Leistung und Solidarität

Grundsätze christlich-sozialer Politik für das 21. Jahrhundert / VON ALOIS GLÜCK

Kindernot, Klagen über soziale Kälte, Ausgrenzung und Vereinsamung – manches dieser Schlagworte mag polemisch zugespitzt sein, dennoch macht die Debatte über Armut in Deutschland Defizite deutlich. Obwohl wir so viel Geld für Soziales ausgeben wie nie zuvor, erreicht unser Sozialsystem seine Ziele unzureichend und ist auch in vielerlei Hinsicht ungerecht. Es ist ungerecht, wenn sich soziale Ausgrenzungen zunehmend verfestigen. Die Unterstützung durch Transferleistungen hat vielen Empfängern nicht wirklich geholfen, sondern zu einem gesellschaftlichen und kulturellen Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen geführt. Es sind „Sozialhilfe-Karrieren“ in der zweiten und dritten Generation entstanden.

Es ist unverantwortlich, wenn die im internationalen Vergleich sehr hohen Sozialausgaben Beitragszahler immer mehr belasten und die Arbeitskosten in die Höhe treiben. Mit steigenden Arbeitskosten sinken die Chancen der Arbeitslosen, eine neue Arbeitsstelle zu finden. Es ist unsolidarisch, wenn Schulden und Zinslasten die Zukunft unserer Kinder und Enkel einengen. Wir leben auf Kosten künftiger Generationen. Seit Jahren steigen die Sozialausgaben schneller als das Wachstum unserer Volkswirtschaft. Wir leisten uns mehr als wir erwirtschaften.

Die CSU will die Verbindung von wirtschaftlichem Erfolg und sozialem Zusammenhalt in einer solidarischen Leistungsgesellschaft. Wir wollen den Sozialstaat nicht auf eine möglichst gerechte Verteilung des Mangels reduzieren. Wir verstehen das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes umfassender. Wir wollen Chancengerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit gleichermaßen gestalten. Dafür brauchen wir eine stärkere Eigenverantwortung des Einzelnen für sich und seine Mitmenschen, ein grundlegend verändertes Verantwortungsverhältnis zwischen Bürger und Staat, eine aktivierende Sozialpolitik und eine dynamische Entwicklung in der Wirtschaft.

Zu lange wurde Gerechtigkeit mit dem Streben nach Gleichheit verwechselt. Unser Ziel ist, allen Menschen die Chance zu einem selbst bestimmten Leben in Würde zu ermöglichen. Damit schaffen wir Dynamik für das ganze Land, wie es auch andere Gesellschaften in Europa geschafft haben.

Auf der anderen Seite wissen wir: Wirtschaftswachstum allein kann die hohe Arbeitslosigkeit und die soziale Ausgrenzung in Deutschland nicht beheben. Wir brauchen eine Politik, die Chancen schafft und faire Zugänge zu diesen Chancen für alle eröffnet. Wir wollen Chancengerechtigkeit für alle, die Leistungsstarken und die Schwächeren. Chancengerechtigkeit heißt: Bei gleichen Fähigkeiten gleichwertige Chancen für die Ergebnisse, unabhängig von sozialer oder kultureller Herkunft.

Sozial ist, allen Kindern in Deutschland gute Startbedingungen zu ermöglichen. Kein Kind darf von vornherein zu den „Verlierern“ zählen. Wir brauchen eine frühe Förderung, gerade auch von Kindern mit Migrationshintergrund. Wir brauchen ein Bildungssystem, das Qualität mit sozialer Durchlässigkeit verbindet. Sprachfähigkeit, Leistungswille, Erziehung zur Selbständigkeit müssen gefördert werden, damit Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern die Möglichkeit haben aufzusteigen. Bildung befähigt zur Teilhabe am Fortschritt. Bildung ist die beste präventive Sozialpolitik. Die Qualität des Bildungssystems und die soziale Durchlässigkeit sind das Leitbild unserer Bildungspolitik.

