Mutter aller Reformen

Die Neuordnung des Föderalismus wird kommen. Über das Ausmaß der Erneuerung sollte sich allerdings niemand Illusionen machen. Schon die Runderneuerung des Bestehenden wäre nach 30 Jahren gescheiterter Reformversuche ein schöner Erfolg

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit wird in Berlin nun seit fast einem Jahr um ein Projekt gerungen, das eigentlich längst auf die politische Tagesordnung gehört hätte: die Neuordnung des föderalen Systems. Die Erwartungen sind dabei sehr hoch gesteckt. Engagierte Beobachter wie Klaus von Dohnanyi sehen in der Föderalismusreform sogar „die Mutter aller Reformen“, die über die Zukunftsfähigkeit des gesamten Landes entscheide.

Diese Feststellung ist gewiss weit überzogen. Erstens lassen sich die vorhandenen Reformdefizite nicht allesamt auf institutionelle Faktoren zurückführen, zumal die politischen Akteure innerhalb dieser Institutionen ja über durchaus unterschiedliche Handlungsoptionen verfügen. Zweitens ist der Föderalismus nur ein – zugegebenermaßen wichtiger – Teil dessen, was im deutschen Regierungssystem zu Verkrustungen und Immobilismus geführt hat. Und drittens schwingt hier der verbreitete Irrglaube mit, dass jegliche Reform machbar sei, wenn nur der politische Wille dazu bestehe.

Die Realität sieht nüchterner aus. Wenn sich das Fenster für eine Föderalismusreform jetzt geöffnet hat, so hängt das zunächst mit dem gewachsenen Problemdruck zusammen. Dass die Bundesrepublik heute in vielen Politikbereichen schlechter dasteht als ihre europäischen Nachbarn, hat zweifellos auch mit der Schwerfälligkeit ihrer konsensorientierten Entscheidungsmechanismen zu tun. Das Problem liegt freilich nicht im Konsensualismus als solchem. Entscheidend ist vielmehr die Art und Weise, wie das Zusammenwirken der Akteure im Entscheidungsprozess organisiert wird, ob die institutionellen Strukturen sich dabei produktiv ergänzen oder gegenseitig blockieren. Letzteres scheint die Situation des bundesdeutschen „Parteienbundesstaates“ in besonderem Maße zu charakterisieren.

Aber auch hier haben sich die Dinge mittlerweile so verändert, dass das Reformfenster größer geworden ist. Bisher konnte man etwa im Falle gegenläufiger Gesetzgebungsmehrheiten (in Bundestag und Bundesrat) ziemlich sicher davon ausgehen, dass die mögliche Gefahr einer immanenten Stabilisierung der Regierungsmacht durch das Interesse der Oppositionsparteien, auf die Entscheidungen unmittelbar Einfluss nehmen zu können, allemal aufgewogen wurde. Unter den Bedingungen immer kürzer werdender Regierungszyklen entwickelt die heutige Opposition und Bundesratsmehrheit hingegen ein ähnliches Interesse wie die Regierung, die Zustimmungsrechte der Länderkammer auf ein erträgliches Maß zurückzuschneiden, da sie sich die Perspektive einer unter umgekehrten Vorzeichen konträren Ländermehrheit schon jetzt ausmalen kann.

Föderalismusreform als Tauschgeschäft

Auch im Verhältnis von Bund und Ländern haben sich die Interessenlagen von der Bewahrung des Status quo wegbewegt. In der Vergangenheit konnten die Gliedstaaten die fortschreitende Auszehrung ihrer legislativen Kompetenzen relativ gut verschmerzen, weil man sie dafür durch die verstärkte Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung entschädigte. Dass sich das nun zu ändern beginnt, hängt in erster Linie mit der europäischen Integration zusammen. Obwohl sich die Länder in Artikel 23 GG weit reichende Mitwirkungsrechte an der Europapolitik haben zusichern lassen, stößt die beteiligungsföderale Strategie auf der supranationalen Ebene an Grenzen. Deshalb wächst bei ihnen die Neigung, Gesetzeskompetenzen im innerstaatlichen Rahmen zu schützen beziehungsweise verloren gegangene Zuständigkeiten vom Bund zurückzufordern, selbst wenn sie im Gegenzug auf Beteiligungsrechte verzichten müssten.

