Mit Kandidaten an die Spitze

Das Europäische Parlament ist im andauernden Wettstreit der institutionellen Akteure der Union zum großen Gewinner geworden. Wie kam es dazu?

Das Vokabular der Europäischen Union ist durch die Wahlen zum Europäischen Parlament um einen Begriff reicher geworden: Spitzenkandidaten. Erstmals haben die europäischen Parteienfamilien Kandidatinnen und Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission nominiert, um die Bedeutung der Europawahl zu erhöhen, die Wahlkampagne zu personalisieren und damit mehr Wähler an die Urnen zu bringen. In den Heimatländern der Spitzenkandidaten scheint dies in einem gewissen Umfang funktioniert zu haben: In Deutschland (dem Herkunftsland des sozialdemokratischen Kandidaten Martin Schulz und der Grünen-Kandidatin Ska Keller) und Griechenland (der Heimat von Alexis Tsirpas, dem Kandidaten der Linken) erhöhte sich die Wahlbeteiligung. Außerdem erhielt Tsirpas Partei Syriza in Griechenland eine Mehrheit der Stimmen, während die SPD ihren Stimmenanteil um fast sieben Prozentpunkte verbessern konnte. In Belgien und Luxemburg als Herkunftsländer der Spitzenkandidaten der Liberalen, Guy Verhoefstadt und der Europäischen Volkspartei, Jean-Claude Juncker herrscht ohnehin Wahlpflicht. Aber auch hier konnten die Parteien der Spitzenkandidaten eine Mehrheit erringen. Insgesamt aber stagnierte die Wahlbeteiligung 2014 im Vergleich zu 2009 bei etwa 43 Prozent, und der Anteil der integrationsfreundlichen Parteien, die mit europäischen Spitzenkandidaten ins Rennen gegangen waren, sank von etwa 80 auf 70 Prozent der Sitze im Parlament.

Die wichtigste Funktion der Spitzenkandidaten betrifft allerdings nicht die Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und seiner Wählerschaft, sondern die Beziehungen des Parlaments zu den anderen europäischen Institutionen. Im Kern geht es um institutionelle Politik, nicht um die Verantwortlichkeit gegenüber dem Wähler. Die EU besitzt eine hochgradig dynamische Verfassungsordnung, in der die zentralen institutionellen Akteure – der Rat, die Kommission, der Gerichtshof und das Parlament – nicht nur über die Inhalte der Politik streiten, sondern auch um die Verteilung von Macht und Kompetenzen konkurrieren.

In den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten war das Parlament der große Gewinner in diesem Wettbewerb. In den Ursprungsverträgen der europäischen Integration war es die schwächste Institution des Quartetts: indirekt gewählt, mit lediglich beratender Stimme im Rechtsetzungsprozess, ohne Einfluss auf die Besetzung der Kommission (aber ausgestattet mit dem Recht, sie abzusetzen). Inzwischen kann das Europäische Parlament bei fast allen europäischen Verträgen und Gesetzen, beim EU-Haushalt und bei der Besetzung der Kommission mitentscheiden. Seine Initiativrechte sind nach wie vor gering, aber es kann (fast) alles verhindern, was die Regierungen vorschlagen. Diese Parlamentarisierung ist eine der großen Strukturveränderungen im institutionellen System der EU. Wie war sie möglich?

Man muss sich zunächst vergegenwärtigen, dass die EU nicht die Parlamentarisierung des Nationalstaats auf supranationaler Ebene wiederholt. Kurz gesagt haben nationale Parlamente auf zwei Wegen ihre Macht ausgebaut. Einerseits gewährten sie den (in der Regel monarchischen) Exekutiven zusätzliche Steuereinkünfte und erhielten im Gegenzug Mitentscheidungsrechte, andererseits wurden sie von starken politischen und sozialen Bewegungen wie des Bürgertums und der Sozialdemokratie getragen, um ihre Anliegen durchzusetzen.

