Links und frei - weil es immer um Menschen geht

Zu viel Freiheit - zu wenig Staat" hat Wolfgang Thierse in den Impulsen des Netzwerks entdeckt. Hinter dieser Kritik verbirgt sich ein erstaunlich reduzierter Begriff von Freiheit - und ein gescheitertes Konzept sozialdemokratischer Politik

In der vorigen Ausgabe der Berliner Republik unterzog Wolfgang Thierse die Impulse ür ein neues SPD-Grundsatzprogramm der im Berliner Netzwerk zusammengeschlossenen jüngeren SPD-Politikerinnen und Politiker einer Kritik. Zugleich wurde fast so etwas wie ein "Gegenentwurf" unter dem Titel Akzente für ein neues SPD-Grundsatzprogramm veröffentlicht. Mitautor: Wolfgang Thierse.

Sechzig Mal Freiheit und Chancen auf vierzig Seiten hat Wolfgang Thierse in den Impulsen für ein neues SPD-Grundsatzprogramm des Netzwerks Berlin nachgezählt. Das war ihm dann doch zu viel - und deshalb zu dürftig. Nun ist Mathematik gewiss eine Geisteswissenschaft, aber scheinbar führt das fleißige Addieren von Worten nicht zwangsläufig dazu, dass dabei ein Begriff vom Inhalt entsteht. Adam Riese war eben ein Rechenmeister und kein Philosoph. Und Wolfgang Thierse? Bisher jedenfalls kein Erbsenzähler, und deshalb lohnt die Auseinandersetzung mit ihm und den von ihm mit verfassten Akzenten eines neuen Grundsatzprogramms der SPD.

Der von Wolfgang Thierse und seinen Mitautoren gewählte Begriff Akzente für die eigenen programmatischen Beiträge könnte den Eindruck erwecken, als hielten die Autoren in einem neuen SPD-Grundsatzprogramm andere Blickwinkel und Akzentuierungen für notwendig. (Wozu bräuchte die SPD sonst wohl ein neues Programm?) Offenbar ist das ein Missverständnis, denn die erste "Fundamentalkritik" richtet sich gegen eine Akzentverschiebung, die der Netzwerk-Entwurf tatsächlich vorgenommen hat. Die Impulse sollten nämlich Akzente setzen.

Wolfgang Thierse schreibt dazu: "Allerdings ist mit dem Ansatz beim Menschen schlechthin auch eine folgenreiche Akzentverschiebung verbunden. Aus der Perspektive des Individuums rückt unvermeidlich die Idee der Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung ins Zentrum des Freiheitsverständnisses." Dies, so Wolfgang Thierse, verkürze den Freiheitsbegriff auf das Individuum und vergesse die durch den demokratischen Staat garantierte gesellschaftliche Freiheit.

Die Vorurteile der Generation 60 plus

Nun gehört Wolfgang Thierse nicht zur westdeutschen Generation der Achtundsechziger, wohl aber fast alle anderen Mitautoren seines Akzente-Papiers. Da klingt es schon etwas putzig, wenn ausgerechnet vor diesem biografischen Hintergrund ein Widerspruch von staatlich garantierter Freiheit der ganzen Gesellschaft zur Freiheit für die Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung konstruiert wird. Mal ganz abgesehen davon, dass es doch gerade die Achtundsechziger-Generation war, die Selbstbestimmung und Entfaltung der Persönlichkeit zum Credo im Kampf gegen die formierte Gesellschaft gemacht hatte; gibt es in der deutschen Linken wirklich inzwischen so wenig Fähigkeit zur Dialektik?

Wolfgang Thierse bleibt weit unter seinen Möglichkeiten, wenn er verkürzt: "Freiheit, gedacht vom Standpunkt des Einzelnen, verschiebt die Betonung vom Freisein auf den Freiraum, von der Freiheit der Verfassung als einer Freiheit der Gesellschaft zur Freiheit als Wahlfreiheit." Etwas mehr Rollendistanz zu dem engagiert gepflegten Vorurteil der Präsidiumsgeneration 60 plus gegenüber den angeblich so neoliberalen Netzwerkern sollte doch möglich sein.

