Lehren aus Hollands Politlabor

Wahlkampf als Wettrennen mit Fotofinish: Die Niederlande erlebten soeben eine fast unglaubliche Parlamentskampagne, in der die Sozialdemokraten zunächst der kompletten Demontage entgegensahen - und am Ende fast als Sieger über die Ziellinie gingen. Deutschen Beobachtern bot das Spektakel wichtige Lektionen

Am 12. September 2012 hielt die europäische Politik den Atem an. An diesem Tag wurde die Zukunft der EU gleich von zwei Seiten bedroht – von der Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts und von den niederländischen Parlamentswahlen. Doch am Ende des Tages konnten sich alle entspannt zurücklehnen. Der Euro war, zumindest für ein paar Monate, heraus aus der Gefahrenzone. Das kriselnde Europa hat erneut einen Aufschub erhalten.

In den Wochen vor den Parlamentswahlen hatten der rasante Aufstieg der europakritischen, linksgerichteten Sozialistischen Partei (SP) und das extrem anti-europäische Programm der populistischen Freiheitspartei PVV ausländische Beobachter alarmiert. Würden die Niederländer der Währungsunion den Rücken zukehren? Würde Deutschland im Streit um fiskalische Disziplin in der EU einen wichtigen AAA-Partner verlieren? Würde die Eurokrise die traditionellen Parteien des Mainstreams existenziell bedrohen und europaskeptische Parteien nach vorne katapultieren? Im Guardian erläuterte Europaredakteur Ian Traynor die Gründe für die erhöhte Wachsamkeit: „Die niederländische Wahl wird in Brüssel und ganz Europa nicht nur aufgrund der Botschaft so scharf beobachtet, die ein Gründungsmitglied in der tiefsten aller Krisen der EU sendet, sondern auch, weil die holländische Politik häufig ein zuverlässiger Indikator für allgemeine politische Trends in Europa ist – vom Aufstieg eines unorthodoxen Populisten (Pim Fortuyn, d. Red.) vor einem Jahrzehnt bis zur Ablehnung des Referendums über die Europäische Verfassung 2005.“

Der Wahlkampf verlief in zwei Phasen. Die erste Phase dauerte bis drei Wochen vor dem Urnengang und war von alarmierenden Umfragen geprägt. Die Demoskopen sagten einen historischen Kollaps der beiden traditionellen Volksparteien voraus, der Christdemokratie (CDA) ebenso wie der Sozialdemokratie (PvdA). Die PvdA drohte so klein zu werden, dass sie nicht länger hätte behaupten können, eine Volkspartei zu sein. Auch drohte sie von ihrem Hauptkonkurrenten, der ehemals linksradikalen, inzwischen aber „entradikalisierten“ SP überflügelt zu werden. Die SP ist, freilich ohne diktatorisches Erbe, die holländische Ausgabe der „Linkspartei“: eine anti-neoliberale, europakritische und sozial-nationale Verteidigerin des Wohlfahrtsstaats. Für die PvdA als Fahnenträgerin und Erbin der mehr als hundertjährigen niederländischen Sozialdemokratie bahnte sich ein historisches Desaster an. Doch in der heißen zweiten Phase des Wahlkampfs konnte die PvdA die existenzielle Niederlage abwenden und sich von dieser Nahtoderfahrung erholen. Mithilfe eines wahren „Kampagnenwunders“ schaffte es der junge Parteichef Diederik Samsom, die Mehrheit der Stimmen des linken Lagers auf sich zu vereinigen. Dabei konnte die PvdA fast bis zur stärksten Partei der Rechten aufschließen, der wirtschaftsliberalen VVD von Premierminister Mark Rutte.

