Nach dem Tiefschlaf

Viele Jahre lang fand Integrationspolitik in Deutschland kaum statt. Integrationsgipfel und Zuwanderungsgesetz haben Bewegung gebracht. Doch wenn Einwanderung gelingen soll, müssen Kooperation und Gesetzgebung besser verzahnt werden

Als vier türkische Verbände im Sommer den zweiten Integrationsgipfel im Bundeskanzleramt boykottierten, sorgte dieses Vorgehen für einige Schlagzeilen. Damit protestierten sie gegen Verschärfungen des Zuwanderungsrechts, die kurz zuvor von Bundestag und Bundesrat beschlossen worden waren. Doch ihre ultimative Forderung nach einer Rücknahme von Gesetzesänderungen kam nicht gut an. „Die Absage ist völlig überzogen, sowohl im Ton als auch in der Sache“, kritisierte Maria Böhmer, die christdemokratische Integrationsbeauftragte der Bundesregierung. Die Bundeskanzlerin wurde noch deutlicher: „Der Bundesregierung stellt man keine Ultimaten.“

Die türkischen Verbände sind mit der Bundesregierung längst wieder im Gespräch. Vielleicht wird man vom Integrationsgipfelboykott bald nur noch als Anekdote erzählen, um den gelegentlich polternden Stil der türkischen Einwandererorganisationen zu illustrieren. Und doch ging es dabei auch um einen Widerspruch in der gegenwärtigen Integrationspolitik: In seiner Substanz war der Streit die Folge einer Kollision zweier unterschiedlicher Ansätze zur Steuerung von Integration. Soll und kann man Integration per Gesetz herbeiführen? Oder sucht man bei der Gestaltung von Integrationsprozessen besser eine Kooperation mit den Zusammenschlüssen der Einwanderer?

Im April 2006 hatte die Bundesregierung den Integrationsgipfel und einen „Integrationsgipfelprozess“ angekündigt. Die Initiative war zunächst die Reaktion auf eine akute Krisenstimmung. Die Debatten um die Gesprächsleitfäden im Einbürgerungsverfahren, um Zwangsheirat, „Ehrenmorde“ und den antiamerikanischen und antisemitischen Film Tal der Wölfe mündeten immer wieder in die Frage, ob die Integration gescheitert sei. Schließlich wurde im März 2006 der dramatische Hilferuf der Lehrer der Neuköllner Rütli-Schule, die der „Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz uns Erwachsenen gegenüber“ an ihrer Schule nicht mehr Herr wurden, als Ausdruck einer generellen Integrationskrise gewertet.

„Was kann ich in meinem Bereich tun?“

Der erste Integrationsgipfel am 14. Juli 2006, der vom Stab der Integrationsbeauftragten vorbereitet worden war, sollte Handlungsfähigkeit demonstrieren. Vertreter der Bundesregierung und der Bundestagsfraktionen, der Länder und der Kommunen, aber auch eine Schar zivilgesellschaftlicher Akteure wurden ins Kanzleramt eingeladen. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände kamen ebenso wie Sportverbände, Medien und Kirchen sowie die in der Integrationsarbeit wichtigen Wohlfahrtsverbände. Die Vorsitzenden etlicher Einwandererorganisationen und in anderer Weise engagierte Einwanderer waren anwesend. Es ergab sich ein vielfältiges und buntes Gruppenfoto mit 86 Personen, eine große Inszenierung für die Medien, ein insgesamt geglücktes Stück symbolischer Politik.

Dennoch war der Integrationsgipfel mehr als eine „Show-Veranstaltung“, schließlich war er der Auftakt zur Erarbeitung des „Nationalen Integrationsplans“. Der „Integrationsgipfelprozess“ basierte auf drei Prinzipien. Grundlegend war erstens die Entscheidung, keine Grundsatzdebatten um den Begriff der Integration zu führen. Zweitens ging es darum, Selbstverpflichtungen aller beteiligten Akteure zu erreichen. Kein Teilnehmer durfte sich darauf zurückziehen, einfach nur mehr Anstrengungen der Anderen oder mehr Geld vom Staat zu fordern. Stattdessen sollte jeder die Frage beantworten: „Was kann ich in meinem Bereich tun?“ Die erreichten Selbstverpflichtungen – insgesamt rund 400 – wurden im Nationalen Integrationsplan festgehalten, der beim zweiten Integrationsgipfel am 12. Juli 2007 vorgestellt wurde. Und drittens betonte die Integrationsbeauftragte Böhmer nimmermüde: „Wir sprechen mit Migrantinnen und Migranten, nicht über sie.“ Einwanderer wurden also konsequent in den Prozess der Erarbeitung des Nationalen Integrationsplans einbezogen.