Freiheit ist mehr als "Freiheit von"

Freiheit ist schließlich in der Geschichte der Arbeiterbewegung immer schon mehr als die "Freiheit von" gewesen. Die Befreiung von Unterdrückung, Gewalt, Diktatur und auch die Freiheit von Hunger, Not, Armut oder Arbeitslosigkeit haben für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten seit 140 Jahren natürlich kein anderes Ziel als die "Freiheit zu". Gerade die Linke sollte sich doch erinnern: Das Reich der Freiheit beginnt dort, wo das Reich der Notwendigkeit endet. Dass diese Freiheit ihre Grenzen im Freiheitsraum aller anderen Menschen findet, bedurfte für Sozialdemokraten eigentlich nie einer besonderen Erwähnung oder Begründung.

Die Freiheit zur Entfaltung der Persönlichkeit, zur Entwicklung der persönlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten und zur Nutzung der damit verbundenen Chancen: Immer ging und geht es Sozialdemokraten um die Freiheit zur Selbstbestimmung und um die Freiheit und Chance eigene Lebensentwürfe zu verwirklichen. In diesem Sinne sind die Impulse der Netzwerker für ein neues SPD-Grundsatzprogramm alles andere als "neoliberal". Im Gegenteil: Die Hinwen-dung zu den Träumen, Wünschen, Zukunftsvorstellungen und Lebensvorstellungen der Menschen als Ausgangs- und Zielpunkt sozialdemokratischer Politik ist eigentlich sehr traditionalistisch.

Die SPD war immer eine Emanzipationsbewegung, und sie muss es auch bleiben. Wir wollen den Lebensweg jedes einzelnen Menschen offen halten und ihn nicht an Herkunft, Einkommen, Rasse oder Geschlecht binden. Millionen Menschen hat genau diese Idee in den letzten 140 Jahre fasziniert. Diese Menschen waren freiheitsliebend, bildungshungrig, aufstiegsbewusst und leistungsorientiert. Und sie haben die Widersprüche zwischen ihrem unbefriedigenden Alltag und den eigenen Hoffnungen und Lebensentwürfen gespürt.

Genau diese Widersprüche hat die SPD in ihrer Geschichte immer thematisiert und zum Gegenstand ihrer Gesellschaftskritik und ihrer Reformvorhaben gemacht. Und das ist das Geheimnis ihres Erfolges. Dazu allerdings muss die SPD den Alltag und die Lebensentwürfe der Menschen zum Ausgangs- und Zielpunkt ihrer Programmatik und politischen Sprache machen - und natürlich vor allem zu dem ihrer praktischen Politik. Und genau dies schafft sie zur Zeit nicht.

Partei, Gewerkschaften und Staat, das alles waren (und sind) nur Instrumente, um diese Widersprüche Schritt für Schritt zu überwinden. Diese Forderung nach Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und nach der Chance zur Verwirklichung eigener Lebensvorstellungen war dabei nie ein Gegensatz zur Solidarität der Menschen untereinander. Es waren zwei Seiten der gleichen Medaille, denn nur eine solidarische Gesellschaft mit verantwortlich handelnden Menschen kann auch den Schwächeren die Möglichkeit auf ein selbstbestimmtes Leben sichern. Solidarität und Verantwortung füreinander waren deshalb für Sozialdemokraten immer das Unterpfand der Freiheit.

People who work hard and play by the rules

Eine Mehrheit der Menschen in unserem Land empfindet auch heute Widersprüche zwischen ihrem privaten, beruflichen, sozialen und politischen Alltag und den eigenen Lebensentwürfen. Das Paradoxe ist: Was von uns als Schutz und Hilfe konzipiert war - die sozialen Sicherungssysteme -, entwickelt sich in den Augen vieler junger Familien und Arbeitnehmer zum "Abkassieren" durch den Staat. Für die Verwirklichung eigener Lebensvorstellungen bleibt zu wenig Netto vom hart erarbeiteten Brutto. Die staatlichen Institutionen, deren freiheitliche und demokratische Verfasstheit Wolfgang Thierse stärker gewürdigt wissen will, werden dabei nicht mehr als Instrument oder gar Partner bei der Überwindung dieser Widersprüche empfunden, sondern im Gegenteil: all zu häufig als Kern des Problems.

