die demokratischen und pluralistischen Kräfte in der Türkei letztlich durchsetzen werden.

 

Welche Folgen hätte nun das Scheitern der Beitrittsverhandlungen? Angesichts des unterschwelligen religiös und kulturell motivierten Widerstandes gegen die EU-Mitgliedschaft der Türkei, die Teile der europäischen Bevölkerung und deren politische Eliten an den Tag legen, ist diese Frage auf jeden Fall berechtigt. Auch in Zukunft wird verschiedentlich die Forderung nach einem Stopp der Verhandlungen laut werden. Die Präsidentschaftswahlen in Frankreich beispielsweise haben gezeigt, wie der Beitrittsprozess der Türkei im Rahmen nationaler Wahlkämpfe instrumentalisiert werden kann. Die EU-Mitgliedschaft der Türkei wird somit immer wieder zu einem Gegenstand der europäischen Innenpolitik und ist insbesondere eng mit der Einwanderungsdebatte verbunden.

 

Die tatsächliche Reaktion der Türkei auf ein eventuelles Scheitern des Beitrittsprozesses hängt jedoch von einer Reihe nur schwer abschätzbarer historischer Bedingungen ab. Im Vordergrund steht dabei der Zeitpunkt, zu dem ein „Nein“ aus Brüssel erfolgen würde. Angesichts der fortwährenden Reformen könnte für die autoritären Kräfte des Landes schon bald der Punkt erreicht sein, an dem es kein Zurück mehr gibt. In diesem Fall wäre sogar denkbar, dass eine den Kopenhagener Kriterien entsprechende, demokratische Türkei die Vollmitgliedschaft zu einem Zeitpunkt ablehnt, zu dem der enge Reformrahmen der EU gar nicht mehr gebraucht wird. So spielen viele türkische Intellektuelle mit dem Gedanken, dass letzten Endes eine völlig umgestaltete pluralistische Türkei den Europäern die Demütigungen der Vergangenheit dadurch heimzahlen könnte, dass sie Brüssel den Rücken zukehrt.

 

Zurzeit allerdings erscheint ein Rückfall in undemokratischere Strukturen oder Phasen des offenen Autoritarismus wahrscheinlicher. Wenn man sich jedoch die Geschichte der türkischen Republik mit drei direkten und einer indirekten militärischen Intervention (in den Jahren 1960, 1971, 1980 und 1997) vor Augen hält, so wäre dieses Scheitern der Reformen höchstwahrscheinlich auf den Einfluss des laizistischen, aber konservativen kemalistischen Establishments zurückzuführen. Das Scheitern der Kampagne gegen Staatspräsident Abdullah Gül sollte nicht vorschnell mit einem Ende der politischen Interventionen des Militärs und der kemalistischen Staatsbürokratie gleichgesetzt werden. Die Türkei würde sich im Falle des Scheiterns der EU-Beitrittsverhandlungen nicht in einen islamistischen Schurkenstaat verwandeln, sondern es wäre mit der Rückkehr von zentralistisch und nationalistisch eingestellten Regierungen zu rechnen, die unter dem Einfluss des „aufgeklärten Absolutismus“ der laizistischen militärisch-bürokratischen Elite des Landes stünden.

 

In Europa herrscht allgemein die Ansicht vor, bei der Türkei handele es sich um das einzige rein säkulare Staatswesen in der muslimischen Welt. Folglich ließ die Regierungsübernahme der AKP die Befürchtung aufkommen, dass die türkische Regierung auf die EU-Mitgliedschaft setzen könnte, um heimlich die Islamisierung des Landes voranzutreiben. Im Grunde beruhen diese Befürchtungen auf der überwiegend negativen Haltung des modernen Europa gegenüber Religion im Allgemeinen und dem Islam im Besonderen.

 

Folgt man dem klischeehaften Weltbild einer säkularen europäischen Moderne, so schließen sich Religion und Modernität vermeintlich gegenseitig aus. Demnach geht die Modernisierung einer Gesellschaft stets mit ihrer Säkularisierung einher – im Sinne eines linear schwindenden Einflusses der religiösen Werte und Institutionen in der Gesellschaft. Aus dieser Perspektive wird die zunehmende Präsenz des Islam in der türkischen Öffentlichkeit als ein Abweichen vom bisherigen Modernisierungsprozess des Landes gewertet. In den Augen vieler Beobachter scheint die frühere Bastion des Laizismus in der muslimischen Welt zu wanken.

Wie die Laizisten die Religion instrumentalisierten

Die nähere Betrachtung der Geschichte des türkischen Säkularismus legt indessen eine andere Deutung nahe. Seit seinen Anfängen in den zwanziger Jahren stand der türkische Laizismus keineswegs für die Trennung von Religion und Politik. Vielmehr diente das laizistische Prinzip dem Staat als Mittel zur Kontrolle der Religion. Es entwickelte sich zum ideologischen Kernelement der kemalistischen Staatsdoktrin und legitimierte in der Folge die undemokratische Einparteienherrschaft der Republikanischen Volkspartei (1923 bis 1946) und später die politische Eigenständigkeit der türkischen Streitkräfte.

 

Paradoxerweise haben die eingefleischten Laizisten der kemalistischen politischen Elite die Religion je nach Bedarf instrumentalisiert. Wenn es in den siebziger und achtziger Jahren um die Definition der türkischen Nation, die Schaffung einer nationalen türkischen Kultur oder um den Kampf gegen die Ideologie der Linken oder die kurdischen Nationalisten ging – stets erfüllte der staatlich definierte sunnitische Islam eine bestimmte Aufgabe in der türkischen Politik.

