Nächstes Mal wird abgerechnet

Die Ostdeutschen haben Gerhard Schröder und der SPD eine zweite Chance gegeben, weil sie ihnen grundsätzlich am nächsten stehen. Doch wenn die Sozialdemokratie im Osten dauerhaft Fuß fassen will, muss sie aufhören, die Lage schönzureden

Die SPD war die Siegerin der Bundestagswahl am 22. September. Obwohl sie - verglichen mit den Wahlergebnissen von 1998 - bundesweit Stimmen verlor, konnte sie im Osten noch einmal deutlich zulegen. Manch einer sah sie daher im Osten Deutschlands schon in der Rolle der strukturellen Mehrheitspartei der nächsten Jahre. Ausgeschlossen ist das nicht, doch so einfach leider keineswegs.


Aufräumen sollte man zunächst mit ein paar Mythen über den Erfolg der SPD. Erstens: Es war nicht das Hochwasser. Sehr wohl aber war es die Reaktion des Bundeskanzlers angesichts der Katastrophe. Nach vielen Monaten erlebten die Menschen Schröder endlich wieder so, wie sie ihn sehen wollen. Sie erlebten nicht den Kanzler der ruhigen Hand, sondern den anpackenden. So sehr dies positiv aufgenommen wurde, war es letztlich nichts Neues.


Zweitens: Es war nicht Edmund Stoiber. Richtig ist, dass Edmund Stoiber ein ausgesprochener "Antipath" ist, im Osten nicht vermittelbar. Ein Kandidat, der nicht annähernd das Lebensgefühl der Menschen repräsentierte. Aber auch schon 1998 hatten die Ostdeutschen rigoros deutlich gemacht, dass sie den Unionskandidaten nicht wollten; damals zeigten sie Helmut Kohl die rote Karte und schickten ihn vom Platz. Insofern kann zur Erklärung des Wahlergebnisses 2002 die Personalfrage also nur bedingt herhalten.


Natürlich ist nicht zu leugnen, dass diese beiden Gründe auf die ostdeutschen Wähler mobilisierend wirkten. Vielleicht hat es eben gerade jene 6.000 SPD-Wähler an die Urnen gebracht, die den Sozialdemokraten die Mehrheit im Bund verschafften. Besieht man sich aber die ostdeutschen Wahlergebnisse separat, dann liegt es auf der Hand, dass die Wahlendscheidung der Ostdeutschen komplexere, tiefer liegende Gründe haben muss.

Eine dritten Vorschuss gibt es nicht

Was war es dann also, das die Menschen im Osten bewog, den Sozialdemokraten derart deutlich das Vertrauen auszusprechen? Es war die zweite Chance für Gerhard Schröder und die SPD, die sie gewähren wollten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es war also nicht der Dank für vier Jahre Rot-Grün, ebenso wenig der Glaube an - sowieso ungelesene - Wahlprogramme. Vielmehr waren es gewissermaßen kritische Vorschusslorbeeren. Wenn auch mit großer Skepsis (die hat man inzwischen gelernt), trauten die Ostdeutschen Gerhard Schröder am ehesten zu, die anstehenden Aufgaben anzunehmen und anzugehen - wenn auch nicht gleich zu lösen). Ob diese Erwartungen erfüllt sind, entscheidet der Wähler in vier Jahren. Wie er entscheidet, werden wir sehen. Eines steht jedenfalls fest: Eine dritte Chance gibt es nicht. Noch einmal wird es keine Vorschusslorbeeren geben. Nächstes Mal wird abgerechnet.


So sehr die Person Gerhard Schröder für viele Ostdeutsche wahlentscheidend gewesen sein mag, trafen sie doch eine bewusste Entscheidung für die Sozialdemokratie. Bei ihr fühlt man sich besser aufgehoben, als bei anderen Parteien. Die CDU ist die Verkörperung des "Modells Westdeutschland" und darin äußerst überzeugend; politisch wird sie darin nur von der FDP getoppt, kulturell nur von den Grünen. Als konsequente Verkörperung des Westens konnte die Union 1990 sensationelle Erfolge in Ostdeutschland feiern.


