Nach der verlorenen Zeit - ein neuer Aufbruch

Noch 1998 sprach Gerhard Schröder von "Familie und Gedöns". Dennoch wurden die Jahre bis 2005 eine Periode großer familienpolitischer Fortschritte. An diese Ära muss nach der vermurksten Amtszeit von Kristina Schröder wieder angeknüpft werden. Es geht um Familien, Gleichstellung und Generationen

Wir brauchen einen neuen Aufbruch für Familien, Gleichstellung und Generationen. Diese zentralen gesellschaftspolitischen Themen müssen wieder ein Schwerpunkt der Politik werden. Und sie müssen sich an den echten Bedürfnissen und Lebenslagen der Menschen orientieren. Dabei wird mit „Familie, Gleichstellung und Generationen“ ein klassisches Themenfeld beschrieben, das ein neues Verständnis verlangt: Es darf in Zukunft nicht mehr allein darum gehen, Teile der Gesellschaft als Zielgruppen zu definieren und dann abgegrenzte, nur auf die einzelne Zielgruppe zugeschnittene Angebote zu machen. Stattdessen müssen die Zukunft der Familien, der demografische Wandel, das Miteinander der Generationen sowie die Gleichstellung gemeinsam betrachtet werden. An diesen gesellschaftspolitischen Themen entscheidet sich das Miteinander in unserem Land.

Als Gerhard Schröder 1998 von „Familien und Gedöns“ sprach, hatte er genau dieses Sammelsurium verschiedener Einzelthemen vor Augen. Gleichzeitig unterschätzte Schröder die gesellschaftliche Herausforderung komplett. Die Ministerinnen Christine Bergmann, Renate Schmidt und auch Ursula von der Leyen haben es mit einer von sozialdemokratischen Konzepten geprägten Politik geschafft, die Familie ins Zentrum der Politik zu rücken. Sie haben echte Verbesserungen erreicht, Kita-Ausbau und Elterngeld wirken nachhaltig positiv.

Unter Schwarz-Gelb hingegen haben wir vier verlorene Jahre für die Familienpolitik erlebt. Die Bundesregierung hat an den Bedürfnissen und Wünschen der Familien vorbei regiert. Das belegen die Ergebnisse einer Studie, die im Regierungsauftrag die Wirksamkeit staatlicher Familienleistungen zu bewerten hatte. Deren Ergebnisse wurden von Finanzminister Wolfgang Schäuble und Familienministerin Kristina Schröder dreist ins Gegenteil verkehrt: Sie verkauften die Studie der Wirtschaftsforschungsinstitute im Juni als eine Bestätigung ihrer Politik. Es war ein einmaliger Vorgang, dass sich drei renommierte Institute zu einer gemeinsamen Pressekonferenz gezwungen sahen, um sich gegen die Verdrehung ihrer Forschungsergebnisse zu wehren. Mit Ausnahme des Kita-Ausbaus und des Elterngeldes wurde die Wirksamkeit sämtlicher anderer Familienleistungen als mäßig oder sogar schlecht bewertet. Vor allem das Ehegattensplitting laufe dem Ziel „der Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Sinne einer partnerschaftlichen Teilung der Arbeit in der Familie“ zuwider.

Der Hauptkritikpunkt ist jedoch das bestehende Nebeneinander zu vieler, nicht aufeinander abgestimmter Angebote – so gut diese auch gemeint sein mögen. Die eigentliche Aufgabe ist es, die Arbeitswelt familienfreundlicher zu gestalten. Nicht nur neue Arbeitszeitmodelle sind gefragt. Wir brauchen darüber hinaus mehr Zeit füreinander, für Beziehungen zwischen den Generationen, für gemeinsame Freizeit, für Lernen von- und miteinander. Gerade der Faktor Zeit wird immer wichtiger. Alle Bemühungen um den Ausbau der Infrastruktur für Kinder und Familien müssen ergänzt werden um mehr Aufmerksamkeit und Achtung für die weitergehenden Anliegen von Familien. Sie gehören ins Zentrum der Gesellschaft. Politik allein kann das nicht gesetzlich bewirken. Vielmehr brauchen wir eine neue Wertschätzung der Gesellschaft für das Miteinander von Menschen, die Verantwortung füreinander übernehmen, unabhängig von der Familienform.

Ganzheitlich und für alle Generationen

Eine ganzheitliche Familienpolitik muss alle Generationen in den Blick nehmen und zuallererst beim Wohl der Kinder ansetzen. Deshalb sind die „Bildungschancen für alle Kinder“ mehr als sozialdemokratische Rhetorik aus der Zeit der Arbeiterbildungsvereine. Sie sind das zentrale Zukunftsanliegen im 21. Jahrhundert. Wenn im reichen Deutschland die Chancen der Kinder noch immer stark vom Bildungsniveau der Eltern abhängen, muss uns das täglich neu aufregen.

Klar ist: Eine gute Betreuungsinfrastruktur ist einer der entscheidenden Faktoren für den Erfolg von Familienpolitik. Deshalb müssen nicht nur Kitas, sondern auch der Ausbau der Ganztagsschulen ein Kernanliegen der nächsten Jahre sein. Die beispielsweise in Nordrhein-Westfalen bestehenden offenen Angebote reichen nicht aus, um für wirkliche Chancengleichheit zu sorgen. Nach wie vor müssen drei Viertel der Mütter ihre Arbeitszeit reduzieren, um Hausaufgaben zu beaufsichtigen.