 

Insofern kommt der „Wiederaufstieg“ des Islam in der türkischen Öffentlichkeit nicht überraschend. Tatsächlich ist die zunehmende Präsenz und Eigenständigkeit religiöser Symbole in der Türkei aber zumindest teilweise auch eine Folge des derzeitigen Reformprozesses. Durch die Übertragung der pluralistischen Normen der Kopenhagener Kriterien auf die türkische Gesellschaft, vor allem des Grundrechts auf Meinungs- und Religionsfreiheit, wird der Staat geradezu zwangsläufig seine Dominanz über die Religion verlieren müssen. Dadurch könnte die Europäisierung und Demokratisierung der Türkei in der Tat mit ihrer „Re-Islamisierung“ einhergehen. Eine Gleichzeitigkeit von „Islamisierung“ und Demokratisierung der türkischen Gesellschaft ist nicht ausgeschlossen.

 

Die Türkei steht in den nächsten Jahren vor der Herausforderung, die formalen Reformen ihrer politischen und rechtlichen Institutionen in die gesellschaftliche Praxis umzusetzen. Das im Dezember 2005 angestrengte Gerichtsverfahren gegen den türkischen Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger des Jahres 2006, Orhan Pamuk, hat deutlich gezeigt, dass dies ein schwieriger Prozess ist. Das Recht auf freie Meinungsäußerung und der staatlich-zentralistische Nationalismus des türkischen Staatsapparats sind schon mehrmals zusammengeprallt. Auch die Regierung Erdogan hat sich in diesen Konfrontationen zwischen Staat und Gesellschaft nicht immer als eine unbeirrte Vertreterin demokratischer Werte gezeigt. Daher kann der Weg bis zur Aufnahme einer konsolidierten demokratischen Türkei in die Europäische Union noch sehr lang sein.

 

Wir müssen uns bewusst machen, dass es in Wirklichkeit einen erbitterten innenpolitischen Machtkampf um die Verwirklichung von Reformen gibt, in dem sich voraussichtlich noch mehr politische Dramen wie der Fall Pamuk oder der Fall Gül abspielen werden. Im Laufe des Reformprozesses werden einzelne Personen und Institutionen allmählich ihren privilegierten Status in der türkischen Gesellschaft verlieren. Die problematischen Beziehungen zwischen den zivilen und militärischen Institutionen sowie die häufige Obstruktion der Regierungspolitik durch die Justiz sind zwei sehr aufschlussreiche Beispiele für die aktuellen Auseinandersetzungen um den Status, die Ressourcen und die überkommenen Privilegien, die mit der Reform der politischen und gesellschaftlichen Institutionen der Türkei einhergehen.

Nicht Bedrohung, sondern Partner

Allerdings steht die AKP erst am Anfang des Weges hin zu einer Art konservativer Volkspartei. Auch in ihren Reihen gibt es nach wie vor antidemokratische Kräfte, die dem autoritären Kemalismus am liebsten eine nicht weniger autoritäre islamistische Staatsdoktrin entgegensetzen würden. Die zweite Amtszeit von Premierminister Recep Tayyip Erdogan und die Präsidentschaft von Abdullah Gül müssen daher zeigen, ob die AKP trotz ihrer politischen Machtfülle bereit ist, weiterhin eine konsequente Politik der demokratischen Reformen zu verfolgen. Das Regierungsprogramm für die kommende Legislaturperiode jedenfalls scheint diese Bereitschaft zu signalisieren. Die zweite Regierung Erdogan will an ihrem Reformkurs festhalten und betont, dass der Beitritt zur Europäischen Union weiterhin das vordringlichste strategische Ziel der türkischen Außenpolitik sein wird. Dieses Ziel ist nicht nur von außenpolitischer, sondern auch von innenpolitischer Bedeutung, da es von der gesellschaftlichen Umgestaltung nicht zu trennen ist. Die türkischen Wähler können die Rolle der AKP in diesem innergesellschaftlichen Reformprozess bei den Kommunalwahlen im Jahre 2009 erneut bewerten.

 

Die EU täte gut daran, diesen Reformprozess nicht nur sorgfältig zu beobachten, sondern ihn durch notwendige Gesten der Solidarität und des Verständnisses auch zu unterstützen. Dies gilt zumindest für den Fall, dass man in Brüssel tatsächlich eine Vorstellung von der gemeinsamen politischen Zukunft mit der Türkei besitzt. Die immer wieder öffentlich geäußerten Zweifel an der prinzipiellen „Europatauglichkeit“ der Türkei – die sich selbst ja als integralen Teil der europäischen Politik versteht – sind dabei leider äußerst kontraproduktiv. Die Europäer sollten sich darüber im Klaren sein, dass sich nicht nur die Türkei verändern muss. Während die Türken das geschichtliche Erbe einer jahrzehntelangen autoritären und staatlich-zentralistischen Herrschaft überwinden müssen, sollten die Europäer ihre historisch begründeten Vorurteile abstreifen, aufgrund derer die Türkei nach wie vor eher als Bedrohung denn als Partner empfunden wird. Die Türkei ist nicht der Antichrist, der Einlass in die EU begehrt. Sie ist ein muslimisches Land, für das die EU-Mitgliedschaft in der geschichtlichen Logik seines eigenen Modernisierungsprozesses liegt. Sollten die EU-Mitgliedsstaaten diese europäische Dimension der Türkei nicht erkennen können oder wollen, könnte der gesamte Beitrittsprozess tatsächlich eines Tages obsolet werden.

zurück zur Ausgabe