Die TV-Debatten drehten das Rennen

Die vorgezogenen Neuwahlen waren notwendig geworden, nachdem Geert Wilders’ Freiheitspartei PVV ihre Unterstützung des seit 2010 bestehenden, rechtsgerichteten Minderheitenkabinetts unter Premier Rutte aufgekündigt hatte. Wieder einmal wurde die extreme Volatilität der Wählerschaft deutlich. Nach Angaben des bekanntesten niederländischen Meinungsforschers, Maurice de Hond, entschieden sich 29 Prozent der Wähler in den letzten 48 Stunden vor der Wahl für eine Partei. Fast 15 Prozent entschieden sich sogar erst am Wahltag selbst. Diese Volatilität kann die Dynamik des Wahlkampfs erklären – eine Dynamik, die von den zahlreichen Fernsehdebatten in den letzten drei Wochen vor der Wahl geprägt und in täglichen Umfragen genau registriert wurde. Es handelte sich also um eine wirkliche „Zuschauerdemokratie“. Der spektakulärste Effekt war der rasante Zugewinn der PvdA – von 13 Prozent in den Umfragen vier Wochen vor dem Urnengang auf fast 26 Prozent der Stimmen am 12. September.

Das Wahlergebnis ist das Resultat eines Wettstreits um die politische Führung auf der rechten und linken Seite des politischen Spektrums sowie einer polarisierten Konfrontation zwischen rechts und links. Die Fragmentierung, die die Wahlen 2010 gekennzeichnet hatte, schritt nicht weiter voran. Die politischen Ränder wurden eingedämmt, Geert Wilders verlor fast die Hälfte seiner Wähler. Aber das ist nicht gleichbedeutend mit der Wiederauferstehung der politischen Mitte. Denn PvdA und VVD haben sich nach links beziehungsweise nach rechts bewegt – sowohl programmatisch als auch in Bezug auf das rhetorische Management der Wählererwartungen. Die PvdA wurde als „SP-light“ bezeichnet, die VVD agierte wie eine „PVV-light“. Die Wähler stimmten also innerhalb des Mainstreams für die Extreme. Die VVD und die PvdA gruben ihren direkten Rivalen das Wasser ab – PVV und CDA im rechten, SP und GroenLinks im linken Lager.

Gegen Ende spitzte sich die Wahlauseinandersetzung auf ein Wettrennen um das Amt des Ministerpräsidenten zwischen Rutte und Samsom zu. Diese beiden personellen Alternativen standen zur Auswahl. Und viele Wähler stimmten tatsächlich aus strategischen Gründen für den einen oder den anderen Kandidaten. Auf diese Weise kam Mark Ruttes VVD auf 41 von 150 Parlamentssitzen – ein ungewöhnlich gutes Ergebnis für einen amtierenden Premier an der Spitze einer extrem unpopulären Regierung. Die PvdA eroberte 38 Sitze. Dagegen steckte die traditionelle politische Mitte der niederländischen Politik eine herbe Niederlage ein: Die christdemokratische CDA, lange die tragende Säule des holländischen Wohlfahrtsstaates und des Poldermodells, verlor viele Wähler an die VVD und musste sich mit gerade noch 13 Sitzen begnügen – ihr schlechtestes Ergebnis aller Zeiten. Möglicherweise erleben wir gerade das Ende der christdemokratischen Politik in den Niederlanden, rund 40 Jahre nach dem Beginn der Säkularisierung.

Diese Parlamentswahl war nicht so sehr eine Abstimmung über die EU oder die Währungsunion. Im Zentrum standen vielmehr die Art des europäischen Krisenmanagements sowie die notwendigen politischen Maßnahmen zur Senkung des Staatsdefizits wie zur Ankurbelung der Wirtschaft, außerdem die Zukunft wichtiger wohlfahrtsstaatlicher Arrangements. Innerhalb der Grenzen eines breiten fiskalpolitischen Konsenses hatten die Bürger die Wahl, entweder auf dem liberal-konservativen Gleis zu bleiben oder auf das sozialdemokratische Gleis zu wechseln. Die Niederländer wählten beides gleichzeitig. Sie gingen gleichermaßen auf Abstand zum linkspopulistischen und zum rechtspopulistischen Rand, zu SP und PVV. Stattdessen entschieden sie sich für eine kritische, aber pro-europäische Position: weder eine uneingeschränkte politische Union noch ein Auseinanderbrechen der Eurozone.

Seit den Wahlen im Jahr 2002 hat die PvdA ihre Monopolstellung im linken Lager verloren und gewann durchschnittlich nicht mehr als 60 Prozent der linken Stimmen. Im Sommer 2012 schickte sich die SP an, die Mehrheitsposition auf der Linken einzunehmen, scheiterte dann aber kläglich. Parteichef Emile Roemer hatte die Sozialisten von ihrem radikalen Kurs abgebracht, wurde jedoch seinen Regierungs- und Premierministerambitionen nicht gerecht. Roemers Auftritte bei den Fernsehdebatten verliefen wenig überzeugend. Die linksgrüne Partei wiederum wurde von internen Konflikten geplagt und hatte einen unglücklichen Führungswechsel an der Parteispitze vollzogen.