Die Ratio der Föderalismusreform beruht also auf einem Tauschgeschäft: Die Länder erhalten wieder mehr eigene Gestaltungsmöglichkeiten und werden dafür als Mitregenten auf der Bundesebene gestutzt. Für einen solchen Handel lassen sich sowohl demokratische als auch funktionelle Argumente ins Feld führen. Einerseits macht er es dem Wähler wieder leichter zu erkennen, welche staatliche Ebene für welche Leistung oder welches Versäumnis verantwortlich ist und zur Rechenschaft gezogen werden kann. Andererseits sorgt er auf beiden staatlichen Ebenen für größere Entscheidungseffizienz. Die Länder sind durch die ihnen eingeräumten Gestaltungsspielräume in der Lage, einen produktiven Wettbewerb einzuleiten, bei dem sich die besten Lösungen am Ende durchsetzen. Die Bundesregierung wiederum kann ihre gesamtsstaatlichen Aufgaben wahrnehmen, ohne dass der Bundesrat ständig „querschießt“.

Erfolg durch realistische Selbstbeschränkung

So sehr diese Zielsetzung im Allgemeinen geteilt wird, so kompliziert und schwierig dürfte sich die Realisierung der Reform in der Praxis gestalten. Über deren Reichweite sollte man sich deshalb keinen zu großen Hoffnungen hingeben. Sollte die Kommission am Ende zu einem Ergebnis kommen, so wird das vor allem daran liegen, dass sie sich in realistischer Selbstbeschränkung auf das „Machbare“ konzentriert hat. Als machbar galt und gilt dabei alles, was sich innerhalb der Grundstruktur des vorhandenen, historisch gewachsenen Bundesstaates bewegt. Dazu gehören zum Beispiel das Prinzip, wonach Bundesgesetze im Regelfall von den Länderverwaltungen durchgeführt werden, oder die weltweit einzigartige Ausgestaltung der Zweiten Kammer als Vertretungsorgan der Länderexekutiven.

Auch am bestehenden Artikel 29 des Grundgesetzes, der eine mögliche Neugliederung des Bundesgebietes regelt und von Kritikern zu Recht als „Neugliederungsverhinderungsartikel“ bezeichnet wird, wollen die Reformer nicht rütteln. All das zeigt, dass an einen grundlegenden Systemwechsel der Bundesrepublik hin zu einem Wettbewerbs- oder Gestaltungsföderalismus, wie er in anderen Ländern ansatzweise Wirklichkeit ist, von vornherein nicht gedacht ist. Der Bundesstaatskommission geht es „lediglich“ darum, Fehlentwicklungen zu korrigieren, das heißt die Übertreibungen der in den sechziger Jahren institutionell perfektionierten Verflechtung zurückzunehmen, ohne deren Errungenschaften gleichzeitig mit zu beseitigen (etwa die Abkehr von der bis dahin geltenden unsystematischen Dotationspraxis, die es dem Bund erlaubte, einzelne Länder bei der Mittelvergabe zu bevorzugen).

Neben der abstrakten „Pfadabhängigkeit“ sind es natürlich auch ganz konkrete Interessenunterschiede, die einer Reform Grenzen ziehen. Die Konfliktlinien verlaufen hier in erster Linie zwischen den Bundesländern und resultieren aus deren unterschiedlicher Wirtschaftskraft und Finanzstärke. Zwar kann man nicht generell davon ausgehen, dass nur die großen, leistungsstarken Länder ein Interesse an mehr Autonomie haben, wie etwa die von Berlin gestartete Initiative für eine Öffnung bei der Beamtenbesoldung beweist. Ebenso richtig ist aber auch, dass eine Rückverlagerung von Aufgaben nur dann mit einer allgemeinen Zustimmung der Länder rechnen kann, wenn sie keinen Betroffenen finanziell schlechter stellt als heute. Deshalb haben die Initiatoren der jetzigen Reformkommission gut daran getan, die gerade erst in trockene Tücher gepackten Neuregelungen zum horizontalen Finanzausgleich und zum Solidarpakt aus dem Verhandlungspaket vorsorglich herauszunehmen.