Aber heute? Wollte man vielleicht Anfang der neunziger Jahre etwas zuviel Westen? Ist es nicht besser, behutsam zurück zu rudern? Selbstverständlich will niemand die DDR zurück haben. Das wollen noch nicht einmal die alten PDS-Kader. Aber zum neuen Selbstbewusstsein des Ostdeutschen gehört auch eine positive Rückbesinnung auf Werte, die er für typisch ostdeutsch hält. Zwar will auch er die offene Gesellschaft, deren Zugluft aber meidet er. Ein bisschen mehr Zusammenhalt, ein wenig mehr Sicherheit müssen es für ihn schon sein. Da er weder die gnadenlose Westorientierung der Union will noch das stupide Zurück-zu-alten-Ufern der PDS, steht er der SPD grundsätzlich am nächsten. Damit aber die SPD aus ostdeutscher Sicht auch dauerhaft politisch, personell und grundsätzlich zu überzeugen vermag, muss noch einiges, fundamentales geschehen.

Wo keiner einen Sozi kennt

Die SPD muss in Ostdeutschland stattfinden. Das klingt hart, weil es impliziert, dass die SPD im Osten nur partiell wahrnehmbar ist. Leider stimmt dies auch. Die Gründe sind vielfältig. Ein sehr großes Problem ist nach wie vor der sehr geringe Organisationsgrad. Im Alltag zufällig ein bekennendes SPD-Mitglied zu treffen, ist für Ostdeutsche sehr unwahrscheinlich. Ob am Arbeitsplatz, im Kirchenchor oder bei der Freiwilligen Feuerwehr - weit und breit kein Sozi. Wie wichtig die Verankerung in gesellschaftlichen Substrukturen für eine Partei ist, muss hier nicht länger diskutiert werden; es ist hinlänglich bekannt.


Anfang der neunziger Jahre berauschte sich die (westdeutsche) SPD-Führung an hochtrabenden Prognosen bezüglich der Mitgliederentwicklung im Osten. Die verschwanden dann bald in den Schubladen des Parteiarchivs; fortan tat man, als hätte es sie nie gegeben. Doch so richtig es ist, der Realität ins Auge zu schauen, so wichtig ist es, Alternativen zu entwickeln. Und in dieser Frage liegt der Ball eindeutig im Feld der ostdeutschen Landes- und Kreisverbände sowie der Ortsvereine. So ungerecht der eine oder andere es empfinden mag: Die Parteibasis im Osten hat in ihrer Breite bisher nicht erkannt, was kontinuierliche Parteiarbeit ist, wie sie aussehen kann und aussehen sollte. Mit mehr oder weniger regelmäßigen Sitzungen der Gremien, ein bisschen klassischer Aktivität im Wahlkampf und der fleißigen Arbeit der Mandatsträger ist es nicht getan.


Und das Problem geht noch weiter: Gerade angesichts ihrer dünnen Personaldecke, hätte die ostdeutsche SPD ein Hort der Kreativität und Innovation, ja ein Laboratorium moderner Parteiarbeit werden müssen. Denn mit Sicherheit wird sich ihr Organisationsgrad zukünftig nicht dem westdeutschen angleichen, sondern umgekehrt der westdeutsche dem ostdeutschen. Somit hätte die Ost-SPD die Chance, zum Vorreiter zu werden. Aber statt pfiffiger Einfälle und spannender Ideen findet man vielerorts Mief und Langeweile. Dringend nötig ist deshalb ein breit angelegtes Mitgliederprojekt, das die Akteure nachhaltig professionalisiert, einen spürbaren Innovationsschub in der Parteiarbeit zur Folge hat und wirkungsvolle Formen der Mitgliederwerbung entwickelt. Dafür braucht die ostdeutsche SPD natürlich die Hilfe der Bundespartei. Solch ein Projekt muss angeschoben und finanziert werden. Die Ausgestaltung aber sollte vor Ort geschehen.

