Mission 30 plus

Die SPD kann 2017 nur dann erfolgreich sein, wenn sie um die soziale Mitte der Gesellschaft kämpft, die heute vielfach progressiv tickt. In Zeiten neuer Ungewissheit wäre »Sicherheit und Chancen« das richtige Motto für die Partei

Die SPD hat bei der Bundestagswahl 2013 nur bei den über 60-jährigen, eher gering gebildeten Männern passabel abgeschnitten. Eine Volkspartei sieht anders aus. Ein auf Verteilungsgerechtigkeit zentriertes Wahlprogramm, der biedere Wahlkampf der Parteizentrale und ein erratischer Kanzlerkandidat haben zu diesem Ergebnis geführt. In der Sprache der Gewerkschaften: Die Partei konzentrierte sich auf Randbelegschaften, während die Union gezielt die Kernbelegschaft adressierte, ohne dabei jedoch den Rand (Stichwort: Mindestlohn) zu vernachlässigen. Über vier Jahrzehnte hinweg schnitt die SPD bei Bundestagswahlen immer dann gut ab, wenn sie auch die lebensweltliche Mitte ansprach: erwerbstätige jüngere Eltern, das linksliberale Bildungsbürgertum, gut integrierte Facharbeiter sowie qualifizierte Aufsteiger mit und ohne Migrationshintergrund. Diese Gruppen wurden letztmalig 2005 zufriedenstellend erreicht.

Von 34 runter auf 25 Prozent – warum?

Seinerzeit erzielte die CDU 35 Prozent, 34 Prozent die SPD. Die Familienpolitik war damals ein attraktives Markenzeichen, die Agenda 2010 verstörte mehr die Partei als ihre Wähler. Der Rückgang der Zustimmungswerte und das Verharren der Partei bei 25 Prozent ist weitgehend einer Verengung der Marke SPD geschuldet. Seit der Bundestagswahl 2013 hat die SPD das, wofür sie ihr schmales Ergebnis erzielt hat, respektabel in die Tat umgesetzt. Abgesehen von der Familienpolitik hat es die Partei allerdings nicht geschafft, ihr politisches Profil glaubhaft zu stärken – obwohl das weltweit geachtete Sozialmodell Deutschland einer Weiterentwicklung bedarf. Eine moderne Ökonomie, eine vitale Sozialpartnerschaft, sichere Arbeitsplätze – das hat die SPD in der Vergangenheit verkörpert, inhaltlich wie personell. Von diesem Bild ­schimmert seit 2005 nur noch gelegentlich etwas durch – derzeit eher in Regionen wie Hamburg als im Bund. Und so ist die CDU trotz fehlender Perspektiven für die Reform der sozialen Marktwirtschaft gerade deshalb so stark, weil ihr die SPD dies ermöglicht.

Mit einer programmatisch erweiterten Aufstellung und einer Kampagne, die ins Zentrum der Gesellschaft zielt, sind bei den Wahlen 2017 für die SPD 30 Prozent und mehr vorstellbar, sagen seriöse Demoskopen. Sie haben dabei Wechselwähler und konjunkturelle Nichtwähler im Blick. Ob die SPD Abgehängte, Politikverdrossene oder an Zuwanderung (Ver-)Zweifelnde erreichen kann, ist ungewiss. In Frankreich wie in Schweden mobilisiert die harte Rechte diese Gruppen überwiegend auf Kosten der dortigen Sozialdemokraten. Strategisch interessante Zuwächse kann die SPD 2017 jedenfalls nur erzielen, wenn sie bisherige Wähler der Union anspricht. Eine erfolgversprechende Grundlage für einen entsprechenden Zuwachs mit Optionen für 2017 ist mit dem Impulspapier Starke Ideen für ein Deutschland 2025 von Sigmar Gabriel gegeben. Sicherheit und Chancen könnte das ebenso zutreffende wie mehrheitsstiftende Motto der Partei werden. Es passt zu den Traditionen und Grundwerten der Partei – und kann mit Projekten gefüllt werden, die an die Leistungen der SPD in der Bundesregierung anknüpfen. Die Doppelbotschaft aus Sicherheit und Chancen würde zugleich den dramatischen Zuspitzungen der Sommermonate 2015 gerecht.