Die Ängstlichkeit der armen Länder

Die Ausklammerung des Finanzausgleichs hat zur Folge, dass es auch beim Steuerverbund zu keinen substanziellen Änderungen kommen wird. Da sich die Ausgleichspflicht oder -berechtigung nach dem Steueraufkommen der Länder bemisst, besteht zwischen beiden Materien ein unmittelbarer sachlicher Zusammenhang. Würde man den Ländern eigene Hebesatzrechte oder gar ein Steuerfindungsrecht zugestehen, wäre das Ausgleichssystem in der heutigen Form nicht mehr haltbar. Die Ministerpräsidenten haben sich deshalb in einem Positionspapier zur Föderalismusreform schon jetzt darauf festgelegt, dieses Fass nicht aufzumachen.

Die großen, finanzstarken Länder würden zwar einen Wettbewerb bei den Steuern prinzipiell begrüßen; sie müssen sich hier aber einer – nach der Vereinigung noch größer gewordenen – „zentralistischen“ Koalition aus armen Ländern und dem Bund beugen, die an einer Abkehr vom Status quo kein Interesse hat.

Die Ängstlichkeit ist insofern bedauerlich, als sich der von den Kritikern befürchtete Unterbietungswettlauf bei dezentralen Steuern empirisch bisher nirgendwo hat nachweisen lassen. Und selbst dann hätte man ja immer noch die Möglichkeit, den Wettbewerb auf solche immobilen Steuerarten zu beschränken, die für die Standortentscheidungen von Unternehmen und Individuen keine große Rolle spielen (etwa die Kraftfahrzeug- und Erbschaftssteuern, deren Einnahmen den Ländern schon heute in Gänze zufließen).

Wenn die Gliedstaaten durch die Föderalismusreform wieder mehr legislative Zuständigkeiten erhalten sollen, dann ergibt es keinen Sinn, ihnen jegliche Gestaltungsmöglichkeit auf der Einnahmenseite (mit Ausnahme der Verschuldung) weiterhin vorzuenthalten. Eigene Steuerquellen und Hebesatzrechte wären hier auch aus demokratischer Sicht geboten, weil das die Landespolitiker zwingen würde, die Höhe der Steuern vor der Wählerschaft zu begründen und sie mit den staatlichen Leistungen in Zusammenhang zu bringen.

So aber wird sich das Bemühen der Reformer um eine größere Finanzautonomie der Länder allein auf die Ausgabenseite konzentrieren müssen. Die Kommission verfolgt hier im Groben zwei Ziele. Zum einen soll – ohne das System der ergänzenden Bundeszuweisungen zur Disposition zu stellen – durch eine Entflechtung der Aufgaben zugleich eine stärkere finanzielle Entflechtung erreicht werden. Die Länder könnten zum Beispiel einen Teil der heutigen Gemeinschaftsaufgaben laut Artikel 91a und b des Grundgesetzes vollständig übernehmen; im Gegenzug müsste der Verteilungsschlüssel im vertikalen Finanzausgleich zu ihren Gunsten verändert werden. Zum anderen geht es um das Problem der Kostenfolgen von Bundesgesetzen, wo man sich stärker am Konnexitätsprinzip orientieren will („Wer bestellt, bezahlt“).

