Liberalismus mit Kontext

Für Lebenschancen und Selbstverwirklichung: Was Liberale - aber auch Sozialdemokraten - unbedingt bei Ralf Dahrendorf nachlesen sollten

Es war starker Tobak, den sich die Delegierten des SPD-Parteitags 1960 anhören mussten. Unter dem Titel „Repräsentative Demokratie und sozialer Wandel“ hielt ein junger Professor namens Ralf Dahrendorf – den Eingeweihten bekannt als Sohn des einstigen Hamburger SPD-Reichtagsabgeordneten und Widerstandskämpfers Gustav Dahrendorf – ein Referat, an dessen Schluss er der SPD nahelegte, sie könne ihre Zukunft nur sichern, wenn sie sich zu einer großen und modernen liberalen Partei umbilde. Am Ende des Parteitages merkte Willy Brandt an, die Toleranz der Sozialdemokraten ließe sich sehr gut daran ablesen, dass jemand  die Eröffnungsrede gehalten habe, der weder ihr Mitglied sei, noch ihr Programm vertrete.  

Der letzte Punkt stimmt nicht so ganz. Dahrendorf war ein Grenzgänger zwischen Sozialdemokratie und Liberalismus. Im Alter von 18 Jahren trat er der SPD bei, ließ die Mitgliedschaft wohl eher unbewusst verfallen und wurde 1967 Mitglied der FDP, die er 1988 allerdings wieder verließ. Dennoch verstand er sich immer als Liberaler, was sich auch daran ablesen lässt, dass er in seiner neuen Heimat Großbritannien den Liberalen beitrat. Programmatisch arbeitete Dahrendorf gemeinsam mit anderen daran, die sozialliberale Koalition von 1969 vorzubereiten. Diese Koalition hat Deutschland tiefgreifend geprägt und wirkliche Lebenschancen geschaffen, etwa mittels einer aktiven Bildungspolitik, die Arbeiterkindern den Zugang zur Universität ermöglichte.

Verbindungslinien zwischen FDP und SPD

Programmatisch könnten sowohl SPD als auch FDP gewinnen, wenn sie einen Blick in das Werk des gemeinsamen „Säulenheiligen“ Dahrendorf werfen würden. Der SPD täte es gut, daran erinnert zu werden, dass die einzig funktionierende Wirtschaftsform die soziale Marktwirtschaft ist; den Liberalen täte es gut, daran erinnert zu werden, dass Liberalismus eben für mehr steht als nur für schrankenlose Wirtschaftsfreiheit. Vor diesem Hintergrund haben Abgeordnete aus dem Europäischen Parlament und dem Deutschen Bundestag Anfang 2011 den „Dahrendorfkreis“ initiiert. Es geht nicht nur, aber auch darum, verschüttete Verbindungslinien zwischen FDP und Sozialdemokraten herauszuarbeiten, um so nicht zuletzt die koalitionspolitischen Optionen der FDP zu  erweitern. Solche Signale sind derzeit auch aus der SPD zu vernehmen. So plädierte Saar-Landeschef Heiko Maas jüngst dafür, das „sozial-liberale Projekt“ wiederzubeleben.

Die FDP steht vor einem fundamentalen Paradigmenwechsel, der mit dem Stichwort Grundsatzprogramm 2012 verbunden ist. Der Dahrendorfkreis möchte die FDP für einen erweiterten Freiheitsbegriff öffnen, der sich auch in der neuen liberalen Ortsbestimmung niederschlagen soll. Im Rückgriff auf den Bostoner Philosophen Claus Dierksmeier plädiert der Dahrendorfkreis gegen einen rein quantitativen Freiheitsbegriff, der sich nur auf „Je mehr, desto besser!“ kapriziert, und stattdessen für einen qualitativen Freiheitsbegriff, der proklamiert: „Je besser, desto mehr!“. Ein qualitativ orientierter Liberalismus interessiert sich nicht für die absolute Menge, sondern für die Güte der Optionen, die Bürger effektiv haben.  Zentral für den Dahrendorfkreis ist ein Begriff von Freiheit, den Dahrendorf 1979 in seinem Buch Lebenschancen mit folgenden Worten beschrieb: „Der aktive Begriff der Freiheit, den ich vertrete, erlaubt keine Ruhe, bevor nicht alle Wege zur Erweiterung menschlicher Lebenschancen erkundet sind, und das heißt, er erlaubt niemals Ruhe. Liberalismus ist notwendig eine Philosophie des Wandels.“

