Mehr moralischer Realismus!

Welche Gesichtspunkte eine prinzipiengeleitete europäische Asylpolitik beachten sollte, um Leben zu retten und gleichzeitig Grenzen zu schützen

Kann es eine menschliche, realisierbare und mehrheitsfähige europäische Grenz- und Asylpolitik geben? Ist es möglich, das Versprechen der Flüchtlingskonvention aufrechtzuerhalten und Schutzsuchende nicht ohne Prüfung in mögliche Gefahren zurückzuschicken? Zu erklären, die EU habe ein Interesse an der Aufrechterhaltung dieser Konvention und des Grundrechts auf Asyl, ist noch keine Politik. Es ist auch keine Strategie, um Wahlsiege der Abschottungsbefürworter zu verhindern. Letztlich werden auch nicht Gerichte über die europäische Asylpolitik entscheiden, sondern Wähler. Und Deutschland, als wichtigstes Zielland vieler Flüchtlinge in Europa, ist überdies von den Entscheidungen anderer europäischer Staaten wie Italien, Griechenland, Ungarn oder Österreich abhängig. Deutsche Vorschläge zur Flüchtlingspolitik, die nicht auch andere Europäer überzeugen, sind daher ebenfalls nicht zielführend.

Keine Zurückweisung! Kein Nauru!

Eine überzeugende europäische Asyldebatte muss auf moralischem Realismus aufbauen. Die folgenden vier Grundsätze, basierend auf dem aktuellen Recht, sollten dabei berücksichtigt werden:

Erstens: Keine Zurückweisung! Keine Abschiebung aus Europa an Orte außerhalb der EU ohne ein glaubwürdiges Verfahren – das ist der Kern der Flüchtlingskonvention. Es ist die Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg, als es auch in Europa Tausende solcher Abschiebungen gab (etwa aus der Schweiz nach Nazi-Deutschland oder auch nach dem Krieg in die Sowjetunion).

Zweitens: Kein Nauru! Keine Abschreckung von Asylbewerbern durch schlechte Behandlung, wie dies auf der Pazifikinsel Nauru geschieht, die Australien seit dem Jahr 2000 für die Bearbeitung von Asylanträgen jener Menschen nutzt, die per Boot kommen. Unbegrenzte Haft für Antragsteller, jahrelange Asylverfahren sowie geschlossene Aufnahmelager, die grundlegenden Standards nicht entsprechen, stehen alle im Widerspruch zu diesem Prinzip.

Drittens: Keine Toten im Meer! Keine Abschreckung durch die Einschränkung von Rettungsoperationen. Aber auch kein Ignorieren der Tatsache, dass Kriminelle, die Fliehende teilweise unter Gewaltandrohung in seeuntüchtige Boote stecken, die Hauptschuld an Tausenden von Toten tragen. Man muss Leben retten und gleichzeitig diese Kriminalität bekämpfen.

Wie die Rückführung gelingen kann

Viertens: Keine Festung Europa! Es ist ein legitimes Ziel, irreguläre Zuwanderung zu beschränken, aber auch hier gilt: Nicht jedes legitime Ziel rechtfertigt alle Mittel. So wie die EU-Außengrenze nicht vermint werden darf, so darf es auch keine tödlichen Zäune geben, um sich von anderen Regionen abzuschotten. Und die EU sollte auch weiterhin einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Folgen von Flucht in der Welt leisten.

Dies wäre eine vermittelbare Politik. Doch lassen sich die vier Prinzipien auch in überprüfbare Ziele und Zahlen übersetzen? Ja, wenn man die Erfahrungen der vergangenen Jahre zum Vergleich nimmt. 2013 wurde in der EU 132 000 Menschen Schutz gewährt, 2015 waren es 308 000. Kann es eine Politik geben, die auch in Zukunft jedes Jahr 300 000 Flüchtlingen Schutz bietet, diese aber nicht dazu zwingt, sich zunächst auf lebensbedrohliche Reisen zu begeben? Wenn Deutschland gemeinsam mit anderen EU-Staaten jährlich 400 000 Menschen Schutz bieten würde, wäre dies ein moralischer Fortschritt. Eine Zielsetzung von 200 000 Flüchtlingen nur für Deutschland wäre hier kein Hindernis. Aber wäre eine solche Politik mehrheitsfähig?

Als eine zentrale Voraussetzung müsste es der EU gelingen, die Zahl jener Menschen zu reduzieren, die irregulär kommen und trotz Asylantrag keinen Schutz erhalten. Der beste Weg dazu wären schnelle, faire Verfahren und eine grundlegende Reform der Institutionen für Abschiebungen (mit klaren Standards und Einzelfallprüfung). Es geht darum, mit möglichst wenigen Abschiebungen möglichst viel irreguläre Migration zu unterbinden. Dafür müsste die europäische Politik an folgenden Drehschrauben ansetzen:

Erstens bei der Rückführung all jener, die irregulär kommen und keinen Schutz benötigen. Die EU kann ihre Grenzen am besten schützen, wenn Ankommende wissen, dass sie ohne wirkliche Asylgründe keine Chance auf ein Bleiberecht haben. Keinem EU-Land gelingt bisher jedoch in nennenswertem Umfang die Abschiebung von Wirtschaftsflüchtlingen, die als Asylbewerber abgelehnt wurden.