Der von Wolfgang Thierse zitierte "die Individuen und Gemeinschaften verbindende Gesellschaftsvertrag" hat aus vielen Gründen seine Bindungskraft stark eingebüßt - auch, weil sich viele Vertragspartner übervorteilt empfinden. Wer ihn wiederbeleben will, muss einen anderen Standort und eine andere Perspektive einnehmen, am besten den der denkbaren Träger sozialdemokratischer Reformpolitik: The people who work hard and play by the rules.

Links und frei - nicht Links und staatlich

Und diese Akzentverschiebung haben die Netzwerker in ihren Impulsen für ein neues SPD-Grundsatzprogramm tatsächlich vorgenommen. Und das ist auch gut so. Die junge und die neue SPD will wieder zuerst Menschen stärken, ihnen Wege öffnen und nicht nur Sachen klären und Institutionen erfinden. Wir wollen weder die besten Techniker der Macht noch die besten Sozialingenieure werden. Wir schlagen vor, unsere Politik wieder mehr mit unserem Bild vom Menschen zu begründen als mit unserem Bild vom Staat. Und wir sind sicher, dass wir damit auch strategisch richtig liegen. Schließlich hieß Willy Brandts Buch Links und frei, nicht Links und staatlich - er wusste eben in vielen Lebenslagen was wirklich "sexy" ist.

Wolfgang Thierse und wohl auch den Akzente-Autoren erscheint das alles zu individuell und zu wenig sozial konstitutiv. Sie bedienen sich lieber des klassischen Vokabulars etatistisch-sozialdemokratischer Programmatik. So richtig wohl in ihrer Haut scheinen sie sich allerdings nicht zu fühlen, denn alles wirkt etwas schwammig und schemenhaft. Manchmal fühlt man sich auf einen Juso-Kongress der siebziger Jahre zurückversetzt.

Kostprobe gefällig? "Weil der Staat der Motor und Garant, aber nicht immer der Erbringer öffentlicher Güter ist, müssen auch die staatlichen Kooperationen auf lokaler, regionaler und globaler Ebene der Gesellschaft Handlungsräume eröffnen und notwendige Ressourcen gewähren." Alles klar?

Und auch die Wirtschaftsdemokratie darf nicht fehlen. Allerdings kommt der Begriff mehr als Verlegenheit oder als "Placebo" für das eigene "linke Gewissen" daher, denn es findet sich kaum etwas wieder, was sich einst mit diesem anspruchsvollen Begriff der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung verband.

Einerseits wird behauptet, man habe mit Tarifautonomie und Mitbestimmung schon so etwas wie Wirtschaftsdemokratie geschaffen. Andererseits wird sie aber erst noch für künftige Zeiten verheißen. Gut wenigstens, dass Rudolf Hilferding nicht mehr erleben muss, wie die vermeintliche Parteilinke der SPD zu Beginn des 21. Jahrhunderts erklärt, dass die Wirtschaftsdemokratie "die gegebenen Eigentumsrechte nicht berührt". Uff!

Innovation? Integration? Lieber nicht!

Unser neues Grundsatzprogramm sollte solche Verlegenheiten vermeiden und deutliche Worte finden. Akzente von gestern helfen nicht für die Welt von morgen. Ja, wir sind für die politische Gesamtverantwortung für die Wirtschaft. Ja, wir sind für die politische Einbettung der Märkte und der Eigentumsrechte. Ja, wir sind für den Vorrang von Demokratie und Freiheit vor Markt und Privateigentum. Beim gesellschaftlichen Transport dieser Botschaft hilft uns der Begriff der Wirtschaftsdemokratie nicht weiter, der gewollte und ungewollte Missverständnisse erleichtert, aber durch nichts mehr gedeckt ist, was im Programm wirklich steht.

