Nicht aus 40, sondern aus 14 Jahren

Kann der Westen vom Osten lernen? Eine ganze Menge! Die Ostdeutschen haben heute allen Grund zu Stolz und Selbstbewusstsein - nicht auf irgendein Erbe der vermufften DDR, sondern auf ihre Leistungen im neuen Deutschland seit 1989, meint unser Autor

Potsdam, Hans-Otto-Theater, ein Abend Mitte Mai. Das Forum Ostdeutschland der SPD hat zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. Thema: "Kann der Westen vom Osten lernen?" Der Saal ist rappelvoll, per Videoleinwand wird die Debatte noch in einen Nebenraum übertragen - mit so viel Interesse hatten die Organisatoren nicht im Traum gerechnet. Als nach einer guten Stunde das Saalmikrofon freigeschaltet wird, meldet sich als erstes ein stämmiger Herr mittleren Alters. Er beantwortet die Frage des Abends mit einer weiteren Frage: "Was machen denn die im Westen, wenn mal eine Schraube kaputt geht?" Die wüssten ja gar nicht mehr mit einem Gewindeschneider umzugehen, erklärt er triumphierend; er dagegen könne sich immer helfen. Applaus. Dann erzählt er noch, wie er aus einem alten Elektromotor einen Rasenmäher gebastelt hat. Das also soll der Westen vom Osten lernen? Improvisationstalent und Friemeleigeschick?

Der Mann verkörpert das, was der Soziologe Wolfgang Engler den Stolz einer "arbeiterlichen Gesellschaft" genannt hat. Doch dessen Grundlage ist mit der DDR zusammengebrochen. Die Demütigung, die dem Proletariat nach 1989 widerfuhr, hat Volker Braun in seiner Erzählung Die vier Werkzeugmacher beschrieben, einem Lehrstück über vier Arbeiter, die in ihrem Betrieb in Berlin-Oberschöneweide unersetzbar waren, die "gestern noch gefragte Leute waren, von denen es hieß, sie müssten gepflegt werden, Werkzeugmacher, und heute Wichte. War das je vorgekommen, dass die herrschende Klasse so entmachtet wurde und verwandelt in den letzten Dreck?" Man muss diese Entthronung nachvollziehen, wenn man die Ostdeutschen verstehen will. Nur lässt sich daraus für die Zukunft kaum etwas ableiten. Was der Westen vom Osten lernen kann, resultiert weniger aus der DDR als aus dem Umgang mit ihrem Zusammenbruch. Nicht ihr Vor-Wende-Leben haben die Menschen in den neuen Bundesländern den Bürgern der alten Bundesrepublik voraus, sondern ihre Nach-Wende-Erfahrungen. Die wesentliche Zeit sind die vergangenen 14 Jahre - und nicht die 40 Jahre davor.

Folgsame Kinder, leckere Brötchen: die DDR

Natürlich ist es für ostdeutsche Politiker identitätspolitisch verlockend, immer noch und immer wieder auf die schönen Seiten der DDR zu verweisen. Waren die Menschen früher nicht viel netter zueinander? Und die Kinder so folgsam? Waren die Polikliniken nicht eine feine Sache? Und in den Schulen bekamen die Schüler damals doch noch wirklich etwas beigebracht. Für die Kleinen wurde in Kinderkrippen gesorgt, für die Großen in Jugendclubs. Die Frauen waren gleichberechtigt. Und die Brötchen leckerer.

Die Kehrseiten geraten dabei leicht aus dem Blick: Die Menschen waren auch deshalb nett zueinander, weil sie in der Notgemeinschaft viel stärker auf andere angewiesen waren. Das Kollektiv war ein effizientes Instrument der sozialen Kontrolle. Das Erziehungssystem war gründlich durchideologisiert, Bildungsministerin Margot Honecker nicht von ungefähr eine allgemeine Hassfigur. Die berufstätige Frau in der DDR musste oft ein doppeltes Arbeitspensum erfüllen, weil der vormoderne Ostmann eben nicht im Haushalt und bei der Kindererziehung mithalf. Und im Gesundheitswesen wurde häufig der Mangel verwaltet. In den Betrieben ebenso.Die meisten der DDR-Kompetenzen nützen heute nur noch wenig (was nicht heißt, dass man sie als Ostdeutscher nicht weiterhin hüten könnte oder dürfte). Sie sind harmlose Relikte einer vergangenen Zeit. In westdeutschen Augen wirken sie so putzig wie die Ostalgie-Shows, die im vergangenen Jahr auf allen Fernsehsendern liefen. Interessanterweise handelten diese Shows immer nur von der seligen DDR - das Ostdeutschland des 21. Jahrhunderts hingegen kam in ihnen nicht vor. Sich damit zu beschäftigen wäre für die eingefahrene bundesrepublikanische Ordnung viel irritierender als FDJ-Blusen, Bambina-Schokolade und die Rockrentner von den Puhdys.

Flexibilität, Anpassungsbereitschaft und Pragmatismus sind Disziplinen, in denen der Osten dem Westen voraus ist. In den Neuen Ländern ist nach 1990 nichts geblieben, wie es einmal war. Klar, viele Ostler haben genörgelt und gejammert, aber akzeptiert haben sie es letztlich doch. Sie mussten ja. Ihnen braucht - anders als vielen Westdeutschen - niemand mehr beizubringen, dass Gewissheiten zerbröseln können, dass soziale Sicherungssysteme nicht bis in alle Ewigkeit halten. Sie erleben bereits heute, was dem Westen noch bevorsteht: Dass Städte und Dörfer vergreisen und schrumpfen. In den Neuen Ländern "kann man den Umgang mit der Krise lernen", hat Rüdiger Pohl vom Hallenser Institut für Wirtschaftsforschung den Konkurrenzvorsprung des Ostens einmal auf den Punkt gebracht. Matthias Platzeck bescheinigt seinen Landsleuten eine größere "Umbruchkompetenz".

