Lasst Russland rein!

Die deutsche Frage ist gelöst - erfolgreich und europäisch. Aus historischer Sicht wäre es logisch, nun auch die russische Frage zu klären. Als wichtiger strategischer Partner des Westens braucht Moskau eine klare Perspektive. Jetzt ist die Zeit dafür

Präsident Dimitrij Medwedew hat in seiner Berliner Rede am 5. Juni eine neue Offerte an den Westen gerichtet. Russland akzeptiert die amerikanische Präsenz in Europa sowie die Osterweiterung der Nato und nimmt hin, dass die künftige Architektur Europas weiterhin auf den Säulen der Institutionen Nato und EU aufgebaut wird. Nur fordert Russland seine feste und gleichberechtigte Einbindung in die europäische Architektur – über eine neue Grundlagencharta, ähnlich der Schlussakte von Helsinki aus den siebziger Jahren. Der Kreml will der Nato die Aussetzung des Artikels 5 – der Beistandspflicht der Nato-Länder im Falle eines Angriffs auf einen ihrer Mitgliedsstaaten – in Beziehung zu Russland vorschlagen. Russland würde sich aus seinem Verständnis heraus in diesem Falle von der Nato-Osterweiterung nicht bedroht fühlen. Ein solches Abkommen würde aus russischer Sicht den „ewigen Frieden“ in Europa verankern. Aus westlicher Sicht wäre im Falle einer Aufhebung von Artikel 5 die Nato kein militärisches, sondern ein politisches Bündnis. Aber entwickelt sich der Nordatlantikpakt nicht sowieso in diese Richtung?

Nach der Berliner Rede des neuen jungen Staatschefs fragten sich viele Zuhörer, warum Europa und Russland eigentlich nicht gleich nach dem Zerfall der Sowjetunion zu Bündnispartnern wurden. Ein Zusammengehen in strategischen und wirtschaftlichen Fragen mit Russland wäre doch für die EU ein strategischer Gewinn. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier scheint das Kernproblem der Ausgrenzung Russlands aus Europa verstanden zu haben. Ihm schwebt vor, die Pariser Charta von 1990, die eine Vision von einem „Gemeinsamen Europäischen Haus“ verkündete, heute mit neuen Ideen und Initiativen wiederzubeleben. Die deutsche Frage ist innerhalb Europas erfolgreich gelöst worden. Deutschland ist fest in der europäischen Familie integriert und fungiert als einer der Hauptmotoren der europäischen Politik. Aus historischer Sicht wäre es logisch, jetzt die russische Frage zu lösen und diesem wichtigen strategischen Partner des Westens eine klare europäische Perspektive zu bieten.

Der Faktor Russland spaltet den Westen

Doch bedauerlicherweise spaltet der Faktor Russland heute den Westen und die EU. In einigen der ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes, die der EU und der Nato beigetreten sind, herrschen Russophobie und Stereotypen aus dem Kalten Krieg. Darum scheint heute innerhalb der EU und der Nato eine auf Versöhnung und Partnerschaft ausgerichtete gemeinsame Politik unmöglich. Diese Länder zwingen die alten EU- und Nato-Staaten immer stärker, eine Politik der Eindämmung Russlands zu betreiben. Staaten wie Deutschland und Frankreich müssen aus Solidaritätsgründen auf die Ängste der neuen Mitgliedsstaaten eingehen – aber nur bis zu einer bestimmten Grenze, wie die Debatten über die Osterweiterung der Nato auf dem Bukarester Nato-Gipfel offenbarten.

Eine vorzeitige Entscheidung, die Nato auf die Ukraine und Georgien auszudehnen, hätte jegliche Anzeichen einer neuen Kooperation, die Medwedews neue Präsidentschaft kennzeichnet, im Keim erstickt. Nun besteht die historische Chance, die künftige Sicherheitsarchitektur Europas nicht ohne und nicht gegen, sondern vielleicht mit Russland errichten zu können.

Russlands Weg nach Europa hängt natürlich nicht nur vom Willen des Westens ab. Die heutige EU ist eine Wertegemeinschaft und kein Konzert der Mächte aus dem 19. Jahrhundert. Ein autoritäres, nichtdemokratisches Russland könnte seinen Platz im modernen Europa des 21. Jahrhunderts nicht finden – und auch nicht mit der Brechstange erkämpfen.