Verhandlungsmacht kraft Legitimität

Beides trifft auf das Europäische Parlament nicht zu: Es nimmt weder Steuern ein noch kann es auf soziale Bewegungen von unten zurückgreifen, um sich gegen die Regierungen in Stellung zu bringen. Wenn das Parlament also weder über die „Macht der Geldbörse“ noch über die „Macht der Straße“ verfügt, wie konnte es sich gegenüber Regierungen durchsetzen, die von sich aus kein Interesse hatten, ihre Macht zu teilen? Das Europäische Parlament macht sich zwei alternative Machtquellen zunutze: Zum einen verfügt es über normative Verhandlungsmacht, die sich aus seiner direkten demokratischen Legitimität speist. Zum anderen besitzt das Parlament institutionelle Verhandlungsmacht, die in seinem Zusammenhalt und seinem Zeit-horizont als institutioneller Akteur begründet ist.

Die normative Verhandlungsmacht des Europäischen Parlaments ist darin begründet, dass die repräsentative, parlamentarische Demokratie eine zentrale gemeinsame Norm der EU und ihrer Mitgliedsstaaten ist, aber durch die europäische Integration infrage gestellt wird. Die zunächst indirekte demokratische Legitimität der europäischen Integration beruhte darauf, dass im nationalen Rahmen gewählte und von nationalen Parlamenten kontrollierte Regierungen konsensuale Entscheidungen trafen.

Die eingeführten Mehrheitsentscheidungen unter den Regierungen und die verlagerten zentralen Politikbereiche auf die Ebene der EU haben jedoch zu einem Machtverlust nationaler Parlamente und der von ihnen repräsentierten Bürger geführt. Dieses „demokratische Defizit“ der EU wurde zu einem Einfallstor für diejenigen, die forderten, das Europäische Parlament zu stärken, um die schwindende indirekte demokratische Legitimität der EU durch eine direkte demokratische Legitimation zu kompensieren.

Große Mehrheiten in eigener Sache

Der bedeutendste Schritt war hierbei die 1987 eingeführte qualifizierte Mehrheitsentscheidung im Rat – ein effizienzorientierter Schritt, um das Binnenmarktprogramm auch gegen den Widerstand einzelner Staaten verwirklichen zu können. Im Gegenzug konnte eine Koalition von integrationsfreundlichen Mitgliedsstaaten und Parlamentariern unter Verweis auf die demokratischen, parlamentarischen Legitimitätserfordernisse gegen den ursprünglichen Willen zahlreicher Regierungen durchsetzen, dass das Europäische Parlament Mitentscheidungsrechte erhielt.

Darüber hinaus hat das Europäische Parlament die begrenzten Zugeständnisse, die ihm unter normativem Druck gemacht wurden, dazu genutzt, um sich weitere Kompetenzen zu verschaffen. Hier kommt seine institutionelle Verhandlungsmacht ins Spiel.

Das Parlament profitiert erstens von seinem längeren Zeithorizont. Denn während Ratspräsidentschaften nach sechs Monaten enden, ist das Parlament für fünf Jahre gewählt. Zweitens leidet es weniger unter Entscheidungsblockaden: gescheiterte Haushalte, Verträge, Gesetzesprojekte oder Personalentscheidungen werden in erster Linie den Regierungen angelastet. Drittens zeichnet es sich durch große Geschlossenheit in institutionellen Fragen aus: Normalerweise unterstützen extrem breite Koalitionen im Parlament, dass die eigenen Kompetenzen ausgeweitet werden (in solchen Fragen stimmen alle integrationsfreundlichen Parteigruppen zusammen), während der Europäische Rat oft in eher integrationsfreundliche und integrationsskeptische Mitgliedsstaaten gespalten ist. Dank seiner institutionellen Verhandlungsmacht konnte das Parlament immer wieder von den Mitgliedsregierungen gewünschte Entscheidungen blockieren, bis es im Gegenzug weitere Kompetenzen erhielt.