Die SPD war und ist ein ernst zu nehmender Partner, um diese Politik des Wandels politisch zu verwirklichen. Liberalismus und Sozialdemokratie sind vom Prinzip her emanzipatorische Bewegungen. Dahrendorf hat im Jahr 1980 zu Recht darauf hingewiesen, dass Liberale schon für bestimmte Aspekte der Sozialpolitik stritten, ehe es überhaupt sozialistische Parteien im eigentlichen Sinne gab.

Bei aller Gemeinsamkeit gibt es natürlich auch Trennendes. Es sind vor allem die Begriffe „Subsidiarität“ (FDP) und „Solidarität“ (SPD), die auf unterschiedliche Ansätze verweisen. Liberale glauben, dass Verantwortung für das eigene Leben vor staatlichem Handeln kommt. Der Sozialstaat stellt nach Dahrendorf das notwendige „Chancenminimum“ bereit: Menschen sind aber ausdrücklich aufgerufen, auch eigene Wege zu gehen. Liberale begreifen Sozialpolitik nicht als Prämisse für die Daseinsfürsorge, sondern als Anreiz zum individuellen Handeln. So beschrieb es auch Dahrendorf in seiner Rede vor dem Bundesparteitag der FDP in Freiburg 1968: „Politik will niemals mehr als den Menschen Türen öffnen, sie will darauf achten, dass die Zahl der Türen, durch die der Einzelne gehen kann, so groß wie irgend möglich bleibt.“

Sozialdemokraten alter Schule spannen den Staatsbürger im Zweifelsfall lieber in einen gut gemeinten, rundum versorgenden Sozialstaat ein. Sozial ist, wer möglichst umfassend umverteilt. Wir erinnern uns an die Reichensteuer, die Sigmar Gabriel 2009 forderte. Liberale sehen Staatsbürger als verantwortungsbewusste Citoyens, die gern etwas an die Gesellschaft zurückgeben, wenn denn entsprechende Strukturen bestehen. So forderten Vertreter der FDP 2009 die Einrichtung einer Bildungsstiftung. An solchen Ansätzen sieht man die grundsätzlichen Unterschiede.

Wo wir einer Meinung sind

Die Sozialstaatsdebatte geht innerhalb der SPD aber mittlerweile teilweise über solche Positionen hinaus. So hat Tobias Dürr in seiner Rezension „In der liberalen Schmollecke“ für die Berliner Republik (1/2009) zu Recht auf einen breiten politischen Konsens hingewiesen darüber, dass in einem „aktivierenden und ermöglichenden Sozialstaat“ Menschen mit den notwendigen Fähigkeiten ausgestattet werden müssen. Nur so können sie alle Chancen wahrnehmen, die die Gesellschaft bietet. Und richtigerweise hat der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Hubertus Heil anlässlich des 80. Geburtstages von Lord Dahrendorf – ebenfalls in dieser Zeitschrift – deutlich gemacht, dass Lebenschancen und die „Versprechen der freiheitlichen Demokratie“ hohl bleiben, wenn es an den Teilhabeinstrumenten fehlt. Hier sind wir einer Meinung – der Staat muss ermöglichen. Ab einem gewissen Punkt muss ein mündiger Bürger aber auf eigenen Füßen stehen können.

Liberale glauben leidenschaftlich an den Unterschied, Sozialdemokraten an die Gleichheit. Doch „kein Mensch lebt gerne in einer grauen und tristen Welt, in deren Eintönigkeit alle Unterschiede eingeebnet sind“, so Dahrendorf. Eine Gesellschaft ohne Unterschiede ist für Dahrendorf eine Gesellschaft ohne Fortschritt. Menschen brauchen Motivation, um über sich selbst herauswachsen zu können und sich aus Eigeninteresse zu engagieren.   