Weil eine vollständige Anwendung dieses Prinzips auf das Bund-Länder-Verhältnis der Regelzuständigkeit der Länder für die Verwaltung widersprechen würde, hat Artikel 104 des Grundgesetzes seinen Anwendungsbereich bisher auf die Bundesauftragsverwaltung gemäß Artikel 85 GG und so genannte Geldleistungsgesetze begrenzt. Das eigentliche Pro-blem liegt bei den Gesetzen zwischen diesen Kategorien, die Ländern und Kommunen von Bundes wegen Sachleistungen abverlangen, ohne eine ausreichende finanzielle Kompensation in jedem Fall zu gewährleisten. Darunter fallen zum Beispiel der gesetzlich geregelte Anspruch auf einen Kindergartenplatz oder die Bereitstellung von Sprachkursen und sonstigen Integrationsangeboten im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes. Weil sich die Kosten solcher Sachleistungen einer exakten Vorausberechnung entziehen, bleibt hier keine andere Möglichkeit, als die Kompensationen politisch festzulegen und fallweise auszuhandeln. Dies würde im Grunde einen Zustimmungsvorbehalt der Länder erfordern, der aber mit Blick auf die Gesamtintention der Reform gerade nicht gewollt sein kann. Die Bundesstaatskommission steht in dieser Frage also vor einer schwierigen Gratwanderung.

Was leichter gefordert ist als realisiert

Die Rückübertragung von legislativen Kompetenzen auf die Länder ist ebenfalls leichter gefordert als verwirklicht. Dass der Bund an dieser Stelle äußerst zurückhaltend sein würde, war abzusehen. Aber auch die Länder tun sich mit der Benennung der in Frage kommenden Materien nicht gerade leicht. Nimmt man die von den Ministerpräsidenten unlängst vorgelegte Positivliste etwas genauer unter die Lupe, so fällt auf, dass das umfangreiche Feld des Rechts der Wirtschaft darin allenfalls am Rande eine Rolle spielt. Dabei wäre eine Dezentralisierung gerade in diesem Bereich geboten, wenn man an die Erfordernisse des regionalen Standortwettbewerbs denkt.

So aber konzentrieren sich die Vorschläge der Länder für eine Rückverlagerung von Zuständigkeiten auf jene Bereiche, in denen sie heute schon legislativ tätig sind oder über die sie die Hoheit haben: Verwaltung und Personal sowie Bildung und Erziehung. Insofern steht auch hier die Entflechtung gegenüber der Reföderalisierung als Ziel im Vordergrund.

Die Zurückhaltung der Länder ist verständlich, wenn man bedenkt, dass der Bund die ihm im Katalog der konkurrierenden Gesetzgebung eingeräumten Kompetenzen nahezu vollständig ausgeschöpft hat. Dieses Recht könnte auch bei einer Übertragung der Zuständigkeiten nicht ohne weiteres verdrängt werden. Die Reföderalisierung wird also am Ende auf eine Parallelgesetzgebung von Bund und Ländern hinauslaufen und damit unweigerlich zu Kollisionen führen. Dies gilt unabhängig davon, ob die Verteilung der Zuständigkeiten im Wege einer strikten Abgrenzung erfolgt, oder ob sie durch Zugriffsrechte der Länder auf die bestehende Bundesgesetzgebung realisiert wird. Die meisten Staatsrechtler empfehlen, die Aufgaben der einen oder anderen Ebene abschließend zuzuordnen, was verfassungssystematisch gewiss die sauberste Lösung wäre, der komplexen Natur der gesetzlich zu regelnden Materien aber widersprechen würde.

Unter den Ländervertretern in der Kommission hat sich deshalb eine klare Präferenz für das Zugriffsmodell herausgeschält, das bei der Wahrnehmung der Kompetenzen eine größere Flexibilität gestattet. Aber auch hier dürfte die Umsetzung schwierige Probleme aufwerfen. Zum einen muss geklärt werden, welche Materien aus den Bereichen der konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung für eine fallweise Öffnung überhaupt in Betracht kommen. Zum anderen stellt sich die Frage, ob die Zugriffsrechte mit einem Zustimmungsvorbehalt des Bundes beziehungsweise der Ländergesamtheit verbunden werden sollen, um unsinnigen Gesetzesvorhaben einen Riegel vorzuschieben. Dabei müssten allerdings Vorkehrungen dafür getroffen werden, dass die Rückholung nicht ausschließlich aus parteipolitischen Motiven erfolgt.