Wie steht es um die innere Entwicklung Russlands? Im Gegensatz zu den neunziger Jahren ist das Land stabil. Die Wirtschaft wächst um etwa 7 Prozent, die Investitionen nehmen jährlich um 30 Prozent zu. Im Land entsteht ein Mittelstand sowie ein Sozialsystem, das diesen Namen verdient. Man darf von Russland mit seiner schweren Geschichte und langen autoritären Traditionen nicht erwarten, dass es innerhalb von 10 oder 20 Jahren das westliche Demokratiemodell annimmt. Erst langsam entwickelt sich Russland zu einer pluralistischen Gesellschaft mit offener Wirtschaft. In diesem Land muss die Demokratisierung parallel mit der Stärkung des Staates verlaufen. Anderenfalls droht Russland auseinander zu brechen. Der Machtwechsel an der Spitze des Staates hat Russland nicht destabilisiert. Der Machttransfer ist noch nicht abgeschlossen. Wladimir Putin regiert das Land weiter als Premier, denn Medwedew könnte die unterschiedlichen Interessengruppen alleine kaum bändigen.

Medwedew hat Russland eine neue Innovationspolitik versprochen. Die ersten 50 Tage des neuen Kremlchefs waren nicht von radikalen Reformen, aber von graduellen Veränderungen geprägt, die mit den erklärten politischen Zielen wie Korruptionsbekämpfung und Lockerung der Staatskontrolle in der Wirtschaft im Einklang standen. Die Stabilität und eine evolutionäre Entwicklung bleiben die Prioritäten der Innenpolitik. Die Außenpolitik Russlands wird unter dem neuen Präsidenten stark vom Modernisierungsbedarf der russischen Wirtschaft beeinflusst. Die EU wäre für Russland der ideale Modernisierungspartner. Allerdings muss die russische Führung der eigenen Bevölkerung konkrete Erfolge der Zusammenarbeit mit der EU vorweisen. Ein wichtiges Zeichen wäre die gegenseitige Abschaffung der Visumspflicht.

Russland kann sich den Zeitpunkt des Beitritts zur Welthandelsorganisation WTO nicht aussuchen. Die Verhandlungen darüber laufen bereits seit 10 Jahren. Russland wird aber kaum den Weg der Selbstisolation einschlagen. Der Westen ist für Medwedew als Verbündeter zur Unterstützung eigener Liberalisierungsprojekte bedeutsam. Verschließt sich der Westen gegen russische Initiativen, verschafft er den Hardlinern in der russischen Regierung die Möglichkeit, weitere Reformen zu blockieren.

Drehen uns die Russen den Gashahn ab?

In Kreisen westlicher Russlandexperten wird oft über die drohende russische demografische Katastrophe gesprochen. Man solle, so heißt es in vielen Strategiepapieren, Russland nicht mehr ernst nehmen, weil das russische Volk bald aussterben werde. Die Verfasser solcher Expertisen halten einen Babyboom als Folge der positiven russischen Wirtschaftsentwicklung für ausgeschlossen. Und sie gehen von der fälschlichen Annahme aus, Russland könne seine riesigen Territorien im asiatischen Osten nur dann behalten, wenn diese besiedelt würden. Die Beispiele Grönland und Alaska liefern jedoch andere Argumente.

Wie stark wächst die russische Wirtschaft wirklich? Der Staatshaushalt ist für die nächsten drei Jahre festgelegt. Die Sozialreformen und der Aufbau der neuen Industriestruktur werden fortgeführt. Zugleich wird die Regierung versuchen, die Staatsausgaben unter Kontrolle zu halten. Das wird jedoch nicht die Sozialausgaben betreffen. Bald können sich außer Energie auch andere interessante Industriebereiche für eine Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Westen öffnen – unter der Bedingung, dass Russland die Modernisierung seiner Industrie fortsetzt.

Wird Russland Europa irgendwann einmal den Gashahn abdrehen? Auch diese Frage wird in den heutigen westlichen Medien in fast jedem Beitrag zu Russland gestellt. Die Ängste sind unbegründet. Russland benötigt den Konsummarkt EU in derselben Weise, wie Europa den Produzenten Russland braucht.

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