Kooperative Politik heißt „give and take“

Ob sich die Organisatoren des Integrationsgipfels der Anleihen bei der Vorgängerregierung bewusst waren? Natürlich war die Zahl der beteiligten Akteure hier ungleich höher, doch grundsätzlich war der Integrationsgipfelprozess nach dem Muster des Bündnisses für Arbeit gestrickt, das Bundeskanzler Gerhard Schröder 1999 initiiert hatte. Auch damals ging es um Selbstverpflichtungen: zur Lohnzurückhaltung im Fall der Gewerkschaften, zur Schaffung von Arbeitsplätzen im Fall der Wirtschaft, zu Steuer- und Sozialbeitragssenkungen im Fall des Staates. Auch die Arbeitsweise war ähnlich: In beiden Prozessen wurde Sacharbeit in Arbeitsgruppen geleistet, darüber hinaus gab es regelmäßige Spitzengespräche. Eine Steuerungsgruppe koordinierte jeweils den Diskussionsprozess der beteiligten Seiten.

Um es abstrakter zu formulieren: Das Bündnis für Arbeit und der Integrationsgipfel entsprechen der Handlungsform einer kooperativen Politik. Es geht dabei um Problemlösungen, für die jeder Akteur seine jeweiligen Ressourcen zur Verfügung stellt. Es geht um „Selbstverpflichtungen“, aber der Kern kooperativer Politik ist das „give and take“: Jeder Akteur verpflichtet sich, bestimmte Leistungen zu erbringen – unter der Voraussetzung, dass die anderen Akteure dasselbe tun. Ein solcher Ansatz existierte in der Integrationspolitik vor dem Gipfel nicht. Insofern kann man von einer „neuen kooperativen Integrationspolitik“ sprechen. Bei der kooperativen Integrationspolitik gibt der Staat die Rolle einer hierarchisch übergeordneten Instanz auf. Der Staat wird zu einem Akteur neben anderen und zum Moderator eines Diskussions- und Verhandlungsprozesses mit den relevanten gesellschaftlichen Kräften.

Das Integrationsrecht kam erst mit Rot-Grün

Die Alternative hierzu ist der Versuch der politischen Steuerung von Integration mit dem Mittel des Rechts. Das Integrationsrecht – die „sozialregulative Integrationspolitik“ – ist in Deutschland nur wenig älter als die kooperative Integrationspolitik. Es wurde erst mit dem Zuwanderungsgesetz der rot-grünen Bundesregierung geschaffen. Zuvor hatte sich der Staat integrationspolitisch in „einem langen, durch die verschiedensten Appelle nicht zu störenden Tiefschlaf“ (Klaus J. Bade) befunden.

Das zentrale integrationspolitische Novum des Zuwanderungsgesetzes waren die Integrationskurse. Diese sollen zum einen Grundkenntnisse der deutschen Sprache vermitteln, zum anderen führen sie in die Geschichte, Kultur und Rechtsordnung der Bundesrepublik ein. Der Besuch eines Integrationskurses kann vorgeschrieben werden. Wird der Besuch eines verpflichtenden Integrationskurses versäumt, sah der Zuwanderungskompromiss des Jahres 2004 – als Kann-Bestimmungen – negative Folgen bei der Erteilung von Aufenthaltstiteln sowie Kürzungen von Sozialleistungen um bis zu zehn Prozent vor.

Diese integrationsrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten waren beim rot-grünen Zuwanderungsgesetz strittig. Und auch in der Großen Koalition barg das Integrationsrecht Konfliktpotenzial: Schon im Koalitionsvertrag kündigte die Große Koalition eine Novellierung des Zuwanderungsrechts an. Diese war notwendig, um elf EU-Richtlinien zum Ausländer- und Asylrecht in deutsches Recht umzusetzen. Im Januar 2006 stellte das Bundesministerium des Innern dazu einen ersten Referentenentwurf vor. Doch dann wurden nach und nach neue Themen und Anliegen in den Gesetzentwurf aufgenommen. Die Ergebnisse einer systematischen Evaluation des Zuwanderungsgesetzes sollten berücksichtigt werden. Im Herbst 2006 kam das Ziel hinzu, die Gesetzesnovelle auch für eine bundesrechtlich verankerte Bleiberechtsregelung für Geduldete zu nutzen.

