Mein erster Job



Man braucht kein Protestant zu sein, um es mit der protestantischen Ethik zu halten, sage ich immer zu meinen Studenten, wenn ich in meiner Einführungsvorlesung zur Sozialtheorie bei Weber angekommen bin. Seht mich an, sage ich: Vater Jude, Mutter katholisch, und ich kriege, sobald das Wort Urlaub mit seinem Beigeschmack von sinnloser Zeit- und Geldverschwendung fällt, einen allergischen Ausschlag. Akkumulieren, akkumulieren, das ist meine Devise, ob es nun um Veröffentlichungen, um Karteikarten oder jene bedruckten Scheinchen geht, die dem Überbringer bei Vorlage auf der Bank of England so und soviel Pfund verheißen. Ackern! Streben! Glänzen! Arbeiten um der Arbeit willen. Meine Studenten, die auf ihren Klappsitzen alle viere von sich strecken und gedanklich vor allem mit dem Problem beschäftigt sind, wie sie in diesem Sommer Unterstützung beziehen und nach Griechenland trampen können, bedenken mich durch ihre Bärte und Ponyfransen hindurch mit einem skeptisch-duldsamen Lächeln. In der Hoffnung, wenigstens ein gewisses Maß an Verständnis in ihnen zu wecken, erzähle ich dann manchmal die Geschichte von meinem ersten Job.

Anno dazumal oder genauer gesagt im Sommer 1952 (so beginne ich meine Geschichte) trat ich im Alter von siebzehndreiviertel Jahren meinen ersten Job an. Ich musste mit einem kleinen Wagen auf Waterloo Station Zeitungen und Zeitschriften verkaufen. Es war ein Job auf Zeit, der die wenigen Wochen zwischen meinem Schulabschluss (mit ausgezeichneten Ergebnissen, wie ich wohl kaum zu betonen brauche) und dem Beginn meines Studiums überbrücken sollte. Es ging dabei nicht so sehr ums Geld - für den Wochenlohn von drei Pfund, zehn Schilling und null Pence lohnte es sich kaum (selbst unter Berücksichtigung der späteren Inflationsrate), täglich von Greenwich, wo wir wohnten, in die City zu fahren - als ums Prinzip. Mein Vater, Inhaber eines Schneidereibetriebs mit dreißig Mitarbeitern, hegte einige Zweifel an Sinn und Nutzen eines Studiums und fand es wichtig, dass ich bis dahin zumindest nicht müßig im Haus herumhockte. Er war es denn auch, der die Anzeige im "Evening Standard" entdeckte, den Geschäftsführer anrief und so lange auf ihn einredete, bis er sich bereit fand, mir den Job zu geben. Ich wurde nicht gefragt. Meine Mutter sah sich die Anzeige an. "Geeigneter Schulabgänger", las sie. "Ist er doch", meinte mein Vater.
"Schulabgänger bedeutet einen fünfzehnjährigen Versager aus der Hauptschule", sagte meine Mutter. "Ein ausgesprochener Euphemismus." Meine Mutter war eine sehr gebildete Frau. In den langen Ehejahren mit meinem Vater hatte sich ihrem irischen Humor ein Schuss jüdischer Schärfe zugesellt.
"Macht nichts", gab mein Vater zurück. "Dann merkt er wenigstens mal, wie′s im wirklichen Leben zugeht, ehe er noch mal drei Jahre über alten Schwarten hockt und sich die Augen verdirbt."
"Wenn er seine Augen ein bisschen schonen könnte, wäre das schon gut", bestätigte meine Mutter.


Dieses Gespräch fand in der Küche statt. Ich bekam es mit, weil ich im Esszimmer mit meiner Briefmarkensammlung beschäftigt war (ich hatte gerade den Wert meiner Marken nach dem Stanley-Gibbons-Katalog zusammengezählt und war auf viele tausend Pfund gekommen, hatte allerdings nicht die mindeste Absicht, sie zu verkaufen), und sollte es auch mitbekommen, damit ich später, wenn mir die Frage formell gestellt wurde, eine Antwort parat hatte. Derlei gezielte Indiskretionen erleichterten den reibungslosen Ablauf des Familienlebens ungemein.

