Meyer mahnt

"Alle Menschen werden Brüder" - bloß wie? Der Politikwissenschaftler Thomas Meyer will wissen, wie viel Identität Europa braucht

Thomas Meyer, Politikwissenschaftler an der Universität Dortmund und Direktor der politischen Akademie der Friedrich-Ebert-Stiftung, hat den Streit über die EU-Verfassung zum Anlass genommen, einen 233 Seiten langen Essay über die Frage nach der Identität Europas vorzulegen. Es geht um die Botschaft der europäischen Beethoven-Schiller-Hymne: "Alle Menschen werden Brüder" (und Schwestern) - bloß wie? Dem Skeptiker, gleichzeitigen Optimisten des gestaltbaren Fortschritts und ehemaligen Bergmann Meyer ist es gelungen, den Untergrund unter der gelebten europäischen Politikoberfläche tief schürfend zu erkunden.

Das Buch bietet einen Überblick über die politisch-kulturellen Wurzeln und Konflikte der Europäischen Union und ihre ?erweiterten" Perspektiven einer säkularen, demokratischen und pluralistischen, sprich: gemeinsamen politischen Identität. Dabei baut Die Identität Europas auf Meyers früheren Arbeiten über die Geschichte der Zivilisation und ihrer politischen Institutionen sowie über Fundamentalismen als politischer Missbrauch von kulturellen Unterschieden auf. Bereits mit diesen Überlegungen hatte sich der Autor als "Anti-Huntington" profiliert und der These vom angeblich unvermeidlichen Clash of Cultures die Stirn geboten.

So komprimiert und theoretisch anspruchsvoll Meyer das Thema seziert, so sehr fesselt er den Leser zugleich als engagierter Aufklärer gegen die auf rassistischen Vorurteilen aufbauende Propaganda der christlich-konservativen Parteien, die mit dem Mythos vom "Christlichen Abendland" ihre Kreuzzüge gegen den zukünftigen Beitritt der Türkei, für den Gottesbezug in der EU-Verfassung und für "Kopftuchverbote" führen - diesmal nicht mit physischer Gewalt, sondern mit subtilen Kampagnen.

Meyer klärt auch jene auf, die - wie der Rezensent - bisher annahmen, die europäische Aufklärung und Säkularisierung seien wesentlich aus der christlich-humanistischen Kulturgeschichte Europas hervorgegangen. Ohne Ibn Ruschd jedoch, den islamischen Gelehrten des 12 . Jahrhunderts, hätten sich die Ideen des Rechts der Vernunft gegen den Glauben und der Differenz von Wissen und Glauben kaum durchsetzen können. Der Boden für die Aufklärung des 18. Jahrhunderts wäre unbestellt geblieben. Mit Augustinus, dem einflussreichen Gründervater des christlichen Europa, musste man acht Jahrhunderte vorher schließlich "erst glauben, ... um sicher sein zu können, dass es Wissen war, was man erkannt zu haben meinte, und kein falscher Glauben ... Der Gedanke der autonomen Vernunft hat dann, vermutlich wie kein anderer, Europa tatsächlich zutiefst geprägt, während die islamische Zivilisation ihm keinen Raum gab."

Entscheidungen hinter verschlossenen Türen

Kein Zweifel, die Vielfalt Europas ist eine der größten Stärken unseres Kontinents. Nur dumm, dass politische Einheiten, Nationalstaaten und auch die EU, sollen sie funktionieren, einer gemeinsamen Identität ihrer Bürger bedürfen - auch im Unterschied zu anderen. Deshalb heißt die Leitthese, die Meyer in mehreren, manchmal anstrengenden Anläufen begründet: ?In Europa gibt es viele kulturelle Identitäten, die es immer gegeben hat, geben wird. Aber keine, die alle Europäer eint. Eine politische Identität der Bürger Europas hingegen ist nicht nur möglich, sondern für die Legitimation und das Handlungsvermögen der EU auch lebensnotwendig. Sie steht aber noch aus." Vor allem, weil die politischen Konflikte und Entscheidungsprozesse nicht öffentlich und medial vermittelt sind, sondern nach wie vor in Kommission und Ministerrat hinter verschlossenen Türen stattfinden.