Als dann aber im März 2007 der Kabinettsentwurf bekannt wurde, zeigte sich, dass das „EU-Richtlinienumsetzungsgesetz“ für zahlreiche Verschärfungen des Zuwanderungsrechts genutzt werden sollte. Der Spielraum für Änderungen bei den parlamentarischen Beratungen war gering, denn der Gesetzentwurf war bereits ein Koalitionskompromiss. Für besonderen Zündstoff sorgte eine Neuregelung im Integrationsrecht: Mit einem Sprachtest soll in Zukunft vor der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis geprüft werden, ob sich ein Ehegatte „zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann“.

Die Einwandererverbände verstimmte die Regelung zum Ehegattennachzug zum einen deswegen, weil sie nicht für alle gelten wird. Türkische Ehegatten werden den Nachweis erbringen müssen, amerikanische hingegen nicht. Der Vorwurf einer Diskriminierung steht im Raum. Regelrecht hintergangen fühlten sich die Verbände aber wegen des doppelgleisigen Vorgehens der Bundesregierung: Die Beteiligten hatten bei der Erarbeitung des Nationalen Integrationsplans bis zum März ihre Selbstverpflichtungen zu Protokoll gegeben. Als der Gesetzentwurf wenig später bekannt wurde, stellten sie fest, dass parallel zum Diskussionsprozess über den Integrationsplan ein Gesetz entstanden war, das mit dem Geist der kooperativen Zusammenarbeit ganz und gar nicht vereinbar schien. In der politischen Arena der kooperativen Politik gingen die Verbände in einem Verhandlungs- und Tauschprozess Selbstverpflichtungen ein, in einer anderen politischen Arena wurden sie und ihre Basis zum Objekt der Gesetzgebung. Aktive und konstruktive Mitarbeit einerseits, um dann einen Oktroi zu erleben – das passte nicht zusammen.

Neuregelungen als „Anti-Türken-Programm“?

Am 27. März 2007 protestierten 21 Einwandererverbände – fast alle, die am Integrationsgipfelprozess beteiligt sind – in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin gegen das neue Gesetz. Sie riefen die Kanzlerin auf, ihre Richtlinienkompetenz zu nutzen, „damit nicht im Windschatten des von uns allen begrüßten und unterstützten Integrationsgipfels ausländerrechtliche Verschärfungen durchgesetzt werden“.

Vor dem näher rückenden Integrationsgipfel befanden sich die Verbände tatsächlich in einer schwierigen Situation. Das direkte Gespräch mit der Bundesregierung und die damit verbundene Anerkennung hatten viele Verbände lange gefordert. Nun empörte sie allerdings die Vorstellung, am Integrationsgipfel teilzunehmen und so einen Beitrag zu einem PR-Erfolg der Bundeskanzlerin zu leisten, die doch zugleich das ungeliebte Gesetz politisch zu verantworten hatte. Ein gravierenderes Problem waren für die Verbandsfunktionäre die Erwartungen ihrer Mitglieder. Besonders die Basis der türkischen Verbände sah die gesetzlichen Neuregelungen als Anti-Türken-Programm. Die Verbandsfunktionäre standen unter Druck, ein Zeichen zu setzen: Dem Integrationsgipfel fern blieben die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB), die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD), die Föderation Türkischer Elternvereine in Deutschland (FÖTED) sowie der Rat der türkeistämmigen Staatsbürger (RTS).

Verbandsfunktionäre unter Druck

Auch wenn die türkischen Verbände teilweise rhetorisch überzogen, war der Gipfelboykott also die Folge einer schwierigen Situation, in welche die Verbände gebracht worden waren. Doch wenn der Gipfelboykott aus einer Interferenz unterschiedlicher Ansätze zur politischen Steuerung von Integrationsprozessen resultierte, dann stellt sich die Frage, ob diese politischen Ansätze überhaupt miteinander vereinbar sind. Muss sich die Politik der sozialregulativen Integrationspolitik enthalten, wenn sie eine Kooperation mit den Einwandererverbänden sucht?

