Kombilohn statt Stütze

Die Regierung Schröder kann mit ihren Erfolgen beim Abbau der Arbeitslosigkeit noch nicht zufrieden sein. Darum muss der akademische Kleinkrieg um einen Niedriglohnsektor in Deutschland beendet und entschieden werden

Arbeit für alle", "Arbeit ohne Armut", "Arbeit muss sich lohnen" - sie klingen abgedroschen, diese Slogans. Und doch hat sich an ihrer Gültigkeit seit dem Regierungswechsel nur wenig geändert. Zwar ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland um eine Million zurückgegangen, aber sie bleibt ein bedrückendes Massenphänomen. Das zunächst erfolgreich wiederbelebte Bündnis für Arbeit wurde kürzlich in Leitartikeln zum "Bündnis ohne Arbeit" umgetauft. Was ist schief gelaufen?

Eigentlich nichts, denn bislang wurde kaum etwas gewagt. Dabei hat es in den letzten Jahren eine ausgiebige Debatte um verschiedene Modelle zur Förderung eines Niedriglohnsektors in Deutschland gegeben. Dass dieser Sektor massiv ausgeweitet werden muss, steht angesichts des hohen Anteils von gering Qualifizierten unter den Arbeitslosen außer Frage. Nun muss sich die oft sehr akademisch geführte Diskussion von der Fixierung auf bestimmte Modelle lösen und zu konkreten Entscheidungen führen. Eine Ausweitung des derzeit laufenden Modellversuches, wie im Leitantrag "Sicherheit im Wandel" für den kommenden Bundesparteitag der SPD gefordert, reicht dabei nicht aus. Es ist höchste Zeit, dass die sozialdemokratische Politik einen Strukturwandel einleitet, der den Arbeitsmarkt in neue Bahnen lenkt, ohne seine schwächsten Mitglieder zu benachteiligen.

Maschinen ersetzen Menschen

Ein grundlegender Politikwechsel ist notwendig, weil die Beschäftigungsprobleme Konsequenzen der wirtschaftlichen Globalisierung und des Übergangs vom Industrie- zum Informationszeitalter sind. Drastisch gesunkene Transport- und Kommunikationskosten haben in den vergangenen Jahrzehnten eine neue inter- und transnationale Arbeitsteilung entstehen lassen, bei der einfache und arbeitsintensive Produktionsprozesse in Niedriglohnländer verlagert werden. Zudem ersetzen Maschinen in der Industrie immer mehr manuelle Tätigkeiten. Während der industrielle Sektor in den OECD-Staaten zurückgeht, entstehen im Dienstleistungssektor zunächst vor allem Arbeitsplätze in der Wissensökonomie, für die qualifizierte und flexible Menschen gesucht werden.

Insgesamt bringt dieser Wandel zwar mehr Vor- als Nachteile, doch diese sind ungleichmäßig verteilt, und die Nachteile häufen sich besonders bei gering qualifizierten Arbeitskräften ohne Ausbildung. Von der Massenarbeitslosigkeit in den meisten Staaten Westeuropas sind sie am härtesten betroffen. In Deutschland hat sich der Anteil von gering Qualifizierten an der Gesamtbeschäftigung zwischen 1975 und 1995 auf etwa 15 Prozent halbiert und schrumpft weiter - unter den Arbeitslosen hingegen liegt der Anteil der gering Qualifizierten heute bei fast 40 Prozent.

Im Hotelgewerbe sind noch Plätze frei

Trotzdem wird den Gesellschaften die Arbeit so schnell nicht ausgehen, auch nicht für Ungelernte. Jedenfalls so lange keine menschenähnlichen Roboter in Serienproduktion hergestellt werden können, die mehr als routinemäßig vorgegebene Aufgaben erledigen, werden Menschen nützliche Arbeit verrichten - egal, welche Qualifikation sie besitzen. Gerade auf dem Gebiet der einfachen, personen- und haushaltsbezogenen Dienstleistungen bestehen enorme Beschäftigungspotenziale, etwa im Hotel- und Gastronomiegewerbe oder im Sanitär- und Gesundheitssektor. Allerdings zählen beim Angebot solcher Tätigkeiten zu allererst die Lohnkosten. Diese bestimmen bei arbeitsintensiven Dienstleistungen die Gesamtkosten am meisten, und die Nachfrage ist sehr abhängig vom Preis.