Mein Vater kam ins Esszimmer. "Ach, hier bist du", sagte er mit gespielter Überraschung. "Ich habe einen Job für dich."
"Was für einen?" Ich zierte mich noch ein bisschen, war aber entschlossen, ihn anzunehmen.

Am Montagmorgen fand ich mich pünktlich um halb neun am Zeitungskiosk ein, einer großen grünen Insel inmitten der Bahnhofshalle von Waterloo Station. In immer neuen Wellen liefen die Büroangestellten, die mit den Vorortzügen dort eingetroffen waren, wie von Furien gehetzt und nur kurz innehaltend, um sich am Kiosk Zeitungen und Zeitschriften für die nächste Etappe ihrer Fahrt mit U-Bahn oder Bus zu schnappen, durch die Bahnhofshalle. In einem engen, stickigen Büro im Inneren der grünen Insel saß an einem Schreibtisch, der mit Rechnungen überhäuft war und auf dessen Platte unzählige Becher Tee ihre kreisrunden Spuren hinterlassen hatten, Mr. Hoskyns, der Geschäftsführer, ein hibbelig-reizbares Männchen, das offenbar unter den Folgen eines Schlaganfalls oder sonst einer Lähmung litt, denn die rechte Gesichtshälfte war ohne Gefühl; ein goldenes Häkchen, das an einer kleine Kette an seiner Brille hing, hielt den schlaffen Mundwinkel hoch. Aus dem anderen Mundwinkel fragte er mich, was ich einem Kunden herausgeben würde, der mit einer Zehn-Schilling-Note zahlte und drei Posten zu Ninepence, zwei Schilling und Sixpence und einem Penny und Halfpence gekauft hatte. Ich verzichtete auf den Hinweis, dass ich gerade meinen Schulabschluss mit besten Noten in Mathematik und Statistik gemacht hatte, und lieferte die Antwort mit einem Tempo, das ihn zu imponieren schien. Dann ging er mit mir nach draußen, wo zwei junge Burschen lässig an den fahrbahren Zeitungsständen lehnten, grün gestrichenen hölzernen Schubkarren mit hohen, schräg gestellten und mit Fächern versehenen Seitenwänden, in denen die Zeitschriften und Zeitungen steckten.
"Ray! Mitch! Das ist der Neue. Zeigt ihm, wo′s langgeht", sagte Mr. Hoskyns und zog sich in seinen Bau zurück.

Ray war etwa so groß wie ich und mochte ein Jahr jünger sein. Er rauchte eine Zigarette, die ihm verwegen an der Unterlippe klebte und die er hin und wieder ohne Zuhilfenahme der Hände von dem einen in den anderen Mundwinkel beförderte, als wollte er demonstrieren, dass er zumindest in dieser Hinsicht Mr. Hoskyns überlegen war. Die Hände hatte er in den Taschen eines alten Army-Anoraks vergraben, unter den ausgefransten Hosenbeinen sahen schwere Stiefel hervor. Mitch (ich habe nie erfahren, ob es sich dabei um einen Spitznamen oder die Verkürzung seines tatsächlichen Vor- oder Nachnamens handelte) war sehr klein und vom Alter her schlecht zu schätzen. Er hatte ein schmutzig-verschrumpeltes Äffchengesicht und kaute pausenlos an seinen Nägeln. Er trug ein kragenloses Hemd und Sakko und Hose von zwei verschiedenen gestreiften Anzügen, wie sie Jungen aus der Arbeiterklasse oft, dem Beispiel ihrer Väter mit billigeren Mitteln folgend, als Sonntagsstaat trugen; die Jacke war braun, die Hose blau, und beide Stücke waren einigermaßen ramponiert. Die beiden besahen sich meine graue Flanellhose und den Schulblazer, den ich, dem Rat meiner Mutter folgend, hier "abzutragen" gedachte, da ich keine anderweitige Verwendung mehr dafür hatte.
Ray machte als erster den Mund auf. "Was willste denn in so ′nem lausigen Job?"
"Ich mach das bloß einen Monat", sagte ich. "Bis ich mit dem Studium anfange."
"Studium? Oxford und Cambridge? Ruderregatta uns so?" (Man bedenke, dass ein Studium 1952 lange nicht so üblich war wie heute.)
"Nein, ich studiere hier in London, an der London School of Economics."
"Für was?"
"Um einen Abschluss zu machen."
"Und was haste dann davon?"
Ich bemühte mich um eine kurze, einfache Antwort.
"Damit bekommt man später eine bessere Stellung", sagte ich schließlich und verschwieg, dass für mich persönlich die Stellungssuche entfiel, weil mich ein florierender kleiner Betrieb erwartete. Mitch starrte mich nägelkauend an wie ein Urwald-Pygmäe, vor dem überraschend ein weißer Forscher aufgetaucht ist.

