Nachrede auf Oskars Welt

Zwischen Hedonismus und Kapitalismuskritik erkundet Schröders SPD einen Dritten Weg

Oskar Lafontaines Wiederkehr als Autor erinnert noch einmal daran, daß er als Politiker tatsächlich verschwunden ist. Kein literarisches Comeback kann die Zäsur rückgängig machen, die sein Ausscheiden als Minister und Parteivorsitzender mit sich gebracht hat. Lafontaines Rücktritt, seine zwischen Konsequenz und Willkür schillernde politische Selbstauflösung, war ein Epochendatum in der kleinen Geschichte der Bundesrepublik, vielleicht bedeutsamer als der Regierungswechsel vom 27. September 1998. Denn erst nach Lafontaine hat sich herausgestellt, was dieser Regierungswechsel bedeuten sollte - nämlich keinen bloßen Austausch des Führungspersonals, sondern tatsächlich einen "Politikwechsel", freilich gerade nicht so, wie Lafontaine es gemeint hatte. Das Projekt Schröder, das gelingen oder scheitern mag, hat seither wenigstens einen Inhalt und kann versucht werden.

Man greift kaum zu hoch, wenn man in Oskar Lafontaines Schicksal das Los der bundesdeutschen Linken besiegelt sieht. Wie kein anderer verband er die beiden Elemente, die diese Linke ausmachten: die von Ferne immer noch marxistisch inspirierte Skepsis gegen den Markt und den antiautoritären Gestus, der zum Erbe von 1968 gehört. In seiner Ministerzeit war er, der einst die Gewerkschaften mit postmateriellen Verzichtsideen gereizt hatte, vor allem der Kritiker des Kapitalismus und der Verteidiger des Wohlfahrtsstaats, der letzte Exponent des demokratischen Sozialismus, der letzte Rote. Lafontaine stand aber auch, und ursprünglicher, für die andere, für die mehr grüne Spielart des Linksseins, für Nonkonformismus und frechen Kehrmichnichtdran, ineins mit dem Anspruch, daß sich gerade darin eine höhere Moral ausdrücke. Berühmt und berüchtigt war sein Hohn über die von Helmut Schmidt so geschätzten "Sekundärtugenden" wie Fleiß und Pünktlichkeit, mit denen man auch ein KZ betreiben könne. Die vor den Kameras herausgestreckte Zunge seines Sohnes hat nach Lafontaines Rücktritt noch einmal an dieses antiautoritäre Motiv in seiner Karriere erinnert. Das sozialistische Thema dagegen klang in den Abschiedsworten an, aus denen nun der Buchtitel destilliert wurde, im Bild vom Herzen, das nicht an der Börse gehandelt wird, aber seinen Standort hat und links schlägt. Die Lafontaine-Welt war ein Gesamtkunstwerk, in dem Lebensgenuß und Solidarität harmonisch zusammengehen sollten, eine Ideallandschaft aus Ruhrpott und Toskana. Diese Landschaft ist nun verödet.

Die linke Nachachtundsechziger-Synthese von Gesellschaftsfortschritt und Antikapitalismus, von freier Liebe und gelenkter Wirtschaft, war alles andere als eine zwingende Verbindung. Hedonismus und Selbstverwirklichung sind ja eigentlich eher ein liberales als ein sozialistisches Unternehmen; was die herausgestreckte Zunge und die Verachtung der Sekundärtugenden mit Kapitalismuskritik zu tun haben sollen, ist nicht zu sehen. Und was auf der anderen Seite den Protest gegen die Allmacht des Marktes angeht, so wird er sich zwar immer wieder, und bei wachsender Globalisierung wahrscheinlich sogar immer mehr regen. Aber die Marktkritik muß keineswegs mit Lafontaines kultureller Progressivität und seinem genußfreudigen Europäertum einhergehen. Sie muß überhaupt nicht "links" sein; das Unbehagen an einer grenzenlosen Wirtschaftswelt kann sich auch "rechts", in einem nationalistischen Sozialprotektionismus, sogar fremdenhasserisch ausdrücken. Oder im provinziellen Altsozialismus der PDS.

Zwischen diesen Zerfallsprodukten der Lafontaine-Welt, zwischen einem sozial unverantwortlichen Individualismus und einer regressionsgefährdeten Marktfeindschaft, kann Schröder jetzt wirklich einen "Dritten Weg" suchen. Er kann die Grenzen des Achtundsechzigertums gleichsam in beide Richtungen überschreiten, vorwärts und rückwärts, mit dem Aufbruch in die Blairsche Selbstverantwortungsgesellschaft und mit dem Rückgriff auf traditionelle sozialdemokratische Tugenden. Denn auch das gehört nun zum Programm: die Wiederentdeckung der "Pflicht", erst beim Kriegführen (wo das Wort freilich noch gemieden wurde), nun beim Sparen, und ein neuer, härterer Klang des Wortes "Staat", der fortan mit Handlungsfähigkeit assoziiert werden soll, nicht mehr mit Selbstverwirklichung auf Kosten des Gemeinwesens. Hier zeichnen sich, jenseits des Modernisierungsgeredes, die Umrisse einer Mitte ab, die ebenso neu wie alt ist.

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