Die größten Trennlinien ziehen sich deshalb quer durch unsere Konzepte von Wirtschaftspolitik. Unter dem Titel „Legt den Kapitalismus an die Leine“ forderten etwa die Generalsekretärin der SPD Andrea Nahles und die Bundesgeschäftsführerin der Grünen Steffi Lemke, es bedürfe einer demokratischen Klärung, welche Bereiche in Zukunft wachsen sollten und welche nicht. Liberalen ist diese „demokratische Marktwirtschaft“ ein Graus. Sie halten es mit Dahrendorf und wissen, dass Wirtschaft kein „Tummelplatz ideologischer Auseinandersetzungen“ ist, sondern erst dann die gesellschaftlichen Lebensbedingungen steigert, wenn auch wirtschaftliche Handlungsfreiheit herrscht. Lebenschancen sind ja nicht nur auf die Sozialpolitik bezogen, sondern auch auf die Wirtschaftspolitik. Wirtschaftliches Handeln sollte nicht nur die Grundlagen wirtschaftlichen Wachstums schaffen, sondern auch Chancen der freien Entfaltung des Einzelnen eröffnen.   

Nachhaltig orientierte Liberale sind sich aber bewusst, dass wirtschaftliches Handeln nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern in einem gesellschaftlichen oder, besser, kulturellen Kontext. Diese Binsenweisheit ist in der Vergangenheit in der FDP-internen Debatte zu kurz gekommen. Marktwirtschaft braucht Moral, das heißt einen Seitenblick auf Gemeinsinn und Gemeinschaft, also auf Nachhaltigkeit. Ein auf sich selbst bezogener Freiheitsbegriff hilft niemandem. Die ausschließliche Orientierung am Ego ist auch für den Markterfolg kein empfehlenswertes Rezept. Darum ist ganzheitlicher Liberalismus „weder marktvergessen noch marktversessen“ (Claus Dierksmeier).     

Freiheit und Verantwortung müssen auch in der Wirtschaft zusammengehen. Da im Zuge der Globalisierung Unternehmen immer größere Gestaltungsfreiheiten und Spielräume erhalten, können wir auch erwarten, dass sie von diesen neuen Freiheiten verantwortlich Gebrauch machen. Die Politik ist nicht allein zuständig dafür, dass die Marktwirtschaft keinen ökologischen und sozialen Schaden anrichtet. Von den Firmen muss im Gegenzug zur gesellschaftlichen „license to operate“ auch ein deutlicher Wille zur Annahme und Ausgestaltung von Corporate Social Responsibility erkennbar sein, wie Dierksmeier darlegt.  

Die FDP steht also vor einem grundlegenden Transformationsprozess. Intern müssen wir die Debatte über Werteliberalismus und Marktliberalismus führen. Die programmatische Zukunft der FDP liegt dabei klar in einem nachhaltigen Liberalismus. Es kommt nicht nur darauf an, Freiheiten quantitativ zu maximieren, sondern sie qualitativ zu optimieren. Darum muss die FDP erneut lernen, im Vokabular der Werte und der Verantwortung zu kommunizieren.

Der Parteienforscher Franz Walter rät der FDP in einem Essay für die Tageszeitung Die Welt, es programmatisch als rechtsliberale Partei mit Marktliberalität, Populismus à la Sarrazin und dem Aktivieren von „reaktiven Einstellungswelten“ zu versuchen. Das kann nicht unsere Zukunft sein und würde dem reichen Erbe des Liberalismus in Deutschland nicht gerecht. Freiheit und Demokratie wurden von selbstbewussten Bürgern gegen rückwärtsgewandtes Denken erkämpft. Liberalismus und Sozialdemokratie verbindet das noch heute. Durch ihr Alleinstellungsmerkmal wird sich die FDP immer absetzen können. Denn was unterscheidet Liberale von allen Anderen?  Im Zweifel für die Freiheit. «

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