Thomas Meyer macht klar, dass wir mit allen Risiken und Chancen einer offenen Entwicklung leben, in der Zivilisation und demokratische Institutionen, Menschenrechte und sozialer Fortschritt ständig verteidigt und weiter entwickelt werden müssen. Und er liefert in seinem Essay viele hilfreiche Hinweise dafür, wie das ausgehend von einem europäischen Modell ohne Monopolanspruch gelingen könnte - auf dass irgendwann eine globale "Freie Assoziation der Freien" Wirklichkeit werden möge. Adorno klingt an, wenn dessen Schüler Meyer dekliniert "warum es, wenn es eine einzige richtige Lehre aus Auschwitz gäbe, die Autonomie der Einzelnen wäre".

Meyer plädiert folgerichtig für ein Europa ohne geografische und kulturelle Grenzen, dessen Erweiterung allein auf der gemeinsamen politischen Identität und der Anerkennung der Verfassung beruhen müsste, aber naturgemäß von politischen Prozessen und Entscheidungen, von Machbarkeit und Handlungsfähigkeit abhängt. Zu den Bausteinen einer Entwicklung gemeinsamer politischer Identität der europäischen Staatsbürgerinnen und -bürger zählt Meyer, neben der unerlässlichen Transparenz der politischen Prozesse, die Demokratisierung der Institutionen, die gemeinsame Zweitsprache Englisch (zu der sich die Mehrheit längst entschlossen hat), die zivilgesellschaftlichen Netzwerke, den Kern des europäischen Sozialstaatsverständnisses und das Massenbewusstsein einer politischen Kultur von öffentlich wirksamen Begründungen und Alltagserfahrungen.

In Ermangelung einer echt-föderalen Struktur, wie sie etwa die Vereinigten Staaten besitzen, muss diese politische Kultur auf gemeinsam geteilten Werten und Zielen beruhen: etwa dem universellen sozialen Schutz der Lebensbedingungen, den universellen Menschenrechten, dem Schutz vor Armut überall in der Welt, der Ausdehnung der Demokratie auf die regionale und lokale Ebene, der Bürgerpartizipation, der Akzeptanz des multiethnischen, multireligiösen und multikulturellen Charakters Europas, dem Schutz historisch wurzelnder Kulturen sowie der Geschlechtergleichheit. Folgerichtig tritt Europa mittels gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik als zivile Friedensmacht und gegen den amerikanischen Unilateralismus auf den "Welt-Plan". Der "Dritte Weg" von Lissabon, die Vorreiterrolle "Kerneuropas" und der Verfassungsprozess sollen diesen "historisch" neuen politischen Weg eröffnen. Europa lernte diesen Weg einer "offenen Identität" nur in seinen Krisen, etwa in Jahrhunderte währenden Religionskriegen, in den massenmörderischen Weltkriegen und den ideologischen Systemkonflikten des vergangenen Jahrhunderts.

Umso mehr, mahnt Meyer, sollten wir die Ge-wohnheit ablegen, Lektionen zu erteilen und Europa der Welt überzustülpen: "Europa taugt nicht als Lehrmeister und auch nur in Grenzen als Beispiel. Es hat auch von anderen zu lernen, und jede Region dieser Welt trägt Verantwortung für eine, im humanen Sinne, positive Globalisierung. "Auch das gehört zu jener politischen Identität der Europäer, deren Erzeugung eine zentrale Zukunftsaufgabe ist: als Handlungsorientierung, als Projekt und sozialer Produktionsprozess. Aber vor allem als "Gemeinsamkeit" des kulturell Unterschiedlichen. Das sei schließlich auch nicht wenig, meint Thomas Meyer an die Adresse aller europäischen Missionare gerichtet, die noch immer an die "eine europäische Kultur" glauben. Wer etwas Substantielles über Europa, seine Geschichte, seine Chancen und Risiken dazu lernen will, dem sei dieser Essay dringend zur konzentrierten Lektüre empfohlen.


Thomas Meyer, Die Identität Europas: Essay, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, 233 Seiten, 10 Euro

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