Mr. Hoskyns steckte erbost den Kopf zur Tür heraus. "Was hab ich gesagt? Ihr sollt ihm zeigen, wo′s langgeht!" Das war schnell getan. Man packte sich den Wagen voll und schob ihn an den Bahnsteig, wo die Züge zur Abfahrt bereitstanden. Auf den Bahnsteigen selbst gab es damals keine Zeitungsstände, unser Service war für Reisende gedacht, die die Sperre passiert hatten, ohne sich mit Lesestoff zu versorgen. Das beste Geschäft verhießen die Bootszüge, die nach Southampton zu den Überseedampfern seligen Angedenkens fuhren. Da gab es immer etliche Amerikaner, die froh waren, wenn sie das schwergewichtige britische Kleingeld los wurden. Ähnlich erfolgversprechend waren die D-Züge in die Urlaubsorte und Provinzstädte des Südwestens, besonders die nur aus Salon- und Schlafwagen bestehende "Bournemouth Belle", wo an jedem der gardinengeschmückten Zugfenster eine Tischlampe mit rosa Schirm stand. Bei der Masse der Pendler, die sich am Spätnachmittag und frühen Abend in eben jene schmuddeligen Wagen zwängten, die sie morgens ausgespuckt hatten, wurden wir meist nur Zeitungen los. Unsere Aufgabe war es, die Ware auf den Bahnsteigen an den Mann oder die Frau zu bringen. Ging unser Vorrat zur Neige, fuhren wir zurück zum Kiosk, um Nachschub zu holen. Hinter dem Ladentisch stand Brenda, eine nette junge Frau mit kunstvoll dauergewelltem Haar, die uns aushändigte, was wir anforderten, und die Menge notierte.


Ich hatte gegen meinen Job nichts einzuwenden. Bahnhöfe sind soziologisch gesehen hochinteressant. Die subtilen Abstufungen des britischen Klassensystems offenbaren sich dort in beispielloser Fülle und Vielfältigkeit. Man bekommt alle nur vorstellbaren Typen zu Gesicht und hat die Möglichkeit, Menschen in den emotionsgeladensten Situationen zu belauschen: Ehe- und Liebespaare bei Trennung und Wiedersehen, Soldaten, die ausziehen, um in fernen Kriegen zu kämpfen, Familien, die sich aufmachen, um ein neues Leben in den Dominions anzufangen, Flitterpärchen, die aufbrechen, um ... ja, um das zu machen, was man in den Flitterwochen eben macht. Ich hatte, was das betrifft, nur recht nebelhafte Vorstellungen, da ich wegen des Büffelns für die Abschlussprüfung kaum Zeit gehabt hatte, an Sex zu denken, geschweige denn ihn zu praktizieren - nicht mal im stillen Kämmerlein. Als Ray mir an meinem zweiten Tag sagte, ich sollte auch ein paar Stück von der "Wichser-Wochenpost" mitnehmen, ging ich ahnungslos zu Brenda, um mir besagtes Druckerzeugnis aushändigen zu lassen. Das Wort war mir neu. Vor der damit beschriebenen Tätigkeit hatte mein Vater mich nachdrücklich gewarnt, als er mich mit vierzehn aufgeklärt hatte. (Auch dieses Gespräch galt vorgeblich meiner Mutter, während ich im Esszimmer lange Ohren machte. "Ich habe als junger Mann nie meine Kraft vergeudet, du weißt schon, was ich meine", verkündete mein Vater mit Stentorstimme, "sondern für die richtige Zeit und den richtigen Ort aufgespart." -"Das will ich meinen", bekräftigte meine Mutter.) Brenda wurde knallrot und beschwerte sich bei Mr. Hoskyns, der mit einer unbewegten und einer wutverzerrten Gesichtshälfte aus seinem Büro gestürmt kam.

