Kulturelle Hegemonie statt Linksrutsch

Der Bundesparteitag in Hamburg hat die SPD einstweilen mit sich selbst versöhnt. Sie hat einen Schritt nach links getan, der Basis reale Beteiligung angeboten und ein prägnantes Programm verabschiedet. Intern scheint die SPD wiedererwacht. Wie sieht es außerhalb des Mikrokosmos der Partei aus?

Es stimmt, Teile der Gesellschaft bewegen sich nach links. Vor allem aber steigen Verunsicherung und politische Apathie. Im Berufsleben dominieren die „Generation Pragmatismus“ (40plus) und die „Generation Angst“ (30plus). Die eine glaubt an das Ende der Ideologien, die andere nur an die Anforderungen des Arbeitsmarktes. Die bürgerlichen Eliten orientieren sich in einer globalisierten Welt in ihren Ansprüchen an denjenigen, denen es noch besser geht – und leben zugleich in der Gewissheit, individuelle Risiken zunehmend selbst tragen zu müssen. Dabei wird Intelligenz zur Kardinaltugend. „Lieber schlecht, aber intelligent, als gut, aber dumm“ heißt es in der Süddeutschen Zeitung über das neue Buch Im Irrgarten der Intelligenz von Hans Magnus Enzensberger. Wer nicht seinen eigenen Vorteil im Auge hat, ist mindestens naiv.

Zur Überwindung der gesellschaftlichen Missstände predigen Mißfelder, Söder und Konsorten: Fleiß, Leistungsbereitschaft, Disziplin, Ehrlichkeit. So angebracht diese Werte im Einzelnen sind, sie dürfen doch nicht als Leitlinien einer vermeintlich konfliktfreien Politik dienen. Dem bürgerlichen Konservatismus setzen Sozialdemokraten deshalb Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität entgegen. Diese Werte müssen konkretisiert, die dabei entstehenden Konflikte entschieden werden: Der Parteitag in Hamburg hat mit alten Antworten geliebäugelt, etwa mit der Verlängerung des Arbeitslosengeldes I, der Wiedereinführung der Pendlerpauschale und dem demokratischen Sozialismus. Nur: Auf diesem Feld ist nichts zu holen, das Terrain schon von der PDS/Linkspartei besetzt.

Nur die Flucht nach vorne hilft

Das neue Grundsatzprogramm schlägt moderierende Töne an: Man müsse die Chancen der Globalisierung ergreifen, darüber aber nicht die soziale Bedingtheit des Menschen vergessen. Das ist zwar richtig, und ein wenig „Jetzt-mal-halblang-es-funktioniert-doch-vieles-toll-in-Deutschland“ tut durchaus Not, wenn hyperventilierende Medien schwarzmalerisch Kritik äußern, die sich im internationalen Vergleich nicht halten lässt. Mehr als 30 Prozent der Wählerstimmen wird diese ausgleichende Position der SPD aber nicht einbringen.

Was bleibt? Nur die Flucht nach vorne. Die Sozialdemokratie muss ihren Ansprüchen nach Emanzipation und Partizipation eines jeden Einzelnen gerecht werden: Emanzipation und Partizipation nicht nur für die angeblich Intelligenten und nicht nur in Deutschland. Angepeilt werden muss Meinungsführerschaft, eine Vision, die mitreißt, auch wenn sie den kurzfristigen eigenen Interessen zuwider läuft. In den Worten Antonio Gramscis: Die Sozialdemokratie muss die kulturelle Hegemonie erobern.

Was sind Bausteine eines so ambitionierten Gestaltungsanspruchs? Zum einen die Erkenntnis, dass Umverteilung allein eine Gesellschaft nicht gerecht macht, sondern die Menschen befähigt werden müssen, Chancen überhaupt selbst ergreifen zu können. Deswegen müssen Bildung und Weiterbildung das Herzstück sozialdemokratischer Politik sein. Die Privilegien zwischen Insidern und Outsidern des Arbeitsmarktes müssen durch „Flexicurity“ nach dänischem Vorbild neu verteilt werden. Ohne die Umstellung der sozialen Sicherungssysteme auf eine Steuerfinanzierung kann dies nicht gelingen. Eine solche Politik der Emanzipation und Partizipation nimmt sich darüber hinaus auch des Problems der Altersversorgung an. Sie bindet alle Bürger in eine solidarische, gesetzliche Krankenversicherung ein, mit privater Zusatzversicherung für besondere Gesundheitsleistungen. Denn das bisherige Prinzip, Gesundheit zu privatisieren, die Kosten von Krankheit jedoch zu kollektivieren, muss beendet werden.

Auch in der Gesellschaftspolitik besteht Bedarf an radikalen Visionen: Allein mit Kindergartenplätzen ist es nicht getan, vom Festhalten am Ehegattensplitting ganz zu schweigen. Und schließlich endet soziale Gerechtigkeit nicht an nationalstaatlichen Grenzen. Um die Interessen von Menschen in sich entwickelnden oder „abgehängten“ Staaten zu berücksichtigen, müssen Privilegien in Deutschland aufgegeben werden. Ein Beispiel dafür ist der Abbau von Handelshemmnissen. Die SPD tut gut daran, sich hierbei auf ihre internationalistische Tradition zu besinnen.

Jetzt noch klarer und radikaler

Das Hamburger Grundsatzprogramm weist mit dem Konzept des vorsorgenden Sozialstaats und der Betonung von Nachhaltigkeit in die richtige Richtung, begeistern wird die Sozialdemokratie indes nur, wenn sie ihre neue Vision noch klarer und radikaler vorträgt. Gestaltung definiert sich nicht durch das, was am wenigsten weh tut, sondern durch das, was eine lebenswerte Zukunft schafft. Mit den Hartz-Reformen hat die Regierung Schröder – trotz aller Schwächen der Maßnahmen im Detail – damit begonnen, eine solche Orientierung und Erklärung zu geben. Deshalb war die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitnehmer falsch.

Mit Gramsci gesprochen: „Man muss nüchterne und geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.“ Nicht die schlechteste Losung für progressive Sozialdemokraten.

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