Das vielleicht wichtigste Ziel von Integrationspolitik besteht darin, Einwanderern gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Integrationspolitik lässt sich nach diesem Maßstab bewerten. Dazu ist festzustellen: Einwandererverbände erreichen als basisnahe Organisationen die communities in einer Weise, die dem Staat verschlossen ist. Sie können dabei Tendenzen zur Abschottung im ethnischen Ghetto verstärken, haben andererseits aber auch das Potenzial, die Handlungsfähigkeit ihrer Mitglieder in der ursprünglich fremden Gesellschaft zu stärken. So hat etwa der Bund der Spanischen Elternvereine als Selbsthilfeorganisation seit den siebziger Jahren durch intensive Elternarbeit viel zum Bildungserfolg der Kinder spanischer „Gastarbeiter“ beigetragen. Die Türkische Gemeinde in Deutschland wiederum mobilisiert mit einer Bildungskampagne Eltern, um die schulischen Leistungen türkischstämmiger Jugendlicher zu steigern. Die Deutsch-Türkische Gesundheitsstiftung schließlich veranstaltet gemeinsam mit der DITIB Fortbildungen von Imamen und Vereinsvorsitzenden, welche dann in der türkischen community als Multiplikatoren zum deutschen Bildungs- und Gesundheitssystem agieren. Die Rolle der Verbände mag zwar zum Teil durchaus ambivalent sein, doch wenn die Politik die Verbände als konstruktive Partner gewinnt, erweitern sich die Möglichkeiten, etwas für Integration und Teilhabe zu erreichen.

Wie Vertrauen beschädigt wird

Allerdings stehen sozialregulative Politik und Teilhabe durchaus nicht im Gegensatz zueinander. Die Integrationskurse des Zuwanderungsgesetzes unterstützen Teilhabe mit dem Erwerb von Sprachkenntnissen und Wissen über Deutschland. Beachtlich ist auch, dass 60 Prozent der Teilnehmer an Integrationskursen Frauen sind. Rund die Hälfte von ihnen wurde zum Integrationskursbesuch verpflichtet. Die Kurse führen Frauen aus der sozialen Isolation im häuslichen Raum und unterminieren patriarchalische Muster, die mit Vorstellungen von der Gleichstellung der Geschlechter nicht vereinbar sind. Die Androhung von Sanktionen – das „Fordern“ – gibt Frauen ein starkes Argument für den nicht selten befreiend wirkenden Kursbesuch an die Hand.

Viel spricht daher dafür, die Möglichkeiten einer kooperativen Politik zu nutzen, die sozialregulative Politik aber nicht prinzipiell in den Giftschrank zu verbannen. Es kommt allerdings darauf an, beides sinnvoll zu kombinieren. Bei dem Nebeneinander von „EU-Richtlinienumsetzungsgesetz“ einerseits und der Erarbeitung des Nationalen Integrationsplans andererseits, gelang das nicht.

Eine „integrierte Integrationspolitik“ würde dreierlei berücksichtigen. Erstens erfordern Kooperation und Partnerschaft Vertrauen. Dieses wird beschädigt, wenn von den Einwandererverbänden zwar Engagement verlangt wird, zugleich aber ausländerrechtliche Verschärfungen ihre Mitglieder belasten. Zweitens kann man keinen vollen Einsatz der Verbände für die Integration erwarten, wenn diese davon keine Vorteile haben, sondern gegenüber ihrer Mitgliederbasis in Erklärungsnot geraten. Sevim Dagdalen, Bundestagsabgeordnete der PDS/Linkspartei bemerkte am 8. November 2007 in einer Aussprache zum Integrationsplan: „Während die Bundesregierung mit den Organisationen und Verbänden in Arbeitsgruppen symbolhaft über Integration debattierte, stellte sie im Bundestag mit den massiven Verschärfungen im Aufenthaltsgesetz die ganz unsymbolischen Weichen für die zukünftige hässliche und harte Integrationspolitik.“ Es wird zu zeigen sein, dass dieser Vorwurf nicht richtig ist, dass Kooperation den Beteiligten substantielle Vorteile bringt.

Drittens sollten kooperative und sozialregulative Politik in einem gestuften Verhältnis zueinander stehen: Die gesetzliche Regelung zu den Sprachtests für nachziehende Ehegatten leistet zwar einen Beitrag dafür, dass nachziehende Partner von Anfang an zumindest über minimale Sprachkenntnisse verfügen. Man hätte jedoch auch für einen noch schnelleren Spracherwerb durch Integrationskurse in Deutschland sorgen können, die nicht den Anschein der Diskriminierung erwecken würden. Man hat also eine Chance vertan, zunächst die Verbände in die Pflicht zu nehmen, in ihren communities mehr für Teilhabe und eine Stärkung der Frauen zu tun. Erst wenn sich erwiesen hätte, dass die Verbände in diesem Sinne nicht wirken können oder wollen, wäre die gesetzliche Maßnahme gerechtfertigt gewesen. Eine bessere Integrationspolitik würde die Möglichkeiten von Gesetzgebung und Kooperation nicht entkoppeln.

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