Um die Migrationsroute durchs zentrale Mittelmeer kontrollierbar zu machen, braucht die EU vor allem die Kooperation der Herkunftsländer. Die meisten Migranten, die seit 2013 in Italien ankommen, stammen aus Westafrika, also aus Nigeria, Senegal, Elfenbeinküste oder Gambia. Ihre Asylgesuche werden meist abgelehnt, trotzdem bleiben sie in der EU. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, braucht man Abkommen mit den Herkunftsländern, denen man dafür etwas anbieten müsste. Im Gegenzug würden sie nach einem vereinbarten Stichtag alle ihre Bürger zurücknehmen, die in Europa keinen Flüchtlingsschutz erhalten haben. Das stünde im Einklang mit dem Asylrecht und würde die Nachfrage unter potenziellen Migranten nach Europa deutlich reduzieren.

Vorbild könnte das Abkommen zwischen den USA und Kuba sein. Als in den neunziger Jahren Zehntausende Kubaner mit Booten nach Florida kamen, verhandelten die Amerikaner trotz fehlender diplomatischer Beziehungen mit der kubanischen Regierung. Kuba erklärte sich bereit, alle Bürger zurückzunehmen, im Gegenzug wurde einer begrenzten Zahl von Kubanern geregelter Zugang in die USA angeboten. Die EU weiß, wie solche Anreize aussehen könnten. Auf dem Malta-Gipfel im Herbst 2015 wurden sie definiert, und afrikanischen Staaten stellte man legale Zugangsmöglichkeiten nach Europa in Aussicht. Dies können Arbeits-, Studenten- oder Ausbildungsvisa für einige Tausend Menschen pro Jahr sein, die man Nigeria, Senegal oder Gambia anbieten müsste. Auf diese Weise würden bislang vage formulierte, aber von der EU immer wieder vorgetragene Versprechen gegenüber afrikanischen Ländern eingelöst.

Warum schnelle Verfahren wichtig sind

Ohne Anreize wird es keine Rückführungen geben und das Sterben im Mittelmeer wird weitergehen. Ein „Marshallplan für Afrika“, wie er auch in Deutschland diskutiert wird, wird nicht dazu beitragen, dass sich weniger Menschen auf den Weg nach Europa machen. Überdies ist die Verquickung von Entwicklungshilfe und Flüchtlingspolitik problematisch: Die einen hoffen, dass aufgrund von Wirtschaftswachstum automatisch weniger Leute kommen; die anderen wollen Entwicklungshilfe als Druckmittel verwenden, um Herkunftsländer zur Rücknahme ihrer Bürger zu bewegen. Beides wird nicht funktionieren. Aus Nigeria machen sich viele Menschen auf den Weg, obwohl das Pro-Kopf-Einkommen dort höher ist als in vielen anderen Ländern Afrikas.

Sinnvoll wäre hingegen mehr humanitäre Hilfe für Binnenflüchtlinge. Vorbild könnte das EU-Türkei-Abkommen sein, in dessen Rahmen die Türkei Hilfe bei der Versorgung und Integration von drei Millionen Syrern erhält. Es muss in Verhandlungen mit Herkunftsländern darum gehen, eine schnell wirksame Einigung zu erreichen. Realismus bedeutet anzuerkennen, dass die EU rechtliche und moralische Standards befolgen muss, gleichzeitig aber dringend den Anreiz für westafrikanische Migranten verringern sollte, Schlepper zu bezahlen. Es geht darum tatsächlich „sichere und legale Wege“ zu schaffen und gleichzeitig irreguläre Migration einzuschränken.

Zweitens sollte dringend die Beschleunigung von Asylverfahren als gesamteuropäisches Ziel diskutiert werden, besonders für die Brennpunkte an der EU-Außengrenze. Binnen weniger Wochen sollten in Italien und Griechenland ankommende Asylsuchende nach einem fairen und transparenten Verfahren wissen, woran sie sind. Die Niederländer machen vor, wie man schnelle Asylverfahren mit Qualitätssicherheit und Rechtshilfe verbindet.

Was wird aus den Zurückgeschickten?