Statt derlei Pirouetten zu drehen, wäre es für die Programmdiskussion hilfreich gewesen, wenn der Akzente-Entwurf konkrete Lebens- und Alltagserfahrungen der Menschen aufgegriffen und an ihnen sozialdemokratische Politik für Menschen entwickelt hätte. Die grundlegenden Änderungen in der Sozialpolitik, die schon praktisch im Gange sind, lässt der Text kaum erahnen. Jedenfalls bietet er für sie keine Wegweisungen. Die Bildungspolitik, eine der großen Achsen einer neuen sozialdemokratischen Reformpolitik, wird kurz gestreift. Das Thema Innovation, eines der entscheidenden Schlüsselthemen sozialdemokratischer Zukunftspolitik, fehlt sogar gänzlich. Dasselbe gilt für das Zusammenleben der Kulturen und die sozial-kulturelle Integration unserer Gesellschaft. Viele, allzu viele Fehlanzeigen.

Ich hätte mir statt weitschweifender Analysen und der Einforderung supranationaler Institutionen ein paar mehr Vorschläge gewünscht, wie und wo unsere durch all die beschriebenen Modernisierungs- und Globalisierungstendenzen immer mehr auseinander driftende Gesellschaft zusammengehalten werden kann. Wo wir die Orte sozialer Integration sehen und was wir für ihre Stärkung tun müssen, etwa in den Städten, in den Schulen, in Zivilgesellschaft oder Arbeitswelt. Das sind, wie ich meine, einige der Fragen, auf die wir Antworten geben müssen und auch können. Aber überall Fehlanzeige in den Akzenten.

Statt dessen kritisiert Wolfgang Thierse im Entwurf der Netzwerker eben diese Konkretisierungen. Familie, Arbeitsplatz und Wohnort (besser: Heimat) werden als gänzlich private Räume abgetan, deren Bedeutung für die Bindekräfte unserer Gesellschaft nicht überschätzt werden dürfe. Genau diese Sozialräume sind aber die Orte, an denen in Deutschland (und in vielen anderen Ländern der Welt) gesellschaftliche Integration oder Desintegration praktisch wirksam werden.

Dabei glauben die Autoren der Netzwerk-Impulse keineswegs, wie von Wolfgang Thierse rhetorisch gefragt, dass die durch Recht und Gesetz vorgegebenen und vom Staat zu gewährenden allgemeinen Zugehörigkeits- und damit Zusammenhaltsgarantien weniger wichtig werden. Und natürlich wird ein demokratisch verfasster und von möglichst allen Menschen getragener Gesellschaftsvertrag mehr denn je gebraucht. Allerdings bedarf er nicht nur einer abstrakten Begründung, sondern vor allem seiner praktischen Einlösung. Verträge halten dauerhaft nicht durch mehrmaliges Vorlesen, sondern müssen immer wieder als vernünftig, sinnvoll und hilfreich erlebt werden. Erst dann wirken sie sinnstiftend.

Richtige Fragen, fehlende Antworten

Richtig sind allerdings Wolfgang Thierses Fragen zum Wesen der Globalisierung und zu den Konsequenzen für eine demokratische Gesellschaft. Er beschreibt den Ausfall der öffentlichen Beiträge für das gute Zusammenleben der Menschen durch die Erosion der finanziellen Grundlagen. "Was ist eine Demokratie, die nur noch private, aber keine öffentlichen Wahlmöglichkeiten mehr gewährt, die ohne kollektive Ressourcen aller Gestaltungsmöglichkeiten beraubt ist?" Seine Kritik ist berechtigt: Die Impulse bleiben hier eine ausreichende Antwort schuldig. Ebenso allerdings die Akzente-Autoren - also auch Wolfgang Thierse selbst. Hier bleibt es also spannend.

Wolfgang Thierse und auch die Autoren des Akzente-Entwurfs schlagen dann in diesem Zusammenhang vor, das Thema "öffentliche Güter" zum Schlüssel des neuen Grundsatzprogramms zu machen. Der gesamte Text steht daher allein unter diesem Leitbegriff. Alles, was er erklärt und fordert wird darauf bezogen. Kein Zweifel, das Thema "öffentliche Güter" muss für uns Sozialdemokraten eine wichtige Orientierung bleiben. Aber kann dieses Konzept allein die Last eines ganzen Grundsatzprogramms tragen? Und, eignet es sich als Verheißungswort für einen neuen Zukunftsentwurf der Sozialdemokratie? Ich habe erhebliche Zweifel.