Was fällt dir ein, Brenda so zu beleidigen? Entweder du lässt die dreckigen Witze, oder du fliegst in hohem Bogen raus!" Inzwischen hatte er offenbar gemerkt, dass meine Ratlosigkeit echt war, und trat auf die Bremse. "Dazu hat dich wohl Ray angestiftet, was?" Er lachte leise in sich hinein, seine Schultern bebten, und das Goldkettchen klirrte leise. "Na gut, den kauf ich mir schon noch. Sieh zu, dass er dich nicht noch mal so reinlegt." Auf der anderen Seite der Bahnhofshalle standen Ray und Mitch an der Sprechenden Personenwaage, grinsten sich eins, knufften einander in die Rippen und schlugen sich auf die Schultern vor Vergnügen. "Übrigens", bemerkte Mr. Hoskyns noch im Gehen, "Licht und Schönheit verkaufen wir nicht am Wagen." (Licht und Schönheit war, wie ich an dieser Stelle der heutigen Jugend erklären muss, eine der wenigen damals offen verkäuflichen Publikationen, in denen man Fotos nackter Weiblichkeit sehen konnte - geschmackvoll zwischen Sand und Dünen verteilt oder in strategisch günstiger Stellung bunte Bälle haltend.)

Abends lieferten wir unser Geld bei Mr. Hoskyns ab, der es in sein Kassenbuch eintrug. Am ersten Tag hatte ich £3 15s 6d eingenommen, Mitch £5 7s 8d und Ray £7 0s 5d. Dass ich das Schlusslicht bildete, war nicht weiter verwunderlich, denn die beiden wussten aus Erfahrung, wo und wann die Züge abfuhren, bei denen wir die besten Absatzchancen hatten. Am Freitag, dem einträglichsten Tag der Woche, hatte ich mit £8 19s 6d Mitch mit seinen £9 1s 6d fast eingeholt, während Ray die stolze Bilanz von £10 15s 9d ziehen konnte.

"Was ist der Höchstbetrag, den ihr an einem Tag eingenommen habt?" fragte ich, als wir uns abends den heimwärts strömenden Massen anschlossen. Dass diese Hauptschülertypen mehr Geld machten als ich, ärgerte mich gewaltig und brachte mich viel mehr gegen sie auf als die Sache mit dem Nackedei-Magazin.

"Ray hat mal an ′nem Freitag elf Pfund, neunzehn Shilling und Sixpence gemacht", sagte Mitch. "Das war bisher einsame Spitze."

Ein Satz, so verhängnisvoll wie Schnapsdünste für einen Alkoholiker. Aus dem Job war unversehens ein Wettkampf geworden, wie in der Schule, wie in Prüfungen, nur dass die Leistung hier in Pfund, Shilling und Pence und nicht in Punkten und Zensuren bemessen wurde. Ich nahm mir vor, am nächsten Freitag Rays Rekord zu brechen. Noch heute sehe ich den Ausdruck fassungslosen Entsetzens auf dem Gesicht von Ray und Mitch, als Mr. Hoskyns meine Tageseinnahme bekanntgab.
"Genau zwölf Pfund. Gut gemacht, Junge. Ich glaube so viel hat noch keiner geschafft."

Am nächsten Tag, dem Samstag, sah ich, dass Ray eifrig die lange Schlange der Urlauber abklapperte, die sich vor der Sperre zu den Sonderzügen an die See gebildet hatte, und dort abkassierte, noch ehe sie auf den Bahnsteig kamen, wo Mitch und ich mit unseren Wagen warteten. Abends stellte sich dann heraus, dass Ray £12 7s 8d eingenommen hatte und damit einen neuen, für einen Samstag besonders beachtlichen Rekord erzielt hatte.