Sozial ist, auch denjenigen ein freies, selbst bestimmtes Gestalten ihres Lebens zu erhalten, die über keine Lobby verfügen: unseren Kindern und Enkeln, den heute noch nicht geborenen Generationen. Sie haben ein Recht darauf, dass wir ihnen gute Perspektiven hinterlassen. In der Umweltpolitik haben wir den Grundsatz der Nachhaltigkeit und der Generationengerechtigkeit längst akzeptiert: „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt.“ Was für die Umweltpolitik gilt, muss auch für die Finanzpolitik gelten. Wir in Bayern haben umgesteuert. Wir machen seit 2006 keinen Cent neue Schulden mehr.

Sozial ist, Arbeit zu schaffen. Arbeit – auch einfache Arbeit – bringt Lebenssinn und das Gefühl: „Ich werde gebraucht!“ Staatstransfers und Beschäftigungsprogramme können Not lindern, Bestäti-gung durch eigenständige Arbeit aber nicht ersetzen. Von eigener Arbeit leben zu können, gehört zur Würde des Menschen. Wir dürfen nicht länger hinnehmen, dass Millionen Menschen aus dem Ar-beitsprozess ausgeschlossen sind. Niemand soll auf Dauer am Rande stehen. Chancen für alle: Das ist das Ziel der solidarischen Leistungsgesellschaft, wie sie die CSU anstrebt.

Leitlinie für die CSU ist die christliche Soziallehre mit den Prinzipien Personalität, Solidarität und Subsidiarität. Subsidiarität heißt: Der Staat soll nur leisten, was die Bürger, Unternehmen und private Initiativen nicht leisten können. Wir lehnen einen Betreuungsstaat ab, der die Bürger entmündigt und die Menschen abhängig macht. Jeder Bürger hat Rechte, aber auch Pflichten. Wirklich Bedürftige müssen sich auf die Solidarität der Gemeinschaft verlassen können. Subsidiarität heißt: Jeder, der sich selbst helfen kann, muss sich selbst helfen. Solidarität ist keine Einbahnstraße, sondern immer gegenseitige Solidarität.

In der Bildungspolitik über die Sozialpolitik bis hin zur Wirtschaftspolitik muss wieder klarer werden: Sozialer Wohlstand erwächst aus Leistung und Anstrengung. Nur eine starke, leistungsbereite Gesellschaft kann einen guten Sozialstaat erhalten. Wo wenig erarbeitet wird, gibt es wenig zu teilen. Deshalb sollte niemand eine vernünftige Marktpolitik gegen Sozialpolitik ausspielen. Ohne Leistungsanreize gibt es keine Kraft zur Solidarität. Aber ebenso gilt: Soziale Sicherheit ist Grundlage für Risikofreude und wirtschaftliche Dynamik.

Der Sozialstaat als Zwangsgemeinschaft

Auch das Wirtschaftswunder ist nicht durch moralische Appelle entstanden, sondern durch klare Anreize für Arbeit und Leistung. Mit nur scheinbar sozialer Politik setzen wir in Deutschland schon seit 30 Jahren falsche Anreize – gegen legale Arbeit, gegen eigene Anstrengung, für eine Mitnahmementalität zu Lasten des Gemeinwohls. Wir haben den Schutz bestehender Beschäftigungsverhältnisse ausgebaut, aber zugleich die Hürden für neue Arbeitsplätze, besonders im Niedriglohnbereich, in die Höhe getrieben. Die Ausgrenzung durch Arbeitslosigkeit hat vor allem strukturelle Ursachen.

Solidarität und Leistung lassen sich nicht verordnen. Wir brauchen aktive Bürger. Der Ruf nach Umverteilung ist keine Antwort darauf, dass der deutsche Sozialstaat zunehmend als anonyme Zwangsgemeinschaft empfunden wird. Gerade in einer Zeit tiefer Umbrüche wird uns bewusst: Jedes soziale Gemeinwesen braucht kulturellen Zusammenhalt, Solidarität unter den Generationen und Verantwortungsbewusstsein für die Schicksalsgemeinschaft von Nation und Land. Eine wirkliche Solidargemeinschaft umfasst mehr als vom Staat organisierte Transferleistungen. Ohne das Engagement der Menschen gibt es auf Dauer keine humane Gesellschaft. Der soziale Staat, das sind wir alle.

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