Im Osten arbeitet man länger

Wenn die deutsche Wirtschaft heute über zu viel Regulierung schimpft, meint sie damit die Errungenschaften des Rheinischen Kapitalismus. In den Neuen Ländern wurden sie nicht erkämpft, dort sind sie nicht so fest verankert, dort werden sie bereitwilliger und ohne ideologische Grabenkämpfe aufgegeben. Im wilden Osten halten sich nur wenige Unternehmen an Flächentarifverträge - und fast niemand hält das für einen Skandal. In der Metallbranche der neuen Länder wird 100 Stunden pro Jahr länger gearbeitet als im Westen. Hier sind die Leute auch eher bereit, sich auf unbequeme Arbeitszeiten einzulassen, was nicht nur mit wirtschaftlicher Not zu erklären ist: Arbeit hat für die Ostdeutschen eine größere Bedeutung, der postmaterialistische Arbeitsbegriff ist dort noch nicht angekommen. Die Leute in Dresden, sagt ein Manager des amerikanischen Chipkonzerns AMD, seien noch "hungrig nach Arbeit".

Es sind beileibe nicht nur niedrigere Kosten, die die Neuen Länder konkurrenzfähig machen. BMW baut seine neue Fabrik in Leipzig - und nicht im noch billigeren Tschechien. Entscheidend war letztlich die Verfügbarkeit qualifizierter Fachkräfte in Ostdeutschland. Chemieunternehmen loben die hohe "Industrieakzeptanz" etwa in Bitterfeld. Investoren erfreuen sich generell an schnelleren Genehmigungsverfahren und weniger Bürokratie. Porsche-Chef Wendelin Wiedeking, der ebenfalls in Leipzig ein neues Autowerk ansiedelte, lobt "die Effizienz und die Flexibilität, mit der die Behörden des Freistaates Sachsen und der Stadt arbeiten". Vor zwei Jahren schon urteilte die Business Week: "Der Osten könnte dem Westen ein oder zwei Dinge über den Kapitalismus beibringen."

Die Eigenheimzulage als Grundrecht

Im Westen tun sich noch immer viele Menschen schwer mit der Einsicht, dass sie um Reformen nicht herumkommen werden. Schließlich war man der Sieger der Geschichte. Da mag man einfach keinen Abschied nehmen von dem, was in den vergangenen fünfzig Jahren funktionierte. Für Ostdeutsche wirkt es geradezu komisch, mit welcher Verbissenheit die Akteure der BRD (alt) um Besitzstände kämpfen: Sie tun, als fußte das Wohl des Volkes auf der Beibehaltung des Berufsbeamtentums. Als wäre die Eigenheimzulage ein Grundrecht. Als bräche bei einer höheren Erbschaftssteuer die Freiheitlich-Demokratische Grundordnung zusammen.Wie Alkoholiker hängen Kohleunternehmen (und die nordrhein-westfälische SPD) an ihren gewohnten Steinkohlesubventionen. Rund hundert Milliarden Euro Steuergelder sind in den letzten 20 Jahren in die westdeutsche Steinkohlebranche geflossen. "Wofür?", könnten die Neuen Länder selbstbewusst und in Anlehnung an eine Spiegel-Titelgeschichte zu den Kosten des "Aufbau Ost" fragen. In Brandenburg und Sachsen wurde die Braunkohleindustrie nach 1990 schlagartig gesundgeschrumpft, Zehntausende Kumpel wurden arbeitslos. Schade, dass es kein ostdeutsches Nachrichtenmagazin gibt, das dies als grobe Ungerechtigkeit auf seinem Titelblatt anprangern könnte.

Ostdeutscher Patriotismus, vorwärts gewandt

Was der Westen vom Osten lernen kann, ist also weniger das, was der Osten noch hat, als das, was er noch nicht hat. Anders gesagt: Vorbild für den Westen ist nicht, was von der DDR übrig blieb, sondern das, was von der BRD nicht übernommen wurde. Wenn sich ein ostdeutscher Patriotismus auf diese Einsicht stützte, wäre er vorwärts gewandt. Er verlöre die DDR-Muffigkeit und höbe sich ab von der ressentimentgeladenen PDS-Rhetorik. Er wäre anschlussfähig für die jungen und ganz jungen Ostdeutschen, denen Jana Hensels Zonenkinder auf die Nerven geht. Und man hätte die "Wossis" mit im Boot, Westdeutsche, die seit 1990 in den Neuen Ländern heimisch geworden sind.

Noch einmal zurück ins Potsdamer Hans-Otto-Theater: Wenige Minuten nach dem ostdeutschen Arbeiter meldet sich dort ein etwa gleichaltriger Herr. Er ist Westdeutscher, lebt seit langem im Osten. Betont verständnisvoll formuliert er seine Erwiderung - und erzählt eine kleine Anekdote: Nach der Wende habe er in seiner Firma beobachtet, wie ein aus dem Osten stammender Kollege mit viel Geschick einen Kippschalter reparierte. Das habe er prima hinbekommen - nur dauerte es anderthalb Stunden. Im Baumarkt hätte es denselben Schalter für zwei Mark fünfzig gegeben.

Solange die Ostdeutschen immer nur und bis in alle Ewigkeit auf ihre DDR-Kompetenzen stolz sind, verkaufen sie sich weit unter Wert.

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