Mit und ohne Amerika

Europa braucht eigene Interventions-Streitkräfte

Mitten im Kosovo-Konflikt sagten sich Tony Blair und die anderen führenden Politiker in Europa: "Nie wieder". Niemals wieder darf die Lösung einer Krise, die für Frieden, Gerechtigkeit und Sicherheit in Europa derart wichtig ist, von der militärischen Macht und dem politischen Willen der Vereinigten Staaten abhängen. Machen wir uns nichts vor: Wir alle können nun, da die Nato-Allianz aus 19 Nationen erfolgreich war, einen kollektiven Seufzer der Erleichterung tun. Amerika an Bord zu halten, war jedoch die größte Leistung. Im Falle anderer innenpolitischer Verhältnisse in Amerika, im Falle einer anderen Präsidentschaft, wäre es vielleicht unmöglich gewesen.

Im Kosovo-Konflikt haben die USA 80 Prozent der Bombenangriffe geflogen, und wir verließen uns auf Amerika auch in Bezug auf Aufklärung, strategische Lufttransporte und das Auftanken der Flugzeuge während des Fluges. Am überraschendsten ist jedoch die Tatsache, dass nur zwei Prozent der Streitkräfte in Europa für eine Verwendung wie Kfor und Sfor verfügbar sind. Zwei Prozent - und wir sind schon am Rande unserer Leistungsfähigkeit!

Aber nicht nur in Europa heißt es: "Nie wieder". Strobe Talbot, der stellvertretende US-Außenminister, erklärte vor kurzem auf einer Konferenz in London: "Die Amerikaner sagen, die Vereinigen Staaten sollten nie wieder den Löwenanteil der gefährlichen Einsätze bei einer Nato-Operation fliegen und den weitaus größten Teil der Rechnung übernehmen müssen." Daher der seit Kosovo blitzschnelle Fortschritt bei der Entwicklung einer Gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, oder um das weitaus schönere deutsche Akronym zu verwenden - GASP.

Ende 2000 sollte die französische Präsidentschaft den GASP-Prozess einschließlich der notwendigen Vertragsänderungen abschließen. Das Ziel: Europa soll bis 2003 über eine Streitmacht von mindestens 40 000 Mann verfügen, die innerhalb von 60 Tagen einsatzfähig ist und zwei Jahre lang in der Kampfzone gehalten werden kann.
Eine derartige Streitmacht würde bedeuten, dass Europa in der Lage ist, Entscheidungen über die Dislozierung militärischer Kräfte für diePetersberger Aufgaben" zu treffen - humanitäre Hilfe, friedenserhaltende und friedenserzwingende Missionen -, und zwar unabhängig von den Vereinigten Staaten. Das wird die europäische Außenpolitik und den Beitrag der Europäer zur Nato stärken.

Dies zu erreichen wird angesichts der derzeitigen europäischen Schwäche allerdings eine gewaltige Aufgabe sein. Zur Zeit gibt Europa für Verteidigungszwecke nur zwei Drittel dessen aus, was die Vereinigten Staaten aufwenden, und für diesen Betrag bekommen wir lediglich zehn Prozent der amerikanischen Fähigkeiten.

Mit Geschick und Entschiedenheit müssen die europäischen Regierungen auf den Gebieten Verteidigung und Sicherheit "Konvergenzkriterien" wie jene anstreben, die wir bei der Schaffung des Euro vereinbart haben. Wir benötigen hier Konvergenz auf zwei Hauptgebieten: Einsatzfähigkeit und Entscheidungsstrukturen.

Ich will mit der Einsatzfähigkeit beginnen, da wir über Strukturen reden können, bis wir blau im Gesicht sind - wir in Europa sind gut auf diesem Gebiet -, aber ohne eine drastische Verbesserung der militärischen Fähigkeiten können wir ebenso gut gleich zu Hause bleiben. Das bedeutet nicht zwangsläufig eine Erhöhung der Ausgaben - wenn es auch für manche Länder darauf hinauslaufen wird. Es bedeutet jedoch, dass wir unser Geld viel effizienter einsetzen müssen. Die europäischen Partner müssen wenigstens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungszwecke ausgeben. Sie müssen die Mannschaftsstärke auf 0,3 Prozent der Bevölkerung reduzieren. In Griechenland zum Beispiel umfassen die Streitkräfte derzeit 1,5 Prozent der Bevölkerung.

Die Wehrpflicht, die nützlich war, als große stehende Heere benötigt wurden, um eine sowjetische Invasion abzuwehren, muss abgeschafft werden. Das heißt: Es wird keine effiziente GASP geben, bis Deutschland die Wehrpflicht abschafft. Eine solche Maßnahme wäre in der deutschen Bevölkerung viel populärer als bei den deutschen Politikern. Alle EU-Länder müssen sich einer gründlichen Überprüfung ihrer Streitkräfte unter außenpolitischen Gesichtspunkten unterwerfen. Wir werden mindestens 40 Prozent unseres Verteidigungsbudgets für Forschung und Entwicklung ausgeben müssen. In Deutschland liegen die Ausgaben in diesem Bereich derzeit bei lediglich 20 Prozent, in Belgien bei zwölf.

In einer idealen europäischen Armee würden sich die verschiedenen Länder auf das spezialisieren, was sie bereits am besten können. Deutschland wäre für Panzer, Engineering und Diesel-Unterseeboote zuständig, Großbritannien für Sondereinsatzkräfte, Atom-U-Boote und Jagdflugzeuge. Die Chancen dafür, dass sich eine solche Aufgabenverteilung in der nächsten Zukunft verwirklichen lässt, stehen jedoch schlecht. Dagegen können wir in den Bereichen Ausbildung, Beschaffung und Logistik, Schwertransport und Satellitentechnologie viel mehr und schneller durch Zusammenarbeit und Koordination erreichen. Außerdem müssen wir die zahlreichen bestehenden bilateralen und multilateralen Abkommen zusammenführen.

Die Arbeit an den Strukturen hat bereits begonnen. Aufgaben der WEU werden der EU übertragen, und die WEU wird schrumpfen. Solana ist GASP-Sekretär beider Organisationen geworden, um der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik Kohäsion zu verleihen. Er wird mit dem für die Außenpolitik der EU zuständigen Kommissar Chris Patten und der Präsidentschaft gemeinsam als Troika agieren. Zudem wird ein Äquivalent des Nato-Rates benötigt. Wir müssen die nicht der EU angehörenden Nato-Mitglieder an Bord behalten, es sollte ihnen jedoch kein Vetorecht eingeräumt werden.

Die GASP gibt der Linken in Europa die Chance, unser eigentliches Gebiet zu beanspruchen: Internationalismus und Interventionismus. Die Rechte sowohl hier als auch in Amerika ist zunehmend durch Isolationismus, Engstirnigkeit und Individualismus charakterisiert. Wir sollten stolz darauf sein, dass es Regierungen links der Mitte waren, die Europas ersten humanitären Krieg im Kosovo kämpften und durch die Beendigung der ethnischen Säuberung einen Völkermord verhinderten. Wir werden die Demokratie und die Menschenrechte auf unserem Kontinent langfristig jedoch nur sichern können, wenn wir mehr eigene Verantwortung für die europäische Sicherheit übernehmen.

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