Womit jetzt endlich Schluss sein muss

Die SPD muss die ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger abholen. Das gelingt nur mit einer Politik, die die Ostdeutschen ernst nimmt, in der sie sich wiederfinden. Der enorme Einbruch der PDS hat einige zu dem Schluss verführt, die so genannten Ost-Themen hätten sich erledigt. Diese Vermutung ist ebenso kühn wie falsch. Zwar lassen sich die Ostdeutschen auch nicht mehr mit plumpen Slogans a là "Macht den Osten stark!" hinter dem Ofen hervorlocken. Doch vier Jahrzehnte DDR und ein weiteres Jahrzehnt nicht immer geglückten Umbaus nahezu aller Lebensbereiche haben eine schwere Erblast hinterlassen. Anhaltende, flächendeckende Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau, deindustrialisierte Regionen, hohe Abwanderung all jener, die sich nicht der Perspektivlosigkeit vor Ort ergeben möchten, sind nur einige Stichworte dazu.


Es muss deshalb ein für alle Mal Schluss damit sein, Verhältnisse schönzureden und Probleme unter den Teppich zu kehren. Offensichtlich handelt es sich hierbei um einen Regierungsreflex, dem eben nicht nur Helmut Kohl erlag, sondern auch die rot-grüne Bundesregierung. Die Menschen verlangen bestimmt keine fertigen Lösungen. Völlig zu Recht erwarten sie aber, dass ihre elementaren Sorgen die politische Agenda bestimmen. Vier Politikfelder sollten dabei besonders berücksichtigt werden:


- Trotz immenser Aufbauleistung bei der Schaffung einer modernen Infrastruktur darf auf diesem Feld noch lange nicht nachgelassen werden - wobei besonders die kommunale und wirtschaftsnahe Infrastruktur gemeint ist.


- Es bedarf industrieller "Leuchttürme", die neu geschaffen werden müssen. Man darf sich nicht scheuen, hierfür hin und wieder kräftig in die Tasche zu greifen, selbst wenn man weiß, dass sich die eingesetzten Mittel wahrscheinlich niemals amortisieren werden. Es sind eher psychologische als volkswirtschaftliche Gründe, die solche Vorhaben nötig machen. Aber weil man Anfang der neunziger Jahre Schutzräume und Schutzmechanismen für die ostdeutsche Industrie nicht dulden wollte, ist diese Vorgehensweise nun unausweichlich geworden.


- Es muss im Übrigen dennoch das Prinzip small is beautiful gelten. Anders wird man Fördermittel kaum wirksam einsetzen können, um in der Fläche die dringend benötigten Arbeitsplätze zu schaffen. Es kommt also auf die gezielte, unproblematische und effektive Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen an.


- Schließlich muss nach dem Kahlschlag der ostdeutschen Forschungslandschaft jetzt wieder kräftig "aufgeforstet" werden.


Eine neue, ehrliche politische Agenda ist aber nur die halbe Miete. Der "Nachwende-Ossi" ist nun schon dreizehn Jahre alt. Ihm reicht es nicht mehr, wenn ihn Mama und Papa fürsorglich umhegen. Er will selbst gestalten, selbst entscheiden. Doch noch immer sind die bundesdeutschen Eliten durchweg westdeutsch. Bleiben die Zeichen der Zeit unverstanden, werden des Ossis Flegeljahre schwierig und seine Jugend revolutionär. Beides wäre konkreten Problemlösungen mit Sicherheit nicht förderlich. Damit es anders kommen kann, bedarf es größeren Mutes, als er in der Vergangenheit auf beiden Seiten anzutreffen war. Der Westen muss lernen, Ostdeutsche nicht nur kleine Häppchen der Macht probieren zu lassen. Der Osten muss lernen, sich Verantwortung zuzutrauen, wenn er auf eigenen Beinen stehen will.


