Land ohne Limit

Völlig selbstverständlich zählt sich Deutschland zur Gemeinschaft der zivilisierten Völker. Auf unseren Autobahnen jedoch herrschen Verhältnisse, die eines Kulturlandes unwürdig sind. Warum eine Geschwindigkeitsbegrenzung das Gebot der Stunde ist

Hoppla, da haben die Genossinnen und Genossen ihre Parteiführung aber schwer in die Bredouille gebracht. Ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen wollten die Delegierten des Hamburger SPD-Parteitages plötzlich einführen. Das geht natürlich nicht. In allen Parteien neigt das Acht-Zylinder-Premiumsegment dazu, die Wünsche der deutschen Automobilindustrie, vorsichtig gesagt, ernst zu nehmen. „Tested on German Autobahn“ ist schließlich das einzigartige Qualitätssiegel, das deutschen Großkarossen weltweit Verkaufserfolge beschert. Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze! Doch dieses Argument klingt angesichts der erheblichen Anstrengungen der Mitbewerber in Sachen Energieeffizienz seltsam gestrig. Denn Arbeitsplätze sichern vor allem diejenigen Konzerne, die zukunftsfähige Autos bauen. Ob die deutsche Vorzeigebranche mit ihrem grundsätzlichen Weiter-so-im-Premiumsegment da gut beraten ist?

In Deutschland werden große politische Fragen viel zu oft in kontroverse Details zerpflückt, die man dann mit religiöser Inbrunst diskutiert. Liebe Genossen, das Tempolimit auf Autobahnen ist ein notwendiger Baustein in gleich zwei politischen Großprojekten, die eine tatsächlich der Zukunft zugewandte Sozialdemokratie anpacken sollte. Das eine Großprojekt hat die Bundesregierung kürzlich selbst verkündet: die Reduktion der Treibhausgasemissionen in Deutschland um 40 Prozent bis zum Jahr 2020. Das andere ist das in Deutschland leider noch ausstehende Bekenntnis zu einer „Vision Zero“ in der Verkehrssicherheit. Schweden, die Niederlande und die Schweiz haben sich längst landesweite Programme auferlegt, mit denen sie konkrete Ziele zur Reduktion von Toten- und Verletztenzahlen im Verkehr festgelegt haben. Geschwindigkeit ist dabei immer eine zentrale Stellschraube. In Deutschland sucht man ein solches Programm bisher vergeblich.

Bei uns wird das Tempolimit auf Autobahnen vielfach abgelehnt, weil seine positiven Wirkungen in Frage gestellt werden. Einzelmaßnahmen bringen nun einmal selten viel; und dennoch sind sie notwendig, um in der Addition einem großen Ziel näher zu kommen. Das Dämmen unserer Dächer allein wird ebenso wenig das Klima retten wie das punktuelle Einschrauben von Energiesparlampen. Trotzdem sind beide Schritte richtig. Doch Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee wusste sofort: „Das Tempolimit bringt fast nichts.“ Bundesumweltminister Sigmar Gabriel wollte erst einmal ein weiteres Gutachten in Auftrag geben. Und die Klimaschutzkanzlerin Angela Merkel stellte klar: „Mit mir kein Tempolimit.“

An eindeutigen Gutachten fehlt es nicht

Betrachten wir die Fakten. Es gibt genug Gutachten zum Tempolimit, und alle belegen mindestens drei gute Gründe für die Einführung dieses Mindestmaßes an Zivilisation auf den deutschen Autobahnen: Die Emissionen gehen spürbar zurück; die Straßen werden sicherer; und die Regeln des Anstandes haben auch auf Autobahnen wieder ein Chance.

Nach einer Studie des Umweltbundesamtes würde das Tempolimit 120 gut drei Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr vermeiden. Das wären drei Prozent der gesamten CO2-Emissionen im Straßenverkehr. Für eine Einzelmaßnahme auf dem Weg zu 40 Prozent ist das gar nicht wenig. Und möglicherweise würden wir dadurch sogar noch viel mehr Kohlendioxid sparen. Denn die Statistik des Kraftfahrtbundesamtes belegt, dass im Jahr 2005 mehr als 60 Prozent der Neufahrzeuge auf Höchstgeschwindigkeiten von über 180 km/h ausgelegt waren. Das renommierte Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie schließt aus diesen Daten, dass Fahrzeuge, die für niedrigere Höchstgeschwindigkeiten gebaut würden, weitere große Einsparpotenziale hätten. Unterstellt man selbstbewusst, dass deutsche Autos auch in Zukunft ein Exportschlager sein werden, dann würde eine solche Umorientierung sogar weltweit klimaschützend wirken.

Im Juni hatte Sigmar Gabriel noch Recht

Auf dem Evangelischen Kirchentag im Juni lehnte Bundesumweltminister Sigmar Gabriel das Tempolimit auf Autobahnen mit dem Argument ab, es diene nicht dem Klimaschutz und sei politisch nicht zu verwirklichen. Doch dann redete er sich in Rage und nannte doch einige Argumente für das Tempolimit. Wenn überhaupt, könne man als Begründung die Reduktion schwerer Unfälle gelten lassen, sagte er, und malte deren blutige Folgen plastisch aus.