Die Parteilinken, 2014 in Magdeburg unter Beteiligung sozialdemokratischer Bundesprominenz renoviert, wollen hingegen die Koordinaten noch ein Stück nach links verschieben. Damit würde sich die SPD von dem Anspruch verabschieden, Volkspartei zu sein. Die SPD hat zwischen 1963 und 2005 die Defini­tion ihres Markenkerns niemals auf soziale Gerechtigkeit reduziert. Die erfolgreiche Doppelbotschaft nach der Godesberger Neuorientierung lautete stets: Wir modernisieren die Gesellschaft und entwickeln den Sozialstaat angemessen weiter. Adressiert wurden dabei gleichermaßen das fortschrittliche Bürgertum wie die moderne (Industrie-)Arbeiterschaft. Teil der von Willy Brandt schon 25 Jahre vor Gerhard Schröder als „Neue Mitte“ definierten ­Wählerkoalition waren im Übrigen die in der IG Metall oder in der IG BCE organisierten Arbeitnehmer, von denen derzeit (zu) viele die Union bevorzugen.

Wer die Mitte scheut, will nicht gewinnen

Dabei ist die CDU trotz Angela Merkel längst nicht in so überzeugender Verfassung, wie es scheint – gerade auch deshalb, weil die SPD im Koordinatensystem verrutscht ist. Die im Impulspapier der Parteispitze gesetzten Akzente, könnten, sofern sie systematisch weiterentwickelt werden, die Dominanz der Union als 40-plus-Partei tendenziell infrage stellen. Die richtungsweisenden Aussagen des Impulspapiers sollten nicht voreilig verwässert werden. Vielmehr kommt es darauf an, die beschriebenen Fortschrittsziele weiter auszuarbeiten. Was Menschen umtreibt, sind Arbeit, Familie und Bildung. Deshalb müssen Maßnahmen, die Aufstiegs- und Lebenschancen nachhaltig stärken, gefördert werden. Gelingt innerparteilich diese Akzentuierung, wäre eine geeignete Plattform für die offensive Auseinandersetzung mit der Konkurrenz geschaffen.

Was die Wähler allerdings nicht schätzen, ist krawallige Polemik aus Parteizentralen – schon gar nicht zwischen Regierungspartnern. Im Gegenteil: Sie erwarten einen produktiven Wettstreit um die besten Ideen für Deutschlands Zukunft. Zivile Umgangsformen praktizieren die CDU-Chefin und ihr Generalsekretär erfolgreich; die strategische Schwachstelle von Angela ­Merkel und Volker Kauder liegt daher eher in ihrem Unvermögen, Zukunfts­visionen zu entwickeln. Diese Schwäche sollte die SPD ausnutzen.

Tatsächlich scheint es allerdings manchen in der SPD wichtiger zu sein, auf Dauer mental Jusos zu bleiben und vom „ganz Anderen“ zu träumen, als das Land realpolitisch (mit) zu gestalten. Selbst (und gerade) wer perspektivisch Rot-Grün-Rot im Bund anstrebt, müsste die SPD zur Mitte hin öffnen, um eine tragfähige Mehrheit zu erreichen – vor allem, weil die Linkspartei im Bund auf unabsehbare Zeit weiterhin regierungsunfähig sein wird. Wer die Mitte scheut, will nicht gewinnen. Mehr als 80 Prozent der Menschen verstehen sich als Mitte. Mitte heißt nicht Beliebigkeit. Mitte ist auch nicht unanständig, wie es SPD-Linke häufig suggerieren. Besonders die Menschen in der progressiven Mitte sind an gesellschaftlichem Zusammenhalt interessiert, engagieren sich für Flüchtlinge, leben umweltbewusst und partnerschaftlich in ihren Familien.