Und plötzlich war ein erbitterter Wettbewerb zwischen uns entbrannt. Dabei ging es nicht um Geld, denn wir bekamen keine Provision - im Gegensatz zu Mr. Hoskyns, der begreiflicherweise über unsere täglich und wöchentlich steigenden Einnahmen hoch erfreut war. Wenn er uns am späten Nachmittag anrollen hörte, kam er aus seinem Bau und begrüßte uns mit einem schiefen Lächeln. Dabei blitzte das Goldkettchen in der blassen Sonne, die schräg durch das schmutzige Glas des Bahnhofsdachs fiel. Der alte Rekord von £11 19s 6d war als eine Summe, die wir alle drei mühelos an einem regnerischen Montag oder Dienstag erzielten, bald nicht mehr der Rede wert. An diesem Freitag, meinem dritten in diesem Job, nahmen wir zusammen brutto über fünfzig Pfund ein. Rays Gesicht war blass und angespannt, als Mr. Hoskyns die Summe bekannt gab, und Mitch kaute an den Fingernägeln wie ein Kannibale, den der Hunger nötigt, sich selbst zu zerfleischen. Mitch hatte £14 10s 3d, Ray £18 4s 9d und ich £19 1s 3d eingenommen.

Dann kam meine letzte Woche. Ray und Mitch, die das natürlich wussten, wetteiferten erbittert, meine Einnahmen zu übertreffen, und ich nahm die Herausforderung freudig an. Wir rollten im Laufschritt von Bahnsteig zu Bahnsteig, von einem abfahrenden Zug zum nächsten. Wir fahndeten in den Bootszügen nach Amerikanern, die einen betuchten Eindruck machten, und drückten uns in ihre Nähe mit unseren teuersten Zeitschriften, "Vogue" und "Harper′s Bazaar", herum, die eine halbe Krone kosteten. Wir bekamen einen Blick für den Typ des jungen Mannes in der "Bournemouth Belle", der seiner Freundin imponieren wollte und großzügig Geld für Zeitschriften hinblätterte, die sie bestimmt beide nicht lasen. Wir dekorierten unser Angebot mehrmals am Tag neu, um es der wechselnden Kundschaft anzupassen. Wir machten nicht mehr so lange Mittag und erledigten unsere Teepausen im Gehen auf dem Bahnsteig. Es kam zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Ray und mir. Manchmal lag er um ein paar Shilling vorn, manchmal ich. Aber das entscheidende Match fand am Freitag statt, der mein letzter Arbeitstag war, weil ich dank geleisteter Überstunden den Samstag frei bekam. Wir wussten beide, dass an diesem Freitag ein neuer Rekord ins Haus stand, ja, dass sich möglicherweise die magische Zwanzig-Pfund-Grenze - die Vierminutemeile unserer Welt - an einem einzigen Tag erreichen ließ.

Bedenkenlos rasten wir mit unseren Wagen durch die Halle, um uns die günstigste Position an den Erster-Klasse-Wagen der D-Züge zu sichern; neidisch musterte einer die abnehmenden Vorräte der anderen. Wie arabische Straßenhändler belästigten wir verblüffte Reisende und versuchten, ihnen unsere Waren aufzuhängen, störten rücksichtslos tränenreiche Familienszenen oder klopften an die Scheibe von Abteilen, in denen man sich schon zu einem behaglichen Schläfchen zurechtgesetzt hatte, dass es nur so schepperte. Einmal sah ich sogar Ray an einem anfahrenden Zug entlang rennen, weil er unbedingt noch ein "House and Garden" an den Mann bringen wollte. Am Abend hatte Mitch £15 8s 6d eingenommen, Ray £20 1s 9d und ich selbst £21 2s 6d. Ray wandte sich bleich und verbittert ab und zertrat die Zigarette, die er geraucht hatte. Mitch fluchte leise und kaute sich die geschundenen Fingerspitzen blutig. Plötzlich taten mir die beiden leid. Vor mir lag eine Zukunft, die so rosig leuchtete wie die Tischlämpchen der "Bournemouth Belle". Ich hatte die berechtigte Hoffnung, mich in einigen Jahren selbst zum Essen auf den dicken Pullman-Polstern niederlassen zu können. Damals wusste ich natürlich noch nicht, dass ich in Kürze mit dem Bootszug zur Queen Mary und zu einem Stipendiatenstudium in die USA starten würde, aber eine Ahnung, dass ich zu Höherem berufen war, hatte ich wohl schon in diesem Moment. Ray und Mitch dagegen würden weiter mit ihren Wagen von Bahnsteig zu Bahnsteig rollen, allenfalls zu einem Job hinter dem Ladentisch aufsteigen oder sich - was wahrscheinlicher war - in der Masse der Gepäckträger oder Putzkolonnen verlieren. Ich bereute jetzt, dass ich den Wettkampf gewonnen hatte und ihnen nicht die kleine Genugtuung verschafft hatte, mich zumindest in diesem Punkt zu besiegen. Doch das Schlimmste sollte noch kommen.