"Öffentliche Güter" - aber wer erbringt sie?

Gewiss, die Hervorhebung der Rolle der öffentlichen Güter ist eine gute und auch eine notwendige Idee. Es handelt sich hier trotz des neuen Begriffs um eines der ältesten Themen der Sozialdemokratie überhaupt. Die Gewährleistung und allgemeine Verfügbarkeit sozialer Grundgüter in so wichtigen Bereichen wie Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit, öffentliche Infrastruktur oder intakte Umwelt - unabhängig vom Geldbeutel - ist eine zentrale Bedingung für Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Das müssen wir gegen den neoliberalen Privatisierungswahn nachhaltig in Erinnerung rufen. Der sich selbst steuernde Markt kann diese Güter nicht oder nicht ausreichend zu erschwinglichen Bedingungen bereit stellen. Das gilt nicht nur im nationalen, sondern erst recht im internationalen Maßstab.

Warum also dennoch Zweifel an Reichweite und Tragfähigkeit des Konzepts der "öffentlichen Güter" als Schlüssel zum neuen Programm? Das Akzente-Papier lässt erkennen, dass es sich dabei eher um eine wichtige Problemanzeige für Gefahren und Defizite handelt, aber kaum um die Antwort auf die offene Frage nach sozialer Gerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit. Dort, wo die Betrachtungen des Akzente-Papiers aufhören, fangen nämlich die Fragen erst an, auf die ein wirklich handlungsleitendes Programm Antwort geben muss. Zu diesen Fragen gehören beispielsweise: Wer erbringt welche öffentlichen Güter in welcher Verantwortung? Wer beteiligt sich in welchem Verhältnis an ihrer Finanzierung? Welche von ihnen sollen gänzlich kostenfrei sein und welche, je nach Leistungsfähigkeit ihrer Nutzer, auf Kostenbeteiligung beruhen?

Das sind in so wichtigen Bereichen wie Bildung, Weiterbildung, Gesundheitsdienste, Straßennutzung oder Umweltschutz die eigentlichen politischen Grundsatzfragen. Sie bleiben sowohl bei Wolfgang Thierses Kritik an den Impulsen der Netzwerker als auch im Akzente-Papier fast alle offen.

Im Mittelpunkt müssen die Menschen stehen

Die von Wolfgang Thierse und anderen formulierten Akzente für ein neues SPD-Grundsatzprogramm werden ihrem Titel nicht gerecht. Jedenfalls werden keine neuen Akzente gesetzt. Stattdessen wird der Staat wieder zum Ausgangspunkt sozialdemokratischer Programmatik. Und damit die Defizite staatlicher Politik in Deutschland nicht zu deutlich werden, müssen jetzt europäische und weltweite Dimensionen herhalten. Man wird den Eindruck nicht los, dass hier nicht neue, sondern eher alte Akzente gesetzt werden - mehr als ideologische Fluchtpunkte gegen die Unzulänglichkeiten des Regierungsalltags denn als Eckpunkte für eine neue SPD. Wohl deshalb wirkt die Sprache der Akzente so technokratisch und blutleer.

Dennoch, gerade auch in dem, was fehlt, werden alle Entwürfe als Anregung für die Debatte um ein neues Programm der SPD hilfreich sein. Die Netzwerker haben den Verdienst, innerhalb einer Woche in Bad Münstereifel mehr erreicht zu haben als alle Kommissionen und Arbeitsgruppen des Parteivorstands in den letzten zweieinhalb Jahren. Jetzt geht es darum, ihre Impulse für das neue SPD-Programm im Feuer der Diskussion zu schmieden. Denn es wird mehr an ihm abprallen müssen als eine freundliche Kritik von Wolfgang Thierse und ein paar Akzente ohne Akzentuierungen. Am Ende muss ein Programm für eine neue SPD stehen: Jünger, frischer, optimistisch und vor allem mit den Menschen im Mittelpunkt.

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