Der „Spitzenkandidaten-Coup“ des Parlaments passt in dieses Muster institutioneller Konflikte in der EU. Formell ermöglicht Art. 17 des EU-Vertrags dem Europäischen Rat, den Präsidenten der Europäischen Kommission vorzuschlagen. Er ist lediglich gehalten, das Ergebnis der Europawahlen zu „berücksichtigen“. Das Parlament kann den Kandidaten des Rats zwar ablehnen, aber keine eigenen Kandidaten nominieren. Mit den Spitzenkandidaten strebte das Parlament an, diese vertragliche Grenze seiner Kompetenzen informell zu umgehen. Die demokratische Legitimität durch eine Mehrheit der Wähler und ihrer Repräsentanten übt starken normativen Druck auf die Regierungen aus, den Kandidaten des Parlaments als Kommissionspräsidenten zu nominieren – und damit faktisch das Recht des Parlaments anzuerkennen, den Chef der europäischen Exekutive zu bestimmen. Sollte dieser normative Druck nicht ausreichen, kann immer noch damit gedroht werden, einen alternativen Kandidaten der Regierungen zu blockieren.

Junckers Gegner kämpfen mit harten Bandagen

Die bisherigen Ereignisse seit der Europawahl entsprechen den Erwartungen. Noch bevor die Regierungschefs erstmals zusammentrafen und das neue Parlament sich formell konstituierte, sprach sich eine klare Mehrheit der Europaparlamentarier für den Wahlsieger Jean-Claude Juncker aus. Damit demonstrierte das Parlament Entschlossenheit. Hingegen ist der Europäische Rat gespalten. Der größte Widerstand gegen Juncker kommt aus den europaskeptischen Regierungen von Großbritannien, Schweden und Ungarn. Junckers Gegner kämpfen mit harten Bandagen: Der britische Premier David Cameron drohte offenbar mit dem Austritt aus der EU, und aus dem Umfeld des Ratspräsidenten Herman van Rompuy verlautete, man erwarte einen Rückzug Junckers.

Allerdings verfügen die Gegner bisher über keine Sperrminorität. Somit kommt Kanzlerin Angela Merkel eine Schlüsselrolle zu. Nach der „Kriegserklärung“ des Parlaments weigerte sie sich zunächst, Juncker zu unterstützen. Damit löste sie in der deutschen Politik und den deutschen Medien heftige Reaktionen quer über die Parteigrenzen aus, die sich genau der demokratischen Legitimitätsstandards bedienten, die das Parlament zu mobilisieren versucht. Merkel wurde vorgeworfen, den Wählerwillen und die Prinzipien der Demokratie zu missachten. Vizekanzler Gabriel gab Juncker den Rückhalt, den ihm seine „Parteifreundin“ Merkel versagte. Springer-Chef Mathias Döpfner warnte in der Bild davor, „Demokratie zur Farce“ zu machen. Der Druck verfehlte seine Wirkung nicht. Bald bekundete Merkel, die Gespräche in dem „Geiste zu führen“, dass „Jean-Claude Juncker Präsident der Kommission werden sollte“.

Die Besetzung der Führungspositionen der EU folgt einem sorgfältig ausbalancierten regionalen, parteipolitischen und Geschlechterproporz. Der Spitzenkandidaten-Coup zielt darauf, dass die Verhandlungen der Regierungen sich zukünftig danach ausrichten müssen, wer von den Wählern und dem Parlament faktisch als Kommissionspräsident bestimmt wird. Damit hätte das Parlament einen weiteren Schritt in Richtung eines parlamentarischen Regierungssystems in der EU gemacht. In fünf Jahren müssen die großen Parteien diesen Kompetenzzuwachs auch dazu nutzen, Kandidaten zu nominieren, die für unterschiedliche Inhalte in der europäischen Politik stehen.

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