Kurz vor dem Kollaps

Bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität ist die deutsche Strafjustiz hoffnungslos ins Hintertreffen geraten. Passen wir sie nicht den neuen Dimensionen der Aufgabe an, wird Deutschland zum »Verbrecherland«. Die Zeit drängt

Noch ist Deutschland gewiss kein El Dorado der Organisierten Kriminalität, doch wir befinden uns auf dem besten Weg, den Kampf gegen dieses Verbrechen zu verlieren. Um überhaupt nur den jetzigen Zustand zu bewahren, sind gehörige Anstrengungen vonnöten. Dabei spielt die Justiz eine zentrale Rolle. Allerdings hängt der Erfolg der Verbrechensbekämpfung auch mit den politischen Schwerpunkten zusammen. Wenn die Politik in erster Linie islamistischen Terrorismus und Rechtsradikalismus bekämpfen will, wird die Verfolgung der Organisierten Kriminalität schnell zweitrangig.

So ist der statistische Rückgang der Organisierten Kriminalität auch darauf zurückzuführen, dass Informanten, Observationsteams und Sondereinsatzkommandos vorrangig bei der Beobachtung der beiden erstgenannten Kriminalitätsbereiche eingesetzt werden. Diese Kräfte fehlen einfach bei der Beobachtung und Verfolgung von Menschenhändlern, Drogendealern, Schutzgelderpressern oder überregional agierenden Wohnungseinbrechern. Erschwerend kommt hinzu, dass die Opfer dieser Straftaten selten Strafanzeige erstatten. Organisierte Kriminalität spielt sich im Verborgenen ab, umgeben von einer Mauer des Schweigens. Die entsprechenden Straftaten werden allein von der Polizei entdeckt oder verfolgt, was bei mangelnder Ausstattung der Strafverfolgungsbehörden zwangsläufig zum statistischen Rückgang der Organisierten Kriminalität führt. Und natürlich wirkte sich auch der Abbau des öffentlichen Dienstes in den letzten Jahren negativ auf die Strafverfolgung aus. So wird der „schlanke Staat“ schnell zu einem schwachen.

Kommissariate im Notstrom-Modus

Beispiel Nordrhein-Westfalen. Dort sind viele Kommissariate überaltert und unterbesetzt. Der Chef einer Dienststelle für Organisierte Kriminalität in einer Revierstadt, die derzeit Schauplatz eines brutalen Rockerkrieges ist, verfügt nur über 15 Mitarbeiter. Sie sollen den Konflikt zwischen Hells Angels, Bandidos und einer neuen niederländischen Gang namens Satudarah in den Griff bekommen. Kein Wunder, dass jeder Ermittler hunderte Überstunden vor sich herschiebt. Diese Situation ist kein Einzelfall; in ganz Deutschland laufen Kommissariate auf Notstrom-Modus. Doch selbst wenn die Täter gefasst sind, ist die Strafverfolgung nicht so einfach.

Während die Herausforderungen bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität immer größer und vielschichtiger werden, schwindet die Handlungsfähigkeit der Justiz. Der rasante Fortschritt im Bereich der Informations- und Datenverarbeitung, das Internet, die Globalisierung sowie die EU-Osterweiterung erfordern im Kampf gegen die Unterwelt dringend Reformen. Der offene Waren- und Reiseverkehr bringt zweifellos wirtschaftliche Vorteile, birgt aber auch enorme Risiken. Organisierte ausländische Banden legen ganze Verbrechensserien hin und verschwinden wieder über die Grenze. Kontrollen müssen sie nicht mehr fürchten. Die Europäische Union ist ein offenes Paradies für legale wie illegale Geschäfte. Überdies entstehen durch die moderne Kommunikation für die Organisierte Kriminalität immer neue Spielfelder. Internetshopping, Überweisungen per Mausklick, Kreditkartennummer nebst Geheimzahl beim Online-Ticketkauf, die sozialen Netzwerke, Bankomaten – es gibt viele Möglichkeiten, um intime Daten abzufischen. Deshalb müssen Strategien entwickelt werden, die nicht nur die aktuellen Kriminalitätsbereiche abdecken, sondern auch zukünftige. Doch oft fehlt der politische Wille, eine wirksame Strafverfolgung in die Tat umzusetzen.

Überkommene Bürokratie, blitzschnelle Täter

Auch eine ausufernde Bürokratie lähmt die Justiz. Völlig antiquiert ist etwa das System der örtlichen Justiz-Sprengel. Das System stammt noch aus dem 19. Jahrhundert. Beispielsweise ist an der Rheinschiene zwischen Koblenz und Emmerich ein zusammenhängender Ballungsraum von etwa neun Millionen Einwohnern gewachsen. Aufgrund der guten Verkehrsinfrastruktur klappern die Straftäter die einzelnen Städte und Zielobjekte binnen kurzer Zeit ab und durchschneiden dabei zahlreiche Landgerichtsbezirke und Anklagebehörden. Dieses System passt nicht mehr in die heutige Zeit. Folgt man den Angaben italienischer Anti-Mafia-Experten, so haben italienische Clans ganz Nordrhein-Westfalen in Reviere aufgeteilt. Allein im Großraum Duisburg herrschen mehrere Sippen aus Kalabrien, wobei – wie in der italienischen Heimat üblich – Flüsse als Grenze der Territorien dienen. Weder Polizei noch Staatsanwaltschaft haben sich in den einstigen Montanhochburgen strukturell auf dieses Phänomen eingestellt.