Will man "Armut trotz Arbeit" - wie beispielsweise im Falle der working poor in den USA - vermeiden und die hohen Sozialstandards nicht aufgeben, so wird man um die staatliche Subventionierung eines Niedriglohnsektors für gering Qualifizierte nicht herumkommen. Deshalb haben etliche westeuropäische Staaten in den neunziger Jahren neue Strategien eingesetzt, um den Niedriglohnsektor zu fördern und zu entwickeln. In den Niederlanden, in Frankreich, in Belgien und in Irland wurden die Belastungen des Lohns durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge bei gering Verdienenden in unterschiedlichen Programmen reduziert, meist durch eine Senkung der Arbeitgeberanteile. In Großbritannien wurde - ähnlich wie in den Vereinigten Staaten - eine negative Einkommenssteuer für niedrige Erwerbseinkommen eingeführt. Aus diesen Initiativen lässt sich aber nur die allgemeine Empfehlung ableiten, dass eine Subventionierung des Niedriglohnsektors offensichtlich sinnvoll ist. Denn die nationalen Systeme der Arbeitsmarktregulierung und der sozialen Sicherung sind zu unterschiedlich, als dass man nach direkt übertragbaren Optionen suchen sollte.

An Vorschlägen dafür, wie ein staatlich geförderter Niedriglohnsektor für mehr Beschäftigung sorgen kann, mangelt es auch hierzulande mittlerweile nicht mehr. Fast ein Dutzend - oftmals nur leicht abgewandelter - Modelle wurde in den vergangenen Jahren in die politische Diskussion geworfen. Im Kern geht es um einen "Kombilohn", bei dem die Bruttomonatseinkommen (Vollzeit) eine degressiv ausgestaltete Bezuschussung erhalten, indem die Sozialver-sicherungsbeiträge anteilsmäßig vom Staat gezahlt werden. Bis 1500 Mark werden sie voll übernommen, danach wird die Subventionierung graduell abgesenkt und bei 3000 Mark setzt sie ganz aus. Dadurch soll einerseits das Angebot neuer, rentabler Arbeitsplätze erhöht, andererseits durch finanzielle Anreize mehr Arbeitsnachfrage geschaffen werden. Außerdem ließe sich damit die leidige Diskussion um die geringfügige 630-Mark-Beschäftigung beenden, weil diese Regelung überflüssig würde. Arbeit lohnte sich dann wieder, sowohl für die Arbeitsuchenden als auch für die Arbeitgeber, und der Fiskus hätte zwar Subventionskosten, würde aber Leistungen in den Arbeitslosen- und Sozialhilfekassen sparen.

Die einen sagen dies, die anderen das

Um die Bewertung und Kritik dieser Modelle hat sich eine Art akademischer Kleinkrieg entwickelt, an dem fast alle wichtigen Wirtschaftsforschungsinstitute in Deutschland mit Gutachten und Studien beteiligt waren. Die Ergebnisse sind ernüchternd und mehr als kontrovers. Für den beschriebenen Kombilohn-Vorschlag etwa sehen die unterschiedlichen Modellrechnungen eine zusätzliche Beschäftigung zwischen 100.000 und 400.000 Arbeitsplätzen voraus. Bei den nötigen staatlichen Subventionen variieren die Prognosen noch mehr: zwischen Kostenneutralität und jährlichem Neuaufwand von 12 Milliarden Mark.

Der heftigste Streit betrifft die Fragen, wie stark die finanziellen Anreize tatsächlich wirken, ob das Jobproblem eher auf der Angebots- oder auf der Nachfrageseite liegt, und inwiefern die Subventionierung zu unerwünschten Mitnahmeeffekten führt. Angesichts dessen wurde im Bündnis für Arbeit Ende 1999 beschlossen, zwei der Modelle in einem Langzeitversuch bis 2004 zu testen: das "Saar-Modell" im Saarland und in Sachsen sowie das "Mainzer Modell" in Rheinland-Pfalz und in Brandenburg, jeweils in ausgewählten Arbeitsamtbezirken.