Wie die Ausnahme zur Regel wurde

Während bei der Kompetenzverteilung die wichtigsten Fragen also noch zu klären sind, zeichnen sich an der anderen Front – den Beteiligungsrechten des Bundesrates – die Konturen der Reform deutlicher ab. Die beiden Kommissionsvorsitzenden Müntefering und Stoiber haben auf der Eröffnungssitzung eine Halbierung des Anteils der zustimmungspflichtigen Gesetze von heute 60 auf dann 30 Prozent aller Gesetze als Zielmarke vorgegeben. Diese Marke könnte erreicht werden, wenn der Bund künftig auf die ihm in Artikel 84 Absatz 1 des Grundgesetzes eingeräumte Befugnis verzichtet, die für den Vollzug des Gesetzes notwendigen Behörden und Verfahren selbst zu regeln (und damit in die Verwaltungshoheit der Länder einzugreifen), was in über der Hälfte der Fälle die Zustimmungspflicht des Bundesrates auslöst. Die Ministerpräsidenten haben dies in ihrem Positionspapier als Preis für die wegfallenden Zustimmungsrechte so gefordert. Strittig ist auch hier, ob es eine Sperrklausel geben soll, die dem Bund die Regelung des Verwaltungsverfahrens in bestimmten Fällen weiterhin erlaubt. Ein Teil der Kommissionsmitglieder hält dies im Interesse einer möglichst einheitlichen Durchführung der Gesetze für unabdingbar; andere betrachten demgegenüber die bereits existierenden Sicherheitsgarantien der Bundestreue und des Bundeszwangs als ausreichend und weisen auf die Gefahr hin, dass durch eine solche Sperrklausel die Ausnahme erneut zur Regel werden könne.

Mehr Phantasie, liebe Verfassungsjuristen!

Es ist bedauerlich, dass die überwiegend aus Verfassungsjuristen bestehende Kommission nicht mehr Phantasie entwickelt hat, um die Balance von notwendiger Einheitlichkeit und erwünschter Vielfalt bei der Verwaltungsführung zu gewährleisten. Statt wie gehabt Regel- und Ausnahmebereiche zu definieren oder gar eine Aufgabe der so genannten Einheitstheorie zu fordern, was auf eine künstliche Trennung der materiellen und prozeduralen Regelungen hinauslaufen würde, hätte man sich zum Beispiel eine Lösung vorstellen können, bei welcher der Bund den Ländern lediglich Zielvorgaben für die Umsetzung macht, die diese innerhalb einer angegebenen Frist erreichen müssen. Nach demselben autonomieschonenden Prinzip verfahren heute die Richtlinien der Europäischen Union.

Wie immer die Neuformulierung von Artikel 84 Absatz 1 am Ende aussieht – der Übergang zu einer größeren Verwaltungsautonomie der Länder wird für ein Volk, das den Gedanken der Rechtseinheit stets hoch gehalten hat, eine enorme Umstellung bedeuten. Ihre Gewöhnungsbedürftigkeit lässt sich etwa daran ablesen, dass Finanzminister Eichel gerade unlängst einen erneuten Vorstoß unernommen hat, anstelle der bisherigen Länderverwaltungen eine einheitliche Steuerverwaltung des Bundes einzuführen, was verfassungssystematisch genau in die gegenteilige Richtung weisen würde. Gewiss ist die Verlagerung von Zuständigkeiten keine Einbahnstraße, die ausschließlich in Richtung der Länder verlaufen muss – die jüngst aufgeflammte Diskussion um die Landesverfassungsschutzämter liefert hier nur eines von mehreren Beispielen.

Eine Föderalismusreform hätte aber ihren Namen nicht verdient, wenn sie unter dem Strich zu einer nochmaligen Zentralisierung führen würde. In den Bereichen der materiellen Politik sind die Möglichkeiten einer Reföderalisierung – wie gesehen – eher gering; um so wesentlicher wird es für den Erfolg der Kommission sein, dass sie Möglichkeiten einer Stärkung der Verwaltungszuständigkeit der Länder innerhalb des vorhandenen Verbundsystems voll ausschöpft.