Hier verbinden sich Familien- und Gleichstellungspolitik. Denn nur mit einer Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur von hoher Qualität wird eine gerechte Teilung von Erwerbsarbeit und ein gleicher Zugang von Frauen und Männern zur bezahlten Arbeit möglich. Heute geht es jungen Menschen mehr denn je um Partnerschaftlichkeit. Dazu gehört, dass Väter und Mütter die Aufgaben in Familie und Beruf partnerschaftlich teilen können. Das wollen mehr als zwei Drittel – nicht einmal ein Drittel schafft es. Das Elterngeld ist ein gutes Beispiel dafür, dass gezielte familienpolitische Unterstützung auf hohe Akzeptanz bei den Eltern trifft.

Mehr Gleichstellung, größere Vielfalt

Um die genauso überflüssige wie schädliche alte Debatte von den „Rabenmüttern“ und den „Heimchen am Herd“ zu überwinden, muss auch Gleichstellung ein Anliegen der Familienpolitik sein. Moderne Frauenpolitik spaltet Frauen nicht und spielt sie nicht gegeneinander aus, wie wir das bei Schwarz-Gelb oft erlebt haben. Moderne Frauen- und Gleichstellungspolitik stellt das Individuum und seine beziehungsweise ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt: Nicht nur einen Teil des Lebens leben zu können, sondern Beruf und Familie, Kinder und Karriere, Freundinnen und Freunde, Engagement und Freizeit zu verbinden. Eine neue Leitlinie „Gleichstellung“ wäre mehr: Gleichstellung der Geschlechter, der Generationen, Gleichstellung verschiedener Lebens- und Familienformen, Inklusion von Menschen mit verschiedenen Fähigkeiten, Herkünften, Sprachen, Hautfarben, Religionen. Teilhabe aller wäre der rote Faden. „Diversity“, wie es in den USA heißt, oder die Gleichstellungspolitik in Skandinavien sind längst mehr als Frauenpolitik. Diese Politik nimmt die ganze Gesellschaft in den Blick und fördert die Vielfalt und die individuellen Fähigkeiten. Sie sieht Vielfalt als Bereicherung. Dafür sind die frauenpolitischen Forderungen weiter zentral, die Quote für Frauen in Führungspositionen bleibt eine wichtige Forderung.

Eine zeitgemäße Politik muss zudem die „Generationen“ stärker in den Blick nehmen und auch die klassische Seniorenpolitik übergreifender gestalten. Denn die wichtigen Alltagsfragen, die so viele Menschen bewegen, betreffen alle. Für die mittleren Jahrgänge ist es existenziell, wie ihre Eltern in Zukunft gut und würdevoll gepflegt und betreut werden können. Familienpolitik muss also stärker diese Dimension mitdenken. Wie werden wir miteinander leben, so dass Altern in Würde möglich ist, so dass ältere Menschen so lange wie möglich in ihrem Wohnumfeld bleiben können, so dass fröhliche „Alten-WGs“ entstehen? Vielleicht werden wir angesichts des demografischen Wandels in Zukunft sogar mehr Alten-WGs als Studierenden-WGs haben.

In den vergangenen Jahren sind viele gute Konzepte zum Wohnen im Alter, zur Stadt- und Wohnumfeldgestaltung, zum Miteinander der Generationen, zum generationenübergreifenden Freiwilligendienst und vielem mehr entstanden. Aber die schwarz-gelbe Bundesregierung hat außer trockenen Papieren nichts getan, um den demografischen Wandel praktisch zu gestalten. Gar nicht zu sprechen von dem so wichtigen Feld der Pflege, in dem wir vier Jahre Stagnation erlebt haben, während die Probleme immer größer wurden, vom Fachkräftemangel, der Überlastung pflegender Angehöriger bis zur Armut in Pflegeheimen. Aber auch die Bedürfnisse der Älteren, die fit und aktiv sind, müssen stärker gewürdigt werden. Schon längst engagieren sich ältere Menschen zahlreich als Vorlesepatinnen und -paten oder als Leihgroßeltern. Ohne Ältere könnten die Tafeln ihre Angebote nicht aufrechterhalten, und viele Vereine hätten keine Vorstände und Schriftführer mehr. Dieses Engagement ist ein großer Schatz in unserer Gesellschaft.

Politik für den sozialen Zusammenhalt der Familien und Generationen in diesem Land braucht einen neuen Anfang. Gleichstellung ist die Frage dieses Jahrzehnts und wir könnten viel weiter kommen, wenn die Politik endlich aktiv würde. Die Menschen sind es schon. Die Jahre der großen Fortschritte von 1998 bis 2005 sind vorüber, stattdessen hat Schwarz-Gelb das unsinnige Betreuungsgeld eingeführt. Eltern erwarten dagegen eine Familienpolitik, die ihren Lebensentwürfen entspricht. Frauen und Männer fordern eine Gleichstellungspolitik, die an ihren Stärken ansetzt. Die Älteren wollen sich engagieren. Sie wollen ein echtes Miteinander der Generationen und die Sicherheit, inmitten der Gesellschaft, unter Menschen, mitten im Leben alt werden zu können.

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