Die Politik muss Risiken eingehen

Das Mainzer Modell setzt dabei ganz auf der Seite der Arbeitsuchenden an, indem es die Sozialversicherungsbeiträge von geringverdienenden Arbeitnehmern subventioniert und einen Kindergeldzuschuss gewährt. Hingegen entlastet das Saar-Modell nur die Lohnnebenkosten der Arbeitgeber und bietet den Arbeitnehmern Gutscheine für Qualifizierungsmaßnahmen. Somit verspricht die Verwirklichung dieser Modellversuche Aufschluss darüber zu geben, ob die Förderung eines Niedriglohnsektors besser auf der Arbeitgeber- oder auf der Arbeitnehmer-seite ansetzen sollte.

Allerdings lässt sich das langwierige Abwägen theoretischer Unsicherheiten auch als politische Unentschlossenheit interpretieren. Bei weit reichenden Reformen können wissenschaftliche Analysen die Kosten und den Nutzen nie genau vorhersagen, und es wird immer Aufgabe der Politik sein, gemäß den eigenen Zielen ein gewisses Risiko einzugehen. Die Förderung eines Niedriglohnsektors für gering Qualifizierte kann nur dann substantielle Beschäftigungssteiger-ungen erreichen, wenn sie einen Strukturwandel und grundsätzlich veränderte Erwartungen bei allen Arbeitsmarktteilnehmern bewirkt.

Modellrechnungen können nur auf traditionellen Erwartungen der Akteure beruhen, wäh-rend das Ziel von Politik gerade deren Umsteuer-ung ist. Dementsprechend ist es in der aktuellen Diskussion wenig sinnvoll, auf die Vielzahl einzelner Erfahrungen in der aktiven Arbeitsmarktpolitik hinzuweisen, die insgesamt jährlich mehr als 40 Milliarden Mark verschlingt. Es ist richtig, dass verschiedenste Lohnzuschüsse, Qualifizierungsprogramme und selektive Maßnahmen beispielsweise für Alleinerziehende und Langzeitarbeitslose ausprobiert wurden. Doch dass sich daraus keine generell positiven Ergebnisse ableiten lassen, kann nicht verwundern. Wie sollten auch die zeitlich und lokal begrenzten, häufig wechselnden und nicht immer leicht durchschaubaren Initiativen bei den Arbeitsmarktteilnehmern eine Transformation von Einstellungen und Erwartungen auslösen? Solange es immer nur darum geht, nach neuen Prämien Ausschau zu halten, wird sich kein Strukturwandel einstellen, der durch die Möglichkeit zu längerfristiger Kalkulation und Planung deutlich mehr Beschäftigung schafft.

Deswegen sollten bereits jetzt bundespolitisch Entscheidungen getroffen werden, die eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt für gering Qualifizierte initiieren. Die enge Fixierung auf bestimmte theoretische Modelle schadet nur. Tatsächlich kann aus den bisherigen Vorschlägen durchaus ein gut durchdachtes Maßnahmenbündel geschnürt werden, das einen beschäftigungs- und sozialpolitisch notwendigen Niedriglohnsektor etabliert. Dabei sind als grundsätzliche Kriterien zu beachten, dass die Kosten durch möglichst geringe Mitnahmeeffekte überschaubar bleiben müssen und wenig zusätzlicher administrativer Aufwand entsteht.

Anreize für Arbeitslose mit Kindern

Die erste und wichtigste Maßnahme liegt darin, eine Subventionierung von Niedriglöhnen nur selektiv zu gewähren, wie es etwa das in Baden-Württemberg praktizierte "Einstiegsgeld für Langzeitarbeitslose", das Mainzer Modell und ebenso das Saar-Modell vorschlagen. Eine Konzentration auf gering Qualifizierte, Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger würde Mitnahmeeffekte vermeiden. Falls viele geringfügig Beschäftigte (630 Mark) umsteigen oder mehr Frauen aus der stillen Reserve ein bezuschusstes Arbeitsverhältnis aufnehmen, so wäre das erfreulich und nicht als Mitnahmeeffekt abzuwerten. Ob die Subventionierung eher auf der Arbeitgeber- oder auf der Arbeitnehmerseite ansetzen sollte, wird sich schon sehr bald aus den laufenden Modellversuchen ablesen lassen, ohne dass deren Ende im Jahr 2004 abgewartet werden müsste.