Gabriel hatte im Juni absolut Recht. Er sollte sich in diesen winterlichen Tagen an seinen sommerlichen Auftritt erinnern. 662 Tote und 5.861 Schwerverletzte auf deutschen Autobahnen meldet die Unfallstatistik für das Jahr 2005. Rund 12 Prozent der Menschen, die im Straßenverkehr sterben, kommen auf Autobahnen um, obwohl diese nur 2 Prozent des bundesdeutschen Streckennetzes ausmachen.

Davon führt die Statistik 226 tödliche Unfälle kühl als „Geschwindigkeitsunfälle“ auf. Rund 2.500 Schwerverletzte kann man getrost hinzuaddieren. Zusammengerechnet sind das die Opfer, die eindeutig einer unangepassten Geschwindigkeit zuzuordnen sind. Ist das der Preis für die Ideologie des Rasens? Reichen diese Zahlen zum Handeln nicht aus? Ich finde, jeder einzelne getötete oder schwerverletzte Mensch ist ein gutes Argument, langsamer zu fahren.

Über den Zusammenhang zwischen Tempolimit und Verletzungsrisiko gibt es kaum Vergleichsdaten. Wer zu Verschwörungstheorien neigt, könnte mutmaßen, erfolgreiche Lobbyarbeit der deutschen Premiumproduzenten wisse solche Belege zu verhindern. Wahrscheinlich gab es bisher schlicht niemanden, der entsprechende Gutachten von den zuständigen Behörden oder Instituten angefordert hat. Es bestand ja auch kein politischer Handlungsdruck. Selbst in der Ära Rot-Grün setzte Autokanzler Gerhard Schröder der aufkeimenden Diskussion in bewährter Basta-Manier ein schnelles Ende. So datiert die letzte umfassende Studie der Bundesanstalt für das Straßenwesen aus dem Jahr 1984. Damals kam die Behörde zu dem Schluss, dass ein Tempolimit von 130 km/h die Zahl der Getöteten um 20 Prozent reduzieren würde, ein Tempolimit von 100 km/h gar um 37 Prozent. Da die Motorisierung der Fahrzeuge und die Geschwindigkeiten auf unseren Rennstrecken seit 1984 deutlich zugenommen haben, wären die Effekte heute vermutlich noch weit größer.

Fast zwei Drittel befürworten Tempo 130

Diese These belegt auch eine aktuelle Studie für einen 62 Kilometer langen Autobahnabschnitt auf der A24 zwischen Berlin und Hamburg. Auf diesem Teilstück starben ohne Tempolimit allein im Jahr 2002 noch acht Menschen; mit einem Limit von 130 km/h verloren in den vier folgenden Jahren dann insgesamt „nur“ noch sechs Menschen ihr Leben. Die Zahl der Verletzten wurde fast halbiert.

Gelegentlich hört man, es gebe sogar Raser-Touristen, Menschen also, die eigens aus den Vereinigten Staaten (Tempolimit zwischen 90 und 130 km/h, je nach Bundesstaat) oder aus Großbritannien (Tempolimit 112 km/h) in das gelobte Deutschland reisen, um einmal so richtig unbekümmert drauflos rasen zu dürfen. Ebenso hört man das Gerücht, die Gäste würden nach wenigen Kilometern auf der deutschen Autobahn schweißgebadet den nächstbesten Parkplatz aufsuchen und mit rasendem Herzschlag einen Ausweg aus dem Wahnsinn suchen. Sie sind es schlicht nicht gewohnt zu erleben, wie noch bei Tempo 130 oder 140 Fahrzeuge mit rasender Geschwindigkeit und blinkender Lichthupe im Rückspiegel auftauchen und bis auf wenige Meter auf die eigene Stoßstange auffahren. Für mich zeigt dies, dass wir auf unseren Straßen Verhältnisse zulassen, die eines Kulturlandes nicht würdig sind. Die Mehrheit der Bevölkerung sieht das übrigens genauso. Das Polit-Barometer des ZDF ermittelte im März eine Zustimmung von 64 Prozent zu einem Tempolimit von 130 km/h oder weniger.

Befürworter eines Tempolimits gibt es auch in allen Fraktionen des Deutschen Bundestags. Heide Wright (SPD), Reinhard Loske (Grüne) und Josef Göppel (CSU) hatten bereits Anfang 2007 eine fraktionsübergreifende Initiative gestartet, wurden jedoch zurückgepfiffen. Von Göppel ist das Zitat überliefert, ihm sei in seiner Fraktion „blanker Hass“ entgegengeschlagen, als er das Thema dort sachlich diskutieren wollte. Ich kann nur an alle sozialdemokratischen Abgeordneten appellieren: Nehmen Sie das Votum Ihrer Parteibasis ernst. Es ist zugleich das Votum der Mehrheit der Bevölkerung. Führen Sie Deutschland auch auf den Autobahnen zurück in die Gemeinschaft der zivilisierten Völker.

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