Während sich die Konkurrenz also nicht in optimaler Verfassung befand, überraschte Samsom in den Fernsehdebatten mit großartigen Auftritten, wo er – ganz im Stile eines Regierungschefs – „die ehrliche, komplexe, harte Geschichte“ der Dilemmata erzählte, in denen sich die Niederlande befinde: die Krise, demografische Veränderungen, die Notwendigkeit ökologischer Innovationen, die Immobilienblase. Als new kid on the block übernahm er die Rolle des „Anführers der Linken“, indem er Führungsqualitäten bewies und keine nennenswerten Fehler beging.

Primaries als Trainingslager

Die Volatilität der Wählerschaft bedeutet für politische Parteien eine Herausforderung. Eine ihrer Gegenstrategien besteht darin, die Kampagnen zu professionalisieren. Genau das geschah im niederländischen Wahlkampf 2012. Samsoms erfolgreiche TV-Auftritte waren nicht zuletzt das Ergebnis einer langen und intensiven Kampagne. Nachdem im März 2012 der bisherige Parteivorsitzende Job Cohen zurückgetreten war, wählten die Mitglieder der PvdA in einem offenen Wettbewerb Diederik Samsom zum neuen Fraktions- und Parteichef. Das war die erste Bewährungsprobe für seine Führungsqualitäten. Die „Primaries“ um die Führung der PvdA bewirkten, dass sich Diederik Samsom über etliche Monate in Wahlkampfstimmung bringen konnte. Im Laufe des Sommers organisierte er dann eine Graswurzel-Kampagne im ganzen Land. Immer wieder traf er Wähler, hörte sich ihre Sorgen und Wünsche an und testete mögliche Wahlbotschaften der PvdA. Als schließlich die heiße Phase der Kampagne anbrach, musste Samsom zwar einen großen Rückstand aufholen, hatte seine Mission aber bereits einem Praxistest unterzogen. In jenen Regionen, wo die Grasswurzel-Kampagne gut organisiert war, schnitt die PvdA besser ab.

Die Finanzkrise hat die regierende Rechte nicht in Misskredit gebracht – und der Linken nicht zum Sieg verholfen. Die holländischen Wähler haben sich für eine Art cohabitation zwischen links und rechts, sozial und konservativ-liberal entschieden. Jetzt sind die beiden Gewinner gezwungen, eine Große Koalition einzugehen. Werden die VVD und die PvdA eine stabile Regierung bilden können? Wird diese neue Brücke über die politische Mitte weiteren populistischen Unmut an den Rändern provozieren? Oder kann die Koalition den Graben zwischen links und rechts überwinden und die Ränder in den Mainstream integrieren?

Dringend gebraucht wird eine „große Geste“, eine neue soziale und politische Übereinkunft, ähnlich dem historischen Klassenkompromiss nach dem Krieg oder dem Wassenaar-Abkommen in den achtziger Jahren. In beiden Fällen bezogen die Verträge die Sozialpartner in ein neo-korporatistisches „Poldermodell“ ein. Ein neuer „Vertrag 3.0“ sollte einige Prioritäten enthalten und dabei auf die besten liberalen und sozialdemokratischen Traditionen zurückgreifen. Notwendig ist ein Programm für Jobs und Bildung, für Innovationen, nachhaltiges Unternehmertum und gute Arbeit, für einen gut organisierten öffentlichen Sektor und einen ehrlichen Beitrag der Individuen an den Wohlfahrtsstaat, für eine Stakeholder-Wirtschaft und verantwortliche Corporate Governance. Gebraucht wird auch eine neue und praxisorientierte Art, Politik zu machen. Aber die größte Herausforderung der neuen Koalition aus VVD und PvdA wird darin bestehen, den populistischen Unfrieden auf der linken und rechten Seite des politischen Spektrums zu befrieden. Wird es ihnen gelingen? Warten wir’s ab.

Aus dem Englischen von Michael Miebach

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