Mit Bismarck muss endlich schluss sein!

Einzelmaßnahmen können gut und richtig sein, sie ersetzen aber keine integrierte und konzeptionell klare Politik. Nur wenn sie das Problem allzu starrer Berufslaufbahnen in den Fokus nimmt, gelangt die deutsche Familienpolitik wieder auf die Höhe der Zeit

Während ihrer Amtszeit von 2002 bis 2005 richtete Familienministerin Renate Schmidt die Familienpolitik neu aus. Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz schuf sie die Voraussetzungen für eine verlässliche Betreuung von Kindern im Alter bis zu drei Jahren. Zudem hat der Gesetzgeber durch den Rechtsanspruch auf Teilzeit klar gemacht, dass Fürsorge für andere Menschen und berufliches Engagement nur unter einen Hut zu bringen sind, wenn es dem Einzelnen möglich ist, die verschiedenen Lebensbereiche zeitlich miteinander zu vereinbaren. Durch das von Ursula von der Leyen verabschiedete Gesetz zum einkommensabhängigen Elterngeld, einschließlich der Vätermonate, wurde die Fürsorge für Kinder im ersten Lebensjahr deutlich aufgewertet: Aus Sicht des Staates ist die Fürsorge für Kinder während des ersten Lebensjahres genauso wichtig wie die Berufstätigkeit der Eltern, wobei erwartet wird, dass sich Väter wie Mütter daran beteiligen.

Klare Ziele, große Erfolge

Die Familienpolitik der rot-grünen Regierung und der Großen Koalition von 2005 bis 2009 zeichnete sich durch eine klare integrative und konzeptionelle Basis aus: Die familienpolitischen Maßnahmen – die Förderung von Teilzeit und Elternzeit, der Ausbau der Infrastruktur und die finanzielle Unterstützung der Familien – waren allesamt darauf ausgerichtet, Eltern in jener Lebensphase zu unterstützen, in der Fürsorge und berufliche Tätigkeit nicht voll miteinander vereinbar sind. Diese Politik wurde mit dem klaren Anspruch an die Zivilgesellschaft verbunden, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Fürsorge von Kindern nicht nur als eine persönliche Aufgabe der Eltern zu begreifen, die der Staat unterstützt, sondern auch als eine zivilgesellschaftliche Aufgabe. Die Bündnisse und Allianzen für Familien und die vielen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten, die der Bund in diesem Bereich unterstützt hat, haben diesen politischen Willen deutlich dokumentiert.

Auch wenn man mit der Zuschreibung von Ursachen vorsichtig sein sollte: Seit dem Jahr 2000 ist die Erwerbsquote von Müttern mit Kindern noch einmal deutlich gestiegen und unterscheidet sich heute kaum noch von den nordeuropäischen Ländern. Im OECD-Vergleich liegt Deutschland oberhalb des Durchschnitts der OECD-Länder noch vor Frankreich und fällt kaum hinter die nordeuropäischen Staaten zurück. Die höhere Präsenz am Arbeitsmarkt hat dazu geführt, dass die Einkommensdifferenz zwischen Familienhaushalten mit Kindern und Paarhaushalten etwas abgenommen hat, und dass nahezu 80 Prozent der Frauen in West wie Ost angeben, von ihrem eigenen Einkommen zu leben. Dieses sehen sie nicht als „Zuverdienst“, sondern als wesentlichen Bestandteil der Existenzsicherung für sich und ihre Familie. Auch in ihren Werten und Lebensvorstellungen formulieren die Eltern klar, ihren Kindern vermitteln zu wollen, dass sich Beruf und Familie vereinbaren lassen.

An die Stelle dieser klar auf ein Ziel hin ausgerichteten Familienpolitik sind heute politische Einzelmaßnahmen getreten, die für sich genommen zwar sinnvoll sein mögen, aber konzeptionell nicht miteinander verbunden sind: Die Frauenquote ist ein politischer Erfolg, die Ausweitung und Flexibilisierung der Elternzeit konsistent und plausibel, und auch der Vorschlag einer 30-Stunden-Woche für beide Elternteile (Familienarbeitszeit) nachvollziehbar.

Das Elterngeld hilft längst nicht allen

Der internationale Vergleich zeigt allerdings, dass diese Maßnahmen nicht immer die ursprünglich beabsichtigten Wirkungen erzielen. So hat die OECD Schweden ausdrücklich dafür gerügt, dass der Anteil von Frauen in Führungspositionen zu gering und der Gender Pay Gap im europäischen Vergleich stark ausgeprägt ist. Viele familien- und frauenpolitischen Maßnahmen in den nordeuropäischen Ländern, die uns als Vorbild dienen, wurden zu einem Zeitpunkt entwickelt, als die Bedeutung der Organisation von Arbeits- und Lebenszeit in Wissenschaft und Politik noch nicht thematisiert wurde.

Oder nehmen wir ein Beispiel aus Deutschland: Das einkommensabhängige Elterngeld wurde mit dem Ziel eingeführt, die Geburtenraten positiv zu beeinflussen. Dabei war schon damals klar, dass der Geburtenrückgang wesentlich auf den veränderten Lebensverlauf zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr zurückzuführen ist, also auf eine Phase, in der die berufliche Integration meist noch nicht abgeschlossen ist und ein einkommensabhängiges Elterngeld daher für viele bedeutungslos ist, weil ihnen das entsprechende Einkommen fehlt.