Es geht um Lebenschancen für alle

Sie alle lassen sich für die Idee begeistern, Lebenschancen für alle zu schaffen. Chancengerechtigkeit darf für sie ruhig auch etwas kosten. Diese Mitte lässt sich mit einem aussagekräftigen Attribut qualifizieren, das Missverständnisse vermeidet. Wer heute nur die „arbeitende“ Mitte anspricht, blendet die Älteren ebenso aus wie wahlfähige Jugendliche, Studierende und Menschen in Elternzeit. Der Begriff soziale Mitte wäre anspruchsvoller und würde zugleich die sozialdemokratischen Grundwerte verkörpern – ein Anspruch, der nicht nur inhaltlich, sondern vom Parteivorsitzenden und einem Team von „Ausstrahlungsfähigen“ auch personell eingelöst werden muss. Das Geld für importierte Strategen aus Amerika, deren Einsichten in der Regel sowieso nicht auf deutsche Verhältnisse übertragbar sind, kann sich die SPD sparen, wenn ihr ­Programm- und Personalangebot vernünftig ausfällt.

Wie die CDU in die Defensive gerät

Letztlich sind es immer einige wenige Themen, die das Bild prägen, das sich die Bevölkerung von einer Partei macht. Das politische Angebot der SPD sollte Ende 2015 in Grundzügen erkennbar und 2016 schrittweise konkretisiert werden. Die politische Landkarte kann sich bis dahin dramatisch verändern – in Deutschland wie in Europa insgesamt. Niemand weiß heute, wie sich Russland weiter verhält, ob Europa beisammen bleibt, wie viele Flüchtlinge kommen. Aus jetziger Sicht bieten sich – stichwortartig beschrieben – vier große Themen an, die Zusammenhalt zwischen Starken und Schwachen stiften:

Erstens: Investitionen in eine sichere Zukunft und deren Finanzierung. Investieren müssen wir nicht nur in Infrastruktur, sondern ebenso in Humanvermögen.

Zweitens: Gesteuerte Zuwanderung und gute Integration durch arbeits-, familien- und bildungspolitische Maßnahmen, von denen unsere Gesellschaft insgesamt profitieren wird.

Drittens: Eine starke Wirtschaft, gute Arbeitsplätze und genügend Fachkräfte – ein Interesse, das vor allem kleine und mittlere Unternehmen mit den Beschäftigten teilen.

Viertens: Wirksame Familienleistungen für die „geforderte Generation“. Die Familienarbeitszeit ist ein beispielhaftes Projekt, das erkennbar fasziniert.

Ein ambitioniertes Ganztagsschulprogramm würde nicht nur alle vier Profilthemen zugleich schmücken, sondern auch Wechselwähler anziehen, die eben nicht zwangsläufig CDU wählen. Flüchtlinge wie Einheimische würden gleichermaßen von solch einem Programm profitieren und das Profil der Partei würde durch diese Akzentsetzung erkennbar gestärkt. Gewerkschaften wie Wirtschaft stünden an der Seite der SPD. Die Union wäre gesellschaftlich in der Defensive. Das entspricht wohl der Strategie von Sigmar Gabriel.

Die SPD braucht kein zweites Zentrum

Die SPD-Linke hat die Vorlage des Impulspapiers als Führungsanspruch des Parteivorsitzenden verstanden und deshalb so brüsk als Rollback kritisiert. Tatsächlich erwartet die Bevölkerung von einem Vorsitzenden Leadership, hinreichende Autorität und den Willen zur Gestaltung. Was der SPD dagegen definitiv schadet, ist ein zweites Zentrum in der Partei mit eigenem Programm und generalstabsmäßiger Kommunikation. Die Mitglieder der SPD und auch einige Weggetauchte in der Parteispitze sollten den tatkräftigen Vorsitzenden nach Kräften unterstützen. Die Wahl 2017 kann schon auf dem Parteitag 2015 gründlich vergeigt werden, wenn Abstimmungsergebnisse den Vorsitzenden demütigen. Der Parteitag kann aber auch den Beginn einer wieder erstarkenden SPD markieren. Mission: possible!

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