Die angebliche Fessel des Artikel 23

Ein weiteres Thema, dessen sich die Reformer annehmen müssen, betrifft die Mitwirkungsrechte der Länder an den Angelegenheiten der Europäischen Union gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes. Für die Funktionsweise des „parlamentarischen Bundesstaates“ ist es bezeichnend, dass diese Mitwirkungsrechte sogar stärker ausgeprägt sind als diejenigen des Bundestages – insofern ergibt sich hier ein ähnliches Bild wie bei den nationalen Gesetzgebungsverfahren. Eine Reform des Artikel 23 ist schon deshalb unumgänglich, weil es der Bundesrepublik nach den Bestimmungen des vorliegenden EU-Verfassungsentwurfs nicht mehr frei stehen wird, sich im Rat von einem Mitglied des Bundesrates vertreten zu lassen (wenn es um Länderzuständigkeiten geht); die Vertretung durch die Bundesregierung ist dann zwingend vorgeschrieben.

Wie weit die Reform reichen soll, darüber gehen die Meinungen zwischen Bund und Ländern aber stark auseinander. Während die Vertreter des Bundes Artikel 23 als lästige Fessel betrachten, die sie am liebsten ganz loswerden würden, sehen die Länder in ihm eine unverzichtbare Schutzvorkehrung, um weitere Aushöhlungen ihrer Kompetenzen durch die supranationale Hintertür abzuwehren beziehungsweise auszugleichen. Gewiss ist es richtig, dass die Notwendigkeit einer flexiblen Verhandlungsführung auf europäischer Ebene nach der Erweiterung der Gemeinschaft noch stärker gegeben sein wird als in der Vergangenheit.

Fraglich ist jedoch, ob die im Vergleich zu anderen Mitgliedsstaaten schon bisher geringe Effektivität der deutschen Interessenwahrnehmung in Brüssel primär den Ländern angelastet werden kann, wie die Bundesregierung mit Verweis auf Artikel 23 glauben machen will. Nach den vorliegenden Befunden der Forschung dürfte das Problem eher auf der Regierungsebene selbst liegen – nämlich in der mangelnden Koordination der Europapolitik zwischen den Ressorts. Die Länder haben von daher genügend sachliche Gründe, sich einer Beschneidung ihrer gegenwärtigen Beteiligungsrechte zu widersetzen.

Wann wäre die Reform gescheitert?

Altbundespräsident Roman Herzog, als Verfassungsjurist in der Materie bestens bewandert, hat kürzlich nochmals eindringlich vor einem Scheitern der Föderalismusreform gewarnt. Tatsächlich würde das Land eine große Chance vergeben, wenn es die Gelegenheit zu einer Neuordnung seiner institutionellen Strukturen jetzt nicht nutzte. Was als „Scheitern“ ausgelegt wird, ist freilich eine Frage des Standpunktes und hängt in erster Linie von den Erwartungen ab, die man an die Reform knüpft. Sicher ist es berechtigt, den Ländern in Sachen Reföderalisierung übertriebene Ängstlichkeit vorzuwerfen. Hier hätte man sich besonders im Bereich der Finanzverfassung mehr Mut zur Autonomie und ein entschiedeneres Auftreten gegenüber dem Bund gewünscht. Ebenso richtig ist aber auch, dass das Ziel der Reform nicht eine grundlegende Abkehr vom bisherigen verbundföderalen System sein kann, so sehr man dessen konkrete Schwächen auch kritisiert.

Einen solchen radikalen Systemwechsel hat es in einer komplexen, hoch entwickelten Demokratie noch nirgendwo auf der Welt gegeben – zumindest nicht in Friedenszeiten. Deshalb wäre es geschichtsblind, ihn ausgerechnet hierzulande zu erwarten oder für erstrebenswert zu halten. Wenn die Bundesstaatskommission sich am Ende auf ein Ergebnis in den hier umrissenen Konturen verständigt, wäre das gewiss nicht mehr als eine „Optimierung“ der vorhandenen, historisch gewachsenen Strukturen. Nachdem in den vergangenen dreißig Jahren alle Bemühungen um eine Föderalismusreform im Sande verlaufen sind, könnte aber auch das bereits ein schöner Erfolg sein.

zurück zur Ausgabe