Bisher hat sich die Politik in Nordeuropa und in anderen europäischen Ländern wesentlich darauf konzentriert, die Verknüpfung von Alltagsaufgaben in Beruf und Familie zu erleichtern. Es geht darum, den Alltagsstress von Eltern durch eine verbesserte Infrastruktur, die Flexibilisierung von Arbeitszeiten und Notfallangebote zu mindern. Die eigentliche Zeitfalle dieser Elterngeneration ist jedoch in der starren Organisation der beruflichen Lebensläufe zu suchen, die mit den heutigen Anforderungen der Elternschaft und des Berufslebens nicht mehr zusammenpasst.

In diesem System können Eltern nicht reüssieren

In der Industriegesellschaft konnte ein junger Mann davon ausgehen, mit Anfang zwanzig bereits eine Familie mit Kindern versorgen zu können. Heute ist das nicht mehr möglich, weil jüngere Menschen heute – im Gegensatz zur Industriegesellschaft – deutlich weniger verdienen als Ältere. Längere Ausbildungszeiten und unsichere Phasen des Berufseinstiegs, die sich bis weit nach dem dreißigsten Lebensjahr hinziehen können, führen dazu, dass die Entscheidungen für Kinder, Partnerschaft und berufliche Etablierung in einem sehr engen Zeitfenster zu treffen sind – der so genannten Rushhour des Lebens. Gleichzeitig sind die Anforderungen an die Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder deutlich gestiegen. Das zeigt sich unter anderem daran, dass Eltern heute mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen als in den sechziger oder siebziger Jahren.

Im starken Kontrast zu diesen Wandlungsprozessen haben sich die Berufswelt und hier vor allem die beruflichen Karrierewege praktisch überhaupt nicht verändert. Im öffentlichen Dienst wie in der Wirtschaft gibt es fest definierte Karrierestufen, die nicht beliebig zu durchlaufen sind, sondern in der Regel zwischen dem dreißigsten und vierzigsten Lebensjahr absolviert werden müssen. Die Konsequenz: Diejenigen, die sich für Kinder und Fürsorglichkeit entscheiden, haben nur geringe Chancen, in diesem System zu bestehen. In keinem europäischen Land – übrigens unabhängig von der jeweiligen Infrastruktur – liegt die Fürsorgezeit der Mütter für ihre Kinder unter sechs Jahren bei unter 18 Stunden wöchentlich. Hinzu kommen bis zu neun Stunden, die die Väter mit ihren Kindern verbringen. Hausarbeitstage und ähnliches sind dabei nicht mitgerechnet. Diese Zeiten fallen in Schweden genauso an wie in Deutschland oder Frankreich. Sie sind auch nicht beliebig verteilbar, sondern ergeben sich aus den Entwicklungsstufen von Kindern und können nicht einfach geplant werden wie eine berufliche Karriere. Dies erklärt nicht nur die geringe Zahl von weiblichen Führungskräften in den nordeuropäischen Ländern, sondern auch die geringe Zahl von weiblichen Führungskräften im öffentlichen Dienst hierzulande. Größere Differenzen gibt es vermutlich nur im Finanzwesen. Es ist das Ergebnis der vorherrschenden Karrieremuster und des Senioritätsprinzips im öffentlichen Dienst.

Sind die beruflichen Lebensverlaufsmodelle, die den öffentlichen Dienst wie die Wirtschaft prägen, heute noch plausibel? Über diese Frage müssen wir diskutieren, wenn wir die Familienpolitik so gestalten wollen, dass sich Mütter und Väter entsprechend ihrer eigenen Lebensvorstellungen um ihre Familie kümmern oder sich beruflich und gesellschaftlich engagieren können, ohne beruflich diskriminiert zu werden. Wissenschaftlich gesehen sind diese Karrieremuster heute weitgehend „sinnfrei“. Sie wurden zu Zeiten entwickelt, als das Militär mit seinen Erwartungen an körperliche Fitness, Ausbildung und Erfahrung den Maßstab für die Entwicklung der beruflichen Lebensspanne setzte. Heute gibt es aber keinen Grund, warum nicht eine junge Erzieherin nach fünf Berufsjahren drei oder vier Jahre aussetzen sollte, um im Anschluss für drei Jahre zu studieren, etwa um Lehrerin zu werden. Es spricht auch nichts dagegen, dass diese Lehrerin vielleicht mit 45 Jahren noch einmal fünf Jahre studiert, um Pädagogikprofessorin zu werden.

In einem solchen Modell müssten wir akzeptieren, dass Menschen ihren Lebenslauf einschließlich ihrer beruflichen Entwicklung und ihres Renteneintritts individuell gestalten. Solange wir an den historisch-militärischen Vorbildern von Berufskarrieren festhalten, werden Eltern in diesem System nur schwer reüssieren. Dringend notwendig ist eine gesellschaftliche Diskussion darüber, wie solche Individualisierungsprozesse gestaltet und finanziert werden können. Der frühere niederländische Ministerpräsident Wim Kok hat vorgeschlagen, die Rente nicht nur als Leistung am Lebensende beziehen zu können, sondern als Unterstützungsmöglichkeit zu einem früheren Zeitpunkt, wobei jemand, der in jüngeren Jahren davon Gebrauch macht, entsprechend länger arbeiten muss. Das mag sich zunächst utopisch anhören. Wir müssen uns aber fragen, ob die dem Militär nachgebildete Organisation des beruflichen Lebens, die Bismarck in die Sozialversicherung übersetzt hat, heute tatsächlich ein Modell für die Gestaltung eines langen Lebens ist.

Die Schwierigkeiten der jungen Eltern zeigen jedenfalls, dass in diesem rigiden Lebenslauf Fürsorge nur schwer möglich ist. Und eine Familienpolitik, die diesen zentralen Bereich nicht gestaltet, mag viele Einzelmaßnahmen durchsetzen, wird aber darin scheitern, Frauen und Männern eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und die Geburtenrate zu erhöhen.

zurück zur Ausgabe