Das Zauberwort im Kampf gegen das organisierte Verbrechen heißt Staatsanwaltschaft. Denn sind die Täter erst einmal gefasst, dann können sie nur von Spezialisten überführt werden, die alle Tricks, alle Kniffe, alle Eigenarten der italienischen Mafia und russischer oder kurdischer Drogensyndikate kennen, die wissen, wie vietnamesische Zigarettenschmuggler oder Roma-Einbrecherbanden üblicherweise vorgehen. Jede Form der Organisierten Kriminalität hat ihre Besonderheiten. Erforderlich ist langjähriges Spezialwissen über den Einsatz von Überwachungstechnik gepaart mit kriminalistischem Sachverstand, der Kenntnis von den Zuständen im jeweiligen Ausland und nicht zuletzt den rechtlichen Feinheiten und Problemen, die solche Verfahren mit sich bringen.

Auf Vernetzung und Zentralisierung kommt es an

Zudem braucht es dringend zentrale Ermittlungsstellen, um die Ganoven effektiver verfolgen zu können. Hier können (und müssen) alle Fäden zusammenlaufen. Jeder vergleichbare Fall könnte hier gebündelt und von Fachleuten aufgeklärt werden. Die Erfolgsquote wäre ungleich höher als im Rahmen des ewigen Klein-Klein der zahlreichen lokalen Ermittler. Gerade im Bereich der Organisierten Kriminalität sollten großflächig zentrale Abteilungen geschaffen werden. Nur so kommt man dem internationalen Verbrechen bis hin zu seinen Bossen auf die Schliche. Solche Zentralabteilungen würden die unsäglichen Konflikte über die Zuständigkeit der Staatsanwälte unterschiedlicher Städte beenden. Mitunter streiten sich gestandene Ankläger wie die Kesselflicker um einen Fall. Über den zeitaufwändigen Zwist um den alles entscheidenden „Tatortschwerpunkt“ verlieren die Streithähne oft das eigentliche Ziel aus den Augen: die Täter zu fassen und die Bande zu zerschlagen. Auch die Verdeckten Ermittler in Staatsdiensten sollten in zentralen Abteilungen geführt werden. Heutzutage kommt kaum ein Verfahren der Organisierten Kriminalität ohne Spitzel aus dem Milieu aus, ohne Informanten oder so genannte Vertrauenspersonen, die die Gegenseite für die Justiz und die Polizei ausspionieren. Mit solchen Zuträgern umzugehen, verlangt enormes Fingerspitzengefühl und Erfahrung.

Daher ist es sinnvoll, für die Informanten einen zentralen Ansprechpartner zu installieren. In Köln war das meine Aufgabe, ich leitete dort die Abteilung für Organisierte Kriminalität. Der Job ist reine Vertrauenssache, er erfordert Einfühlungsvermögen, einen umfassenden Überblick über alle Verfahren und detaillierte Kenntnisse der speziellen rechtlichen Materie. Gerade Letzteres birgt enorme Risiken: In welchen Fällen dürfen Polizeispitzel eingesetzt werden? Wie lange währt eine Vertraulichkeitszusage und wann muss sie widerrufen werden, weil der Informant selbst Verbrechen begangen hat?

Kaum entwickelt wurden bislang Strategien zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität im Internet durch virtuelle Spitzel. Bis heute ist etwa der Einsatz von digitalen Undercover-Agenten oder die Nutzung von Fake-Accounts in Sozialen Netzwerken unter deutschen Juristen höchst umstritten. Dabei zeigen jüngste Fälle, dass die Ermittler modernen Verbrecherbanden nur beikommen, wenn sie ebenfalls auf neueste technische Errungenschaften zurückgreifen dürfen. Vor kurzem hatte das amerikanische FBI einen verdeckten Ermittler als Kontoinhaber in das kriminelle Bankennetzwerk der Bank Liberty Reserve eingeschleust. Nicht zuletzt seine Nachforschungen führten zum Erfolg.

Die Instrumente taugen nicht für die Praxis

Die Zeit drängt. Nach meiner Auffassung steht die Strafjustiz in Deutschland bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität kurz vor dem Kollaps. Beinahe täglich wird das Verfahrensrecht undurchschaubarer, verzwickter, komplexer – und dadurch weniger praktikabel. Wo wollen wir hin mit all den Rechtsmitteln, Beweisanträgen, Besetzungsrügen für die Gerichte? Ist es wirklich wichtig, ob nun die zwölfte oder die sechzehnte Kammer des Landgerichts ein Wirtschaftsstrafverfahren übernimmt? Für die Praxis definitiv nicht. Und trotzdem dauerte es jüngst einige Monate, bis ein millionenschweres Verfahren wegen Untreue gegen geschäftsführende Gesellschafter einer großen Privatbank im zweiten Anlauf beginnen konnte, nur weil der Ersatzrichter für den Prozess möglicherweise nicht ganz korrekt nach dem Gerichtsverfassungsgesetz bestimmt worden war – eine Petitesse mit weitreichenden Folgen. Nach der Rüge der Anwälte wurde die Verhandlung wochenlang ausgesetzt und ein neues Prozedere für die Auswahl des Ersatzrichters ausgeknobelt. So etwas kostet Zeit, und Zeit hat die Justiz heutzutage nicht mehr.