Mr. Hoskyns blätterte mir drei Pfundnoten und eine Zehn-Shilling-Note hin. "Gut gemacht, Junge", sagte er. "Der Absatz an den Wagen ist enorm hochgegangen. Du hast den beiden faulen Säcken da beigebracht, wie man arbeitet." Er wandte sich an Ray und Mitch. "Dass ihr euch weiter am Riemen reißt, ist das klar? Wenn ihr von jetzt ab nicht jeden Freitag solche Summen abliefert, will ich wissen, warum."


Am nächsten Tag belauschte ich ein Gespräch der Eltern in der Küche. "Er ist so still", sagte meine Mutter. "Ob er sich verliebt hat?" Mein Vater schnaubte verächtlich. "Verliebt? Verstopft wird er sein, das ist alles!" - "Als er gestern von der Arbeit kam, war er richtig bedrückt", sagte meine Mutter. "Fast, als hätte es ihm leid getan, dort aufzuhören." - "Wahrscheinlich sind ihm Zweifel gekommen, ob das mit dem Studium wirklich eine so gute Idee ist", meinte mein Vater. "Von mir aus kann er auch gleich hier im Geschäft anfangen."
Ich stürzte in die Küche. "Ich will euch sagen, warum ich so still bin", stieß ich hervor.
"Man belauscht nicht die Privatgespräche anderer Leute", sagte meine Mutter.
"Weil ich erlebt habe, wie der Kapitalismus die Arbeiter ausbeutet. Wie er die Menschen gegeneinander aufbringt, sie in einen mörderischen Wettbewerb treibt und dann den Gewinn selber einstreicht. Damit will ich nichts mehr zu tun haben."

Mein Vater sank stöhnend auf einen Küchenstuhl und schlug die Hände vors Gesicht. "Ich hab′s gewusst. So musste es früher oder später kommen. Mein einziger Sohn, für den ich mich mein ganzes Leben lang abgerackert habe, kriegt einen Rappel. Gott der Gerechte, womit hab ich das verdient?"

So kam ich zur Soziologie. Mein erster Job war auch mein letzter. (Bücher zu lesen und vor interessierten Zuhörern darüber zu sprechen, ist in meinen Augen kein Job, ich würde noch Geld dafür hinblättern, wenn ich es nicht bezahlt bekäme.) Wie man sieht, bin ich nicht Geschäftsmann geworden, sondern an die Hochschule gegangen, wo man mit der protestantischen Ethik unter seinen Mitmenschen nicht ganz so viel Unheil anrichten kann. Noch immer aber verfolgen mich die Gesichter von Ray und Mitch an jenem letzten Tag, als ihnen langsam dämmerte, dass sie nun, ohne auch nur den mindesten persönlichen Vorteil davon zu haben, in alle Ewigkeit auf dieses mörderische Arbeitstempo, diese erstaunlichen Absatzahlen festgelegt waren, wenn sie sich nicht ständig Genörgel und Geschimpfe anhören wollten. Und das alles meinetwegen.

Nach diesem Exkurs über Weber mache ich
gewöhnlich wieder mit Marx und Engels
weiter.

Aus: David Lodge, Sommergeschichten - Wintermärchen, Haffmans Verlag, Zürich 1996

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