Drittens braucht die EU eine ernsthafte Debatte darüber, wann ein Land als sicherer Drittstaat gilt. Um etwa jemanden aus Griechenland in die Türkei als Drittstaat zurückschicken zu können, brauchte es einen Kontrollmechanismus, der überprüft, was mit den Zurückgeschickten dort passiert. Die EU sollte sich hier an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte orientieren, der detailliert festgelegt hat, unter welchen Umständen es erlaubt ist, Menschen im Rahmen des Dublin-Abkommens in andere EU-Staaten zurückzuschicken. Ein solcher Mechanismus müsste auch in der Ägäis so schnell wie möglich geschaffen werden. Damit wären klare Standards für die Zukunft festgelegt, unter welchen Umständen die sichere Drittstaatenregelung anwendbar ist.

Viertens bedarf es einer ehrgeizigen Politik zur Umsiedlung von Flüchtlingen nach Europa. Diese ist im EU-Türkei-Abkommen vorgesehen, wird aber nur zögernd umgesetzt. Eine solche Umsiedlung kann in Zusammenarbeit mit dem UNHCR oder bilateral passieren. Realismus bedeutet hier, dass es größere Umsiedlungen von Flüchtlingen nach Europa wohl nur im Gleichschritt mit der Kontrolle irregulärer Migration geben kann. Darüber sollten auch in Zukunft die einzelnen Mitgliedsstaaten für sich entscheiden; die EU sollte diese Umsiedlungen aus dem gemeinsamen Budget finanzieren.

Die politische Herausforderung besteht darin, mit diesen Maßnahmen das europäische Asyl- und Schutzrecht zu bewahren und dennoch die Kontrolle über die Außengrenze im Mittelmeer herzustellen. In den meisten europäischen Demokratien gibt es weiterhin öffentliche Unterstützung für die Aufnahme Schutzbedürftiger. Allerdings gibt es in den meisten Ländern auch Mehrheiten, die bei der hypothetischen Entscheidung zwischen offenen Grenzen und Abschottung Letzteres wählen würden. Flüchtlingshilfe- und Menschenrechtsgruppen müssten sich mit den europäischen Innen- und Justizministern an einen Tisch setzen. Die Abschreckung von nicht Schutzbedürftigen ist dabei nicht nur eine Antwort auf die legitimen Erwartungen europäischer Wähler. Sie ist auch eine lebensrettende Alternative zur Untätigkeit oder zur Politik der allgemeinen Zurückweisung.

Moralischer Realismus bedeutet darüber hinaus folgende Tatsachen anzuerkennen:

Erstens gibt es eine klare Korrelation zwischen der Zahl der Menschen, die in Boote steigen, und der Anzahl jener, die ertrinken. Menschenrechtsorganisationen misstrauen diesem Argument. Doch die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen eindeutig: Wer die hohe Zahl von Ertrinkenden senken will, muss Wege dafür finden, dass weniger Menschen versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Im Jahr 2016 hat nicht der Einsatz von mehr Rettungsbooten als je zuvor zu weniger Opfern geführt. Es war der dramatische Rückgang von ankommenden Booten in der Ägäis nach dem EU-Türkei-Deal, der es den Nichtregierungsorganisationen erlaubte, ihren Rettungseinsatz zu beenden. Die eigentliche Frage ist daher nicht, ob Leben gerettet werden, wenn weniger Boote unterwegs sind, sondern mit welchen Mitteln und Nebenwirkungen Menschen davon abgehalten werden, überhaupt in Boote zu steigen.

Prinzipienlose Politik darf nicht sein

Zweitens fällt es allen europäischen Staaten schwer, selbst diejenigen in ihre Heimatländer zurückzuschicken, die nach Prüfung eines Asylantrags keinen Schutzstatus erhalten. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Asylverfahren dauern in den meisten europäischen Ländern sehr lange. Je mehr Zeit aber vergeht, desto schwieriger wird es, Menschen zurückzuschicken. Vor allem aber ist es unmöglich, Menschen in bedeutender Zahl zurückzuschicken, wenn die Herkunftsstaaten nicht kooperationsbereit sind.

Drittens suchen die Europäer die Zusammenarbeit letztlich mit allen Mittelmeer-Anrainern, ob Marokko, Türkei oder Libyen. Kritiker verurteilen diese Versuche als „schmutzige Deals“ oder „Externalisierung“, schlagen aber keine Alternativen vor, wie die Zahl irregulär Ankommender sonst reduziert werden könnte. Damit verlieren sie jeden Einfluss auf die Asylpolitikdebatte in europäischen Parlamenten. Eine ähnliche Entwicklung gab es schon in Australien, wo unterschiedliche Regierungen trotz heftiger Kritik seit vielen Jahren daran festhalten, auf Booten ankommende Flüchtlinge unter zum Teil unmenschlichen Bedingungen viele Jahre auf Pazifik-Inseln festzusetzen.

In der EU brauchen wir eine Koalition von Staaten die sich einem prinzipiengeleiteten moralischen Realismus verpflichtet sehen. Die Alternative ist eine prinzipienlose Politik, an deren Ende mehr Menschen leiden und sterben. Das zu verhindern und andere davon zu überzeugen, wäre ein wichtiges Ziel auch deutscher Politik.

zurück zur Person