Unternehmensberater als Vermittler

An zweiter Stelle muss endlich die so genannte Armutsfalle beseitigt werden, die Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfängern mit Kindern zu wenig Anreize bietet, eine niedrig entlohnte Beschäftigung anzunehmen, weil dann sofort kinderbezogene Leistungen gekürzt werden. Das Kindergeld sollte im Fall der Arbeitsaufnahme - bei nachgewiesener Bedürftigkeit - erhöht bleiben. Dafür bietet das Mainzer Modell ein innovatives Lösungsbeispiel, indem es Kindergeldzuschüsse an Wohngeldansprüche koppelt und dadurch eine einfache Verwaltung sicherstellt.

Drittens sollte die Unterstützung eines Niedriglohnsektors mit neuen Qualifizierungsmethoden kombiniert werden. Die Variante des Saar-Modells, ungelernte Arbeitnehmer in Form von Qualifizierungsgutscheinen zu belohnen, die jobbegleitend eingelöst werden können, ist eine ausgezeichnete Anregung. Viel spricht dafür, dies flächendeckend einzuführen und gleichzeitig kreative Konkurrenz unter den staatlichen und privaten Weiterbildungsanbietern zu fördern.

Mehr Wettbewerb scheint auch bei der Arbeitsvermittlung nötig. Erfahrungen und Studien zeigen, dass bestimmte gering Qualifizierte selbst dann Schwierigkeiten bei der Arbeitsuche haben, wenn sie Lohnzuschüsse erhalten. Die Idee, private Unternehmens- und Personalberater als Vermittler von Arbeitsplätzen für Langzeitarbeitslose einzusetzen, hat in Schleswig-Holstein im Rahmen des Elmshorner Modells (siehe Die Zeit 41/2000) großen Erfolg und empfiehlt sich zur bundesweiten Nachahmung.

Schließlich sollte ein wachsender Niedriglohnsektor durch die Förderung von Existenzgründungen kleiner und mittlerer Unternehmen im Servicesektor begleitet werden: Genau diese schaffen die neuen Arbeitsplätze. Als Begleitmaßnahme ähnlich empfehlenswert ist ein verschärftes Vorgehen gegen die illegale Niedriglohnbeschäftigung per Schwarzarbeit, die durch höhere Strafen für Arbeitgeber und umfassendere Verfolgung eingedämmt werden muss.

Die Kostenneutralität einer solchen Niedriglohnoffensive könnte - falls sich die Aufwendungen nicht schon aus den Einsparungen in den Arbeitslosen- und Sozialhilfekassen begleichen lassen - auf zweierlei Weise gewährleistet werden. Es wäre angebracht, die neuen Programme durch Reduzierungen in der traditionellen aktiven Arbeitsmarktpolitik zu kompensieren, da ein Teil von deren Aufgaben überflüssig würde und ohnehin fragwürdig ist. Daneben wäre zu überlegen, Einschränkungen bei der Arbeitslosen- und Sozialhilfe vorzunehmen. Wer trotz neuer finanzieller Anreize keine Arbeit aufnimmt, sollte mit dauerhaften Leistungskürzungen und strikteren Zumutbarkeitskriterien rechnen, denn Solidarität darf nicht ausgenutzt werden.

Ein Zeichen setzen. Und zwar deutlich

Im kommenden Bundestagswahlkampf wird das Arbeitslosenproblem zweifellos wieder im Zentrum stehen, und der bloße Hinweis auf einige Modellversuche wird nicht allzu viele Menschen von der Kompetenz der SPD in dieser Frage überzeugen. Gemessen an den eigenen Ansprüchen kann die Regierung Schröder momentan nicht zufrieden sein. Es stimmt zwar, dass wegweisende Entscheidungen getroffen worden sind. Dazu gehören die leichte Senkung der Lohnnebenkosten, die Unternehmensteuerreform und - entgegen dem Rat Lafontaines - die Unterstützung von gemäßigten Lohnabschlüssen im Rahmen des Bündnisses für Arbeit. Dies ist wachstums- und beschäftigungsfördernd, trägt aber leider wenig zur Ausweitung des dringend benötigten Niedriglohnsektors für ungelernte Arbeitslose bei. Die SPD sollte noch in dieser Legislaturperiode ein deutliches Signal setzen, dass sie mit einem Strukturwandel neue Arbeit für gering Qualifizierte schaffen will. Ein modernes Maßnahmenbündel, das die besten Vorschläge der Diskussion kombiniert, bedürfte keiner weiteren Modellrechnungen - es müsste nur noch zielstrebig in die Tat umgesetzt werden.

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