Die Ostdeutschen ernst zu nehmen heißt im Übrigen auch, sie nicht mehr eindimensional abzuqualifizieren. Im Osten kann man es nicht mehr ertragen, als parasitärer Stamm dazustehen, der in unverschämter Weise das gute Westgeld verschleudert, das der Wessi täglich im Schweiße seines Angesichts hart erarbeitet. Man will nicht mehr bloß das Fass ohne Boden sein. Dabei ist es richtig: Der Osten ist ein Fass ohne Boden. Der nämlich wurde vor zehn Jahren unter fachkundiger Anleitung und tatkräftiger Hilfe der Wessis herausgeschlagen. Aufgabe verantwortlicher Politik ist es deshalb heute, einen neuen Boden zu zimmern, anstatt weiter vergeblich an den Symptomen herum zu doktern.


Aufgrund gemeinsamer Verantwortung und allseitiger Betroffenheit ist das nur als gemeinsamer Kraftakt zu schultern. Und was gemeinsam ist, sollte auch überall vorkommen. Warum nicht ein Aufbau-Ost-Gipfel in Dortmund? Und wann endlich wird von dem unsinnigen Begriff "Solidaritätszuschlag" Abschied genommen? Und was für die Gesellschaft insgesamt als richtig erkannt wird, muss auch innerhalb der SPD gelten. Die bisherige Praxis (Ostparteitag in Magdeburg und Wirtschaftskongress in München) spaltet jedenfalls mehr, als dass sie zusammenführt. Ist etwa das Forum Ostdeutschland wirklich das richtige Instrument, um Ostthemen in die Partei zu tragen? Welcher Sozialdemokrat in Kiel, Herne oder Freiburg weiß denn überhaupt von diesem Forum?

Ohne Besitz keine Besitzstandswahrung

Die SPD muss die Menschen im Osten mitnehmen. Das bedeutet, die Sozialdemokraten müssen mit den Ostdeutschen Koalitionen zum Zweck der Problemlösung schließen. Die Voraussetzungen dafür könnten kaum besser sein. Die Ostdeutschen haben kaum Reflexe der Besitzstandswahrung herausgebildet, weil sie kaum etwas besitzen. Und die heiligen Kühe sind längst geschlachtet. Damit sind sie ihren Brüdern und Schwestern im Westen um einiges voraus. Tiefgreifende Reformen und Veränderungen sind sie inzwischen gewohnt. Es war daher kaum verwunderlich, mit welcher Selbstverständlichkeit und Gelassenheit im Osten die Umstellung auf den Euro vonstatten ging. Hatten wir schließlich alles schon.


Nach anfänglichem Zögern und verhaltenen Reformversuchen, sah sich die Bundesregierung - der Wahltag rückte immer näher und nichts geschah - unter großem öffentlichen Druck genötigt, auf dem Arbeitsmarkt mutige Reformen vorzuschlagen. Die Hartz-Kommission ward geboren und legte sogleich umfangreiche Vorschläge auf den Tisch. Obwohl diese für Ostdeutschland nur bedingt taugten, war die Resonanz trotzdem positiv. Es ist nur zu hoffen, dass die Regierung das eingeschlagene Reformtempo beibehält. Es stehen noch grundlegende Reformen an; in Ostdeutschland sind neue Wege einzuschlagen. Mit Klein-Klein wird nichts zu machen sein. Andererseits können einschneidende Veränderungen nicht von oben aufgesetzt werden. Versteht man es jedoch, mit der Gesellschaft in einen undogmatischen, ergebnisoffenen Diskurs zu treten, wird vieles möglich, was bisher als nicht durchsetzungsfähig galt - gerade im Osten. Aber um das hinzukriegen, müssen Dialog- und Kommunikationskompetenz der SPD nachhaltig verbessert werden.


Kurz gesagt, die SPD hat eine realistische Chance, in Ostdeutschland dauerhaft zur strukturellen Mehrheitspartei zu werden. Aber das hat Voraussetzungen. Die SPD muss dafür zugleich Mitglieder-, Unterstützer- und Volkspartei werden. Vor Ort muss die Partei wesentlich stärker wahrgenommen werden. Ostdeutsche Probleme und Personen müssen deutlich stärker die tagespolitische Agenda der Republik mitbestimmen. Und nicht zuletzt brauchen wir darüber, wie alle diese Probleme zu lösen sind, einen lebendigen Diskurs, ergebnisoffen und breit.

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