Zu Beginn meiner Tätigkeit als Staatsanwalt im Jahre 1976 ging ein Raubverfahren in der Regel in ein bis drei Hauptverhandlungstagen zu Ende. Heute braucht das Gericht hierzu in vergleichbaren Fällen ein bis drei Monate! Meist haben wir es im Bereich der Organisierten Kriminalität mit ausländischen Angeklagten zu tun, die in der Regel schweigen. Das macht eine umfangreiche Beweisaufnahme erforderlich, die sich oft Monate hinzieht. Häufig genug greifen die Advokaten zu dem allseits beliebten Trick, die Übersetzungen der gerichtlich bestellten Dolmetscher einfach anzuzweifeln. Allein daran entzünden sich Dutzende formalrechtliche Konflikte. Zudem sind nur die wenigsten Kammervorsitzenden so erfahren, dass sie auch in schweren juristischen Gewässern das Schiff auf Kurs halten können. Nach ein paar Monaten ist die Fregatte so sturmreif geschossen, dass man nur über milde Strafen verhandeln kann.

Spezielle Kammern für Organisierte Kriminalität

In früheren Zeiten konnte eine Strafkammer bis zu fünfzig Verfahren im Jahr abschließen, inzwischen schaffen die Landgerichte wegen überbordender Beweisanforderungen gerade mal drei bis fünf. Bei allen Beschuldigten, die nicht in Untersuchungshaft sitzen, dauert es Jahre, bis der Prozess stattfindet. Aus prozessökonomischen Gründen werden diese Verhandlungen schnell zugunsten der Angeklagten abgehandelt. Inzwischen ist die personelle Not bei den Gerichten so groß, dass manche Gerichtsverwaltungen nur noch Anklagen mit bis zu fünf Tätern einfordern. Verfahren mit mehr Tatverdächtigen seien von einer Strafkammer aus prozessökonomischen Gründen einfach nicht mehr zu bewältigen.

Das bedeutet für die Organisierte Kriminalität: Verfahren mit Dutzenden Gangstern sind künftig kaum noch zu führen. Dabei sollten Staatsanwälte die gesamte verbrecherische Organisation bis zu ihrem Ende gezielt verfolgen. Wenn Gerichten aber die Kapazitäten fehlen, wozu sich dann überhaupt noch die Mühe machen? Deshalb brauchen wir spezielle Kammern für die Organisierte Kriminalität, die das notwendige Rechtsmaterial in- und auswendig kennen. Es ist einfach etwas anderes, einen Kinderschänder oder einen Großbetrüger abzuurteilen, als Mitglieder eines Drogensyndikates oder einer Türsteherbande. Nicht umsonst gibt es bei der Staatsanwaltschaft eine Abteilung für die Organisierte Kriminalität, die in den speziellen Usancen der Ermittlungen gegen Verbrecherbanden bewandert ist. Inzwischen sind die Beweisanforderungen und die Rechtskenntnis in diesen Verfahren so komplex geworden, dass auch die Gerichte sich entsprechend spezialisieren sollten. Dadurch würde die Justiz viele Durchhängepartien verhindern, die entstehen, wenn die Kammern auf dem Gebiet nicht sattelfest sind. Weil sie aber keine Fehler machen wollen, bieten sie Kompromisse an und verhängen milde Urteile. Klar ist: Die Anforderungen an die Strafverfolger haben sich drastisch geändert, Reformen sind unausweichlich.

Bei allem Verständnis für die Diskussion um „Big Brother“, der vermeintlichen allumfassenden staatlichen Überwachung, den selbstgemachten bürokratischen Hindernissen, ist eins klar: An dieser lobenswerten gesellschaftlichen Debatte beteiligen sich weder die Mafia noch die Verbrecher-Syndikate aus Osteuropa oder vom Balkan. Diese Leute interessiert nur eines: Geld. Bei der Verteidigung der Bürgerrechte, worunter in den Medien zumeist nur die der Straftäter verstanden werden, ist auch das Recht der Geschädigten zu berücksichtigen: Sie müssen vom Staat gegen die Straftäter wirksam geschützt werden. Zu diesem Schutz gehört auch eine effektive Strafverfolgung mit entsprechenden Gesetzen und Strafverfolgungsorganen, die personell und sachlich ausreichend ausgestattet sind. Gelingt uns das nicht, kann Deutschland schnell zum Verbrecherland werden.

Im Oktober 2013 erschien Egbert Bülles Buch „Deutschland Verbrecherland? Mein Einsatz gegen die Organisierte Kriminalität“ im Ullstein Verlag. Es hat 304 